Читать книгу Hexenherz. Eisiger Zorn - Monika Loerchner - Страница 20
ОглавлениеKapitel 8
Die Rebellen bauen das Lager mit rascher Effizienz ab. Ich muss zugeben, dass das Ganze sogar schneller von statten geht, als bei uns: Hier kann das Überleben der Leute von der Geschwindigkeit abhängen, mit der sie ihr Lager räumen. Zweifellos ein Anreiz, sich zu beeilen.
„Was ist denn da vorne los?“, brummt Adrian und lässt mich stehen. Mojserce und ein Rebell Anfang zwanzig, Coreys Freund Tim, scheinen beim Abbau des Vorratszeltes durcheinander gekommen zu sein. Es sind wohl doch noch nicht alle so geübt wie der Rebellenführer, der das Gewirr binnen Sekunden entknotet hat. Als wüsste er, dass ich ihn beobachte, dreht er sich um und grinst, deutet eine Verbeugung an. Ich muss lachen: So ein Spinner! Dann geht Adrian sich weiter um den Abbau kümmern, Mojserce und Tim verschnüren die Zelthäute und ich stehe etwas ratlos herum.
„Na, nichts zu tun an diesem sonnigen Nachmittag?“
Ich war so abgelenkt, dass ich nicht gemerkt habe, wie Mirja neben mich getreten ist. Ich fluche innerlich: Es ist, als ob ich meine gesamte Ausbildung vergessen, all meine Instinkte verloren hätte. Was ist nur los mit mir? Ich muss mich zusammenreißen!
„Nein, nichts zu tun“, sage ich und schaue weiter stur geradeaus. „Außer vielleicht, mich ohrfeigen zu lassen.“
Die schöne Rebellin lacht. „Ja, schon klar, du hast recht. Verdient hattest du’s, weißt du …“
„Adrian hat mir eure Sicht der Dinge schon hinreichend erklärt“, antworte ich spröde. Ich muss mir wirklich Mühe geben, noch sauer auf sie zu sein, denn eines ist gewiss: Wäre ich an ihrer Stelle und dazu magielos, ich hätte in der Situation genauso gehandelt. Dennoch: „Du hast eins vergessen, Mirja: Niemand hat dich zu meiner Herrin gemacht!“
Langsam werde ich wieder wütend. „Kein Mensch hat dich über mich gestellt. Ihr habt uns aufgegriffen und aufgenommen, ja. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich mich dir unterordne.“
Ich deute auf Adrian, der gerade zusammen mit Glenna ein weiteres Zelt abbaut. „Oder sonst wem.“ Ich werfe Mirja einen grimmigen Blick zu. „Also tu das nie wieder!“
Taktisch wäre es vermutlich geschickter gewesen, Reue zu zeigen und sie um Verzeihung zu bitten. Ich schwöre, dass ich an einer Entschuldigung erstickt wäre. Mirja lacht.
„Ich sehe schon“, sagt sie und grinst, „du lässt dich nicht so leicht rumkommandieren. Wahrscheinlich bist du deswegen so schlau gewesen, dich nicht erwecken zu lassen.“
Sie zuckt mit den Schultern. „Mit so einem Kampfgeist bist du bei uns zweifellos gut aufgehoben! Aber du musst auch lernen, Respekt vor unseren Regeln zu haben. Davon hängt nun mal unser Überleben ab. Viele Menschen sind nötig, damit wir uns gegen die Hexen behaupten können. Auf der anderen Seite reicht ein einziger Mensch aus, uns alle ins Verderben zu stürzen.“
Mirjas Ton ist nüchtern, dennoch treffen mich ihre Worte. Ich habe die Schönheit neben mir schon wieder unterschätzt. Ich habe es mit einer Verräterin zu tun, die ganz genau weiß, in welcher Lage sie sich befindet, die nicht nur eine gute Kämpferin, sondern auch noch intelligent ist, und – fast noch wichtiger – ein klares Gespür für die Realität hat. Mirja ist kein Fräulein, das sich romantischen Träumereien hingibt oder die Realität zu seinen Gunsten verklärt. Hätte es das Schicksal anders gewollt und sie zur Hexe gemacht oder mit etwas mehr Demut gesegnet, sie wäre vielleicht meine Freundin geworden.
„Das ist mir schon klar“, erwidere ich daher grimmig. „Dennoch stehe ich nicht unter dir.“
„Die Sache mit der Rangfolge macht dir wirklich zu schaffen, was?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe nicht den Hexen die Gewalt über mein Leben verwehrt, um mich dann von einer wie dir ohrfeigen zu lassen!“
Mirja lacht schallend. „Ach Helena, du bist mir eine!“
Sie klopft mir auf die Schulter. „Treffen wir eine Vereinbarung, ja? Ich gebe dir keine Ohrfeigen mehr, wenn du es nicht verdient hast, und im Gegenzug darfst du mir eine runterhauen, wenn ich uns in Gefahr bringe. Einverstanden?“
„Einverstanden.“
„Alles klar! Dann komm mit, ich zeige dir, wie man unsere Zelte abbaut!“
Nachdem wir alles zusammengepackt haben, machen wir uns auf den Weg. Die Stimmung ist angespannt, aber fröhlich und es ist offensichtlich, dass ein derart hastiger Aufbruch nichts Neues für die Rebellen ist.
Mojserce, mit irgendwelchen Beuteln und Decken beladen, hält sich eng neben mir. Immer wieder schaut er zu mir hoch, als müsse er sich vergewissern, dass ich noch da bin.
„Ist ja schon gut“, brumme ich, als er mich wieder einmal mit großen Augen anschaut. „Ich bin ja hier!“
Ich nehme seine Hand. Dankbar schmiegt sich die kleine Hand des Jungen in meine. Wie zu erwarten ist sie ein bisschen klebrig – wie schaffen Kinder das nur? Ich habe im ganzen Lager weder Honig noch Sirup gesehen. Möglich, dass die Rebellen ihren eigenen Leim anrühren, um Vögel damit zu fangen, und Mojserce geholfen hat, Stöcke oder Netze damit einzureiben.
Mojserces Arm scheint schnell müde zu werden, er lässt ihn einfach hängen. Und da der Junge deutlich kleiner ist als ich, sorgt das Ganze dafür, dass ich mich zu seiner Seite etwas herunterbeuge und folglich schief laufe. Das Gepäck, das mir Mirja und Simone auf den Rücken gebunden haben, verrutscht, ich kann nur hoffen, dass die Riemen halten. Obwohl ich ehrlich gesagt auch nichts dagegen hätte, würde das ganze Zeug runterkippen. So hätte ich immerhin eine Pause.
Ich überlege gerade, die Hand des Jungen wieder abzuschütteln, als Glenna mich von der anderen Seite freundlich anrempelt.
„Na“, sagt sie und grinst mich an. Scheinbar hat sie meine Not mit dem verrutschten Gepäck erkannt. Sie greift energisch hinter mich und zieht an einigen Riemen. Ich lasse sie gewähren und spüre bereits nach wenigen Sekunden Erleichterung. Was immer Glenna getan hat, sie hat damit das Gewicht wieder gleichmäßig auf meinem Rücken verteilt. Auch spannen mir die Riemen jetzt nicht mehr so fest über die noch immer schmerzende Brust.
„Danke“, sage ich aufrichtig.
„Oh, kein Problem.“ Glenna grinst, dann deutet sie auf Mojserce. „Ist nicht einfach mit Kindern, mit einem Jungen erst recht nicht. Du weißt ja, ich habe auch einen von der Sorte.“
Möge die Göttin verhindern, dass ich je so einen missratenen Sohn wie Corey haben werde!
„Der Kleine hängt sehr an dir“, redet Glenna weiter.
Ich zucke mit den Schultern. „Er hat ja auch nur noch mich. Ist doch ganz natürlich, dass er sich dann an mich dranhängt, oder?“
Die Ältere grinst. „Das kann einem ganz schön lästig werden, was? Ich weiß noch, als Corey klein war … Hat mir ewig am Rockzipfel gehangen und wegen jedem bisschen geweint. Mit ihm auf die Jagd zu gehen war unmöglich.“
Jetzt bin ich neugierig geworden.
„So lange bist du schon eine Verrä…“ Ich verstumme erschrocken. Verdammt!
Zu meiner Überraschung lacht Glenna jedoch auf. „Was denn, du nennst mich eine Verräterin? Das ist es, was sie euch immer sagen, nicht wahr?“
Ich senke gespielt entschuldigend meine Augen. „Tut mir leid. Ist nur so, dass …“
Glenna zuckt mit den Schultern. „Schon in Ordnung. Ich schätze mal, dass du und deine Familie euch so auch vor anderen gewehrt habt: ‚Wir sind zwar Unerweckte, aber keine Verräter, keine Rebellen‘, stimmt’s?“
Ich nicke. Auch diese Rebellin hat einen scharfen Verstand. Ich muss vorsichtig sein, so ein Fehler darf mir nicht nochmal passieren!
„Also“, sage ich betont schüchtern, „wie lange bist du schon dabei?“
Glenna denkt nach. „Etwas über 25 Jahre.“
„Was?“
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass jemand so lange in den Wäldern überleben kann, Magie hin oder her. Ich mustere die Rebellin mit neuem Respekt. Man überlebt nicht so lange in der Wildnis und von Hexengarden verfolgt, wenn man nicht verdammt gewitzt ist. Die Regeln der Natur, die uns die Große Göttin auferlegt hat, sind eindeutig: Das Schwache stirbt, das Starke überlebt. So ist es immer schon gewesen und dieses unabänderliche Gesetz gilt auch für Menschen, die sich außerhalb der Zivilisation bewegen. Es ist daher unerlässlich zu wissen, wo man steht. Hier und jetzt, in diesem Moment, hätte mich mein Fehler durchaus mein Leben kosten können. Im Zweifelsfall wird Glenna keine Sekunde zögern, mir die Kehle durchzuschneiden. Sollte sie an mir zweifeln, bevor sich meine Magie erneuert hat, bin ich so gut wie tot. Aus der Straßenkämpferin ist eine Kriegerin geworden, die mir vermutlich ebenbürtig ist. Würde sie in der normalen Gesellschaft leben, wäre sie jetzt sowieso in dem gefährlichsten Alter. Meine Ausbildung in der Stadtgarde hat mich gelehrt, dass besonders zwei Arten von Frauen unberechenbar und gefährlich sind: Junge, gerade erst erweckte Hexen, gefangen in oft noch unreifen Körpern und noch immer mit dem Verstand eines Kindes. Wer es versäumt, seine Tochter streng und diszipliniert zu erziehen, kann ein wahres Monster schaffen, das in einem Wutanfall verdammt viel Schaden anrichten kann. Noch gefährlicher sind jene Hexen, die ganz genau wissen, dass ihnen die Zeit davon läuft: Jene, die an der Schwelle zu den Stufenjahren stehen. Die eines Tages aufwachen und verbittert feststellen, dass sie bald ohne Magie werden auskommen müssen. Die erkennen, dass ihr Leben nicht so gelaufen ist, wie sie es geplant haben, dass sie während ihrer Magiejahre nicht so viel Macht, Einfluss und Reichtum erlangt haben, wie sie es sich immer vorgestellt haben. Frauen dieses Schlages sind gefährlicher als ein verwundeter Puma oder eine Bärin, die ihre Jungen verteidigt. Solche Frauen, einmal in Zorn entbrannt, können ganze Dörfer oder Stadtviertel ausrotten, wenn sie es darauf anlegen. Nicht umsonst hat die Goldene Frau schon vor vielen Jahren befohlen, die mächtigsten unter den Hexen überwachen zu lassen, sobald sich die Zeit ihres Magieendes nähert.
Glenna dürfte Mitte vierzig sein, ein gefährliches Alter, zweifellos. Gepaart mit den wenn auch nachlassenden Reflexen einer Kriegerin und den Erfahrungen von 25 Jahren auf der Flucht.
„Das … muss ein hartes Leben sein“, sage ich vorsichtig.
Glenna lacht. „Du kannst ruhig zugeben, dass du beeindruckt bist. Das sind die meisten, wenn sie das hören.“
„Ich bin in der Tat beeindruckt.“ Soll ich es wagen? „Und was ist mit Coreys Vater?“
Halb erwarte ich, dass die Rebellin einen Wutanfall bekommt, stattdessen werden ihre Schritte langsamer.
„Tot.“
Wir schweigen eine Weile. Mojserce klammert sich nach wie vor an meine rechte Hand, doch nun verhindern Glennas Maßnahmen, dass mein Gepäck wieder verrutscht. Dennoch spüre ich langsam, wie meine rechte Schulter ob der ungewohnten Haltung zu schmerzen beginnt. Die Stelle, an der mich Adrians Pfeil getroffen hat, brennt schon wieder. Kein Wunder bei dem, was ich alles auf dem Rücken trage. Wenigstens hält der Junge bislang Schritt. Die Rebellin neben mir atmet hörbar ein und aus. Dann beginnt sie mit ungewohnt leiser Stimme zu erzählen.
„Wir lebten damals in Normaid.“
Ich halte vor Schreck die Luft an. Damit habe ich nicht gerechnet. Normaid. Allein der Klang dieses Namens beschwört dunkle Erinnerungen herauf. Nicht meine Erinnerungen, zugegeben, denn als geschah, was damals geschah, war ich noch ein kleines Mädchen. Jeder Frau meiner Generation ist der Name Normaid – zumindest gerüchteweise – ein Begriff. Noch heute sind die Geschehnisse in diesem Dorf auf den Orkney-Inseln fester Bestandteil des Unterrichtsstoffes einer jeden höheren Frauenakademie. Noch immer dient Normaid als eindringliches Beispiel dafür, wie zu viel Strenge und zu wenig Mitgefühl zu einer Katastrophe führen können.
„Unsere Männer sind schon seit Urzeiten Fischer, Robbenjäger und Walfänger“, fährt Glenna fort. „Schon lange, bevor sich die Hexen damals erhoben. Und sie sind es weiterhin geblieben.“
Ich gehe stumm weiter, drücke Mojserces Hand. Was in Normaid geschehen ist, ist ein Drama, aber ich muss so tun, als würde ich die Geschichte zum ersten Mal hören, hat doch die Goldene Frau damals höchstpersönlich angeordnet, dass die Ereignisse von Normaid nicht an die Ohren Unbefugter gelangen dürfen.
„Hast du schon mal etwas von Normaid gehört?“, fragt mich die Rebellin prompt.
Ich bleibe bewusst vage. „Schon, irgendwie. Hier und da mal, aber … immer nur Geflüster, Andeutungen …“
Glenna nickt. „So geht es den meisten. Die Fehler unserer wunderbaren Hexenherrschaft werden natürlich vertuscht.“ Ihre Stimme klingt bitter. „Es soll bloß keiner mitbekommen, dass auch die ach so mächtigen Hexen verdammt hilflos sein können.“
Mittlerweile haben wir uns ein Stück hinter die anderen zurückfallen lassen und bilden den Abschluss der sich durch den Wald bewegenden Menschenkette: Glenna, Mojserce und ich.
Um uns herum nichts als die leisen Geräusche, die entstehen, wenn geübte Füße über weichen Waldboden gehen, die Laute all der Waldtiere, hier und da ein Rascheln im Gebüsch, ein Vogelflügelschlag, das Summen einer späten Biene und Glennas leise Stimme.
„Es war ein ganz normaler Spätsommertag. Die Männer waren am Tag zuvor erfolgreich vom Walfang zurückgekehrt. Sie hatten den Kadaver auf eine naheliegende Sandbank geschleppt. Viele Walfischer mussten ihre Beute neben dem Boot her transportieren und auf dem Wasser abspecken. Eine mühsame und vor allem gefährliche Arbeit. Walfischer führen immer ein gefährliches Leben. Unsere Männer machten sich unsere Sandbänke zu Nutze. Mit viel harter Arbeit hatten sie zwei davon so weit aufgeschüttet, dass sie auch bei höherer Flut sicher blieben und jedes Frühjahr half das ganze Dorf mit, den weggespülten Sand zu ersetzen. Auf diese Art hatten unsere Männer nicht nur zwei Rettungsinseln, sondern konnten die erlegten Wale auch etappenweise herbringen. Die vordere Sandbank war so nah an unserem Dorf, dass wir alle hinaus rudern und dabei helfen konnten, den Wal zu zerlegen. Eine harte, schmutzige Arbeit ist das, und immer musste es schnell gehen, bevor das Fleisch verdarb. Der Walfang hat unser Dorf stets gut ernährt und uns sogar etwas Wohlstand gebracht.“
Das kann ich mir lebhaft vorstellen: Je nach Größe liefert ein einziger Meeressäuger genug Fleisch und Speck, um gleich mehrere Dörfer über den Winter zu bringen. Aus dem Tran lassen sich raue Mengen an Lampenöl sieden oder Seifen und Salben und vieles mehr machen, Walzähne finden Verwendung in Waffen und Werkzeugen. Nahezu kein Teil dieser imposanten Tiere bleibt ungenutzt.
„Bei diesem Fang“, fährt Glenna fort, „hatten die Männer einen Blauwal erlegt. Er war zu riesig, als dass sie ihn mühelos zur Sandbank hätten schleppen können, dabei hatten sie schon die Flossen abgeschnitten. Dennoch hätten sie es fast nicht geschafft: Ein Boot kenterte und zwei Männer konnten nicht gerettet werden.“
Ich bleibe stumm. Das Meer fordert stets seinen Tribut. So hart es auch klingt, die Menschen lernen, damit zu leben. Sie haben keine andere Wahl.
„Doch dann lag der Wal sicher auf der vorderen Sandbank und die Männer kehrten heim. Es gab ein großes Fest, denn sie hatten schon lange keinen Blauwal mehr gefangen. Tatsächlich war das der erste, den viele unserer Leute in ihrem Leben sahen. Das ganze Dorf feierte und ehrte dabei die Toten, die auf See geblieben waren. Am nächsten Tag wollten wir alle zusammen aufbrechen, um den Wal zu zerlegen. Doch es sollte anders kommen.“
Heute wird jedem Walfangort während der Saison eine Hexe zugewiesen, die über Wettermagie verfügt. Diese Frauen sind begehrt, denn ihre Magie ist selten und auch immer nur über einem kleinen Gebiet wirksam. Eine solche Hexe hätte Normaid retten können. Hinterher ist man immer klüger, nicht wahr?
Glennas Schritte sind wieder schneller geworden. Der Junge an meiner Hand strauchelt ab und zu und manchmal verhindert nur der feste Griff meiner Hand, dass er hinfällt. Obwohl er sicher kein Wort versteht, scheint ihn die Geschichte der Rebellin genauso in den Bann zu ziehen wie mich.
„Am Abend zogen Wolken auf. Zunächst dachten wir uns nichts dabei.“ Glenna seufzt schwer. „Es sollte einer jener seltenen, aber umso heftigeren Sommerstürme werden. Die Nacht verlief ruhig, doch wir, die wir das Meer kannten, wussten, dass hinter den Wolken der Sturm lauerte. Am nächsten Morgen beratschlagten wir alle zusammen: Die Männer, die Großmütter und die wenigen Frauen, die wir waren.“
Ein Lächeln umspielt Glennas Lippen.
„Ich arbeitete damals auf Mainland im Palast der Countess. Ich hing sehr an unserem Dorf. Zwar hatte ich ein kleines Zimmer im Palast, doch wann immer ich einen ganzen Tag frei bekam, ritt ich nach Hause. Mein halber Lohn ging für den Fährmann drauf, der mich von unserer Insel rüber nach Mainland ruderte, aber das war es mir wert“, ein Lächeln huscht über Glennas kantiges Gesicht, „denn ich war jung und verliebt. Damals, als die Männer vom Walfang wiederkamen, war ich auf Heimaturlaub. Denn ich wollte heiraten, sobald das Tier zerlegt worden war. Du musst wissen, es bringt Glück, wenn das Brautpaar seinen Hochzeitsgästen frisches Walfleisch serviert.“ Die Rebellin schüttelt belustigt den Kopf. „Uns hat der Wal kein Glück gebracht. Wir beratschlagten am nächsten Morgen, was zu tun sei. Alle waren sich einig, dass ein sehr großer Sturm heranzog, und wir beschlossen schweren Herzens, den Wal aufzugeben. Du musst verstehen, was das damals für mich bedeutet hat.“ Wieder lacht Glenna, doch es ist nichts Fröhliches darin. „Das glückversprechende Walfleisch so nah vor Augen dachte ich, meine Hochzeit wäre ruiniert. Ich heulte Rotz und Wasser. Aber meine Tante, die Dorfobere, blieb hart. Sie würde für den Wal kein unnötiges Risiko eingehen und Menschenleben in Gefahr bringen, nicht mal die der Männer, wie sie es so schön ausdrückte. Dank ihrer klugen Politik konnte das Dorf stets ein paar Fehlfänge im Jahr verkraften, wir lebten nicht wie so viele andere am Abgrund. Sie war eine kluge Frau, meine Tante, doch auch sie war machtlos, als die Seegarde kam.“
Die zweite Einheit der Seegarde, um genau zu sein. Sie war gerade mit zwei Kriegsschiffen auf dem Weg von Bergen drüben nach Marjorieburgh; schon damals hatten wir Ärger mit den schottischen Stämmen, deren Anführerinnen autonom bleiben wollen und der Goldenen Frau Tribut und Gehorsam verweigern. Die zweite Seegarde sollte Marjorieburgh frische Kriegerinnen und Nachschub an Lebensmitteln und anderen Dingen bringen, um unsere dortigen Landtruppen auf dem Weg nach Norden zu verstärken.
„Die Seegarde wollte an der schottischen Küste entlang südwärts segeln, als das Wetter umschlug. Die Gardenobere, Frau Gerling, folgte dem Rat ihrer Steueroffizierin und änderte den Kurs. Sie fuhren ihre Schiffe zwischen die Orkney-Inseln, dort wollten sie den Sturm abwarten. Zufällig landeten sie bei uns. Natürlich sorgte das für einigen Wirbel. Alle rannten wie aufgescheuchte Hühner umher. Meine Tante und die übrigen Frauen versuchten, noch schnell alles herzurichten. Ich dagegen verpasste das meiste, weil ich in der Hütte meiner Eltern saß und vor mich hin schmollte.“ Wieder dieses bittere Lachen. „Zum Festbankett zu Ehren des hohen Besuches bin ich dann natürlich trotzdem gegangen. Die Männer und Großmütter hatten ganze Arbeit geleistet, unsere Versammlungshalle glänzte und war hübsch dekoriert. Auf den Tischen standen einfache, aber gute Speisen. Meine Tante hatte sogar das Fass Wein anstechen lassen, das für meine Hochzeit gedacht war. Bis auf mich tat das ganze Dorf alles, um der Gardenoberen, Frau Gerling, zu gefallen. Du musst wissen, ich hatte mich nie für Klatsch und Tratsch interessiert. Daher wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, dass die Gardenobere Gerling die Cousine der Goldenen Frau war. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, es hätte mich wohl wenig geschert. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, hatte außer meiner Hochzeit nichts im Kopf: Wie lange würde die Seegarde hier notankern? Würden Wein und Speisen danach noch für mein Hochzeitsfest reichen? Und wann würde die Vermählung jetzt überhaupt stattfinden? Das waren die Fragen, die mich quälten und wenn ich heute zurückschaue, möchte ich mich dafür schütteln. Dieses junge, unnütze Ding, das ich war – warum habe ich die Zeit nicht mit etwas Sinnvollem verbracht? Damit, zuzuhören zum Beispiel – vielleicht hätte eine einzige Bemerkung von mir ausgereicht, das drohende Schicksal abzuwenden? Warum nur habe ich nicht Zeit mit meinem Verlobten verbracht?“ Glenna seufzt und lächelt gleichzeitig. „Weil ich dachte, wir hätten noch die Ewigkeit vor uns.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß, was passieren wird, was passiert ist und würde Glenna am liebsten bitten, nicht weiterzusprechen. Da das nicht geht, halte ich den Mund. Längst habe ich dem Jungen einen Teil seines Gepäcks abgenommen. Nun geht die Rebellin zu ihm und nimmt ihm einen weiteren Beutel ab. Sichtbar erleichtert atmet der Kleine auf. Glenna wuschelt ihm durchs Haar und nimmt dann wieder ihren Platz links neben mir ein.
„Es war schon fast Abend, als der Streit begann“, fährt sie mit ihrer Geschichte fort. „Irgendwie war wohl die Rede auf den Wal gekommen, der noch immer da draußen auf der Sandbank lag. Frau Gerling wollte wissen, warum wir das Tier nicht bargen. Meine Tante versuchte es ihr zu erklären, vergebens. Natürlich hätte es die Gerling besser wissen müssen. Ich weiß nicht, ob sie einfach auf Streit aus war, ihre Macht demonstrieren wollte oder sonst was. Es heißt, sie habe an diesem Abend zu tief ins Glas geschaut, andere wiederum behaupten, sie habe schon von Kindesbeinen an einen Wal sehen wollen und sei deshalb überhaupt zur Seegarde gegangen. Alles, was wir anderen mitbekamen, war, dass sich meine Tante mit unglücklichem Gesicht erhob und uns mitteilte, der Wal solle nun doch an Land gezogen werden. Du musst dir diese Situation vorstellen, Helena: Die ganze Halle voller Menschen und mittendrin meine Tante. Wären wir allein gewesen, es hätte Proteste gehagelt. Nun aber saßen dreißig grimmige Kriegerinnen unter uns. Und ich? Ich begriff in meiner Sorglosigkeit erst gar nicht, was diese Frau da von uns verlangte. Und als ich es tat, nun … Ich muss ehrlich zugeben, dass ich darauf wartete, dass die anderen Frauen etwas sagen würden. Es kamen nur ein paar halbherzige Einwände; sie hatten einfach Angst zu widersprechen. Einzig meine Tante wagte noch ein paar Versuche, Frau Gerling umzustimmen. Vergebens. Unser großes Glück, ausgerechnet einen Blauwal erlegt zu haben, wurde uns nun zum Verhängnis: Wäre es doch nur wie so oft ein Schwert-, Schweins- oder Grindwal gewesen! Doch es stellte sich heraus, dass unsere Truppen im Nordwesten dringenden Bedarf an neuen Rüstungen hatten. Die Obere rechnete es sich als persönliches Versagen an, nicht alle benötigten Stoffe liefern zu können: Es mangelte ausgerechnet an Fischbein.“
Auch diesen Teil der Geschichte kannte ich schon. Zu dem Zeitpunkt, als sie uns an der Akademie von Normaid erzählt hatten, habe ich selbst eine wunderschöne, leichte Rüstung aus Stoff besessen, verstärkt mit tausenden Fischbeinplättchen. Fischbein ist unglaublich robust und gleichzeitig biegsam, eine Eigenschaft, die sonst nur hitzeanfälliges und schwer wiegendes Metall hat. Hinzu kommt, dass Fischbein schnell und ohne großen Aufwand bearbeitet und eingesetzt werden kann. Und die einzigen Lieferanten des begehrten Materials sind nun einmal die zahnlosen Bartenwale. Meine Kampfhandschuhe mit Fischbein habe ich heute noch.
„Der Rest ist schnell erzählt. Die Männer, unter ihnen auch mein Liebster, ruderten los. Sie schafften es bis zu der Sandbank, an der sie den Wal zurückgelassen hatten. Das Wetter der Nordsee kann unberechenbar sein, weißt du? Darum gilt stets: Wenn ein Sturm naht, bleib im Haus! Denn niemand weiß, wann er losbricht. Plötzlich wurde der Himmel grau, die Wolken fegten übers Land und kamen gleichzeitig über die See herangerast. Von einer Sekunde auf die andere wurde es kalt. Die Wellen türmten sich auf, immer höher und höher. Wir riefen und brüllten, die Männer sollten umkehren. Natürlich haben sie uns nicht gehört. Und selbst wenn, was hätte es genützt? Wir flehten die Seegarde an, wir bettelten, sie mögen uns helfen. Die Obere schüttelte nur mit dem Kopf. Den Männern sei nicht mehr zu helfen, sagte sie, und dass sie nicht das Leben ihrer Kriegerinnen für ein paar Männer aufs Spiel setzen würde. Männer, die nur ihretwegen da draußen waren. Ohne die Magie der Seegarde konnten wir nichts tun. Meine Tante und die anderen Frauen versuchten es. Nur waren sie zu schwach, um gegen die See anzukommen, es waren einfach zu wenige Frauen da. Alle zwanzig Männer ertranken und die See nahm ihre Leichen mit sich.“
Ich schlucke. Ich kenne die Fakten, natürlich, doch dieser Bericht einer Beteiligten ist etwas ganz anderes.
„Du sagtest, ‚meine Tante und die anderen Frauen‘ hätten geholfen“, sage ich und schaue der Rebellin in die Augen. Tränen glitzern darin. „Was war mit dir, warum hast du nicht geholfen?“
Glenna erwidert meinen Blick. „‚Es sind doch nur noch zwei Wochen, dann heiraten wir, also komm schon!‘ – Das waren meine Worte, als ich mich damals eines Nachts in Gregors Hütte geschlichen hatte. Das sind die Worte, mit denen ich ihn verführt und getötet habe. Hätten wir die Männer retten können, wenn ich meine Magie gehabt hätte? Gut möglich, denn meine Magie ist stark. Aber damals trug ich keinen Funken mehr in mir, denn ich war schwanger.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Glennas Geschichte ist zweifellos tragisch. So viele verschwendete Menschenleben, das hätte nicht sein müssen. Der unbesonnene Befehl der Oberen der zweiten Seegarde war zweifellos ein Fehler gewesen. Wir alle machen Fehler. Bei diesem einen war es jedoch nicht geblieben: Ihre Weigerung, den in Not geratenen Männern zur Hilfe zu kommen, hatte die Goldene Frau die Loyalität eines ganzen Dorfes gekostet. Die Obere war hart dafür bestraft worden, ihr wurde die größte aller Strafen zuteil: das Goldene Gericht verurteilte sie zur unwiderruflichen Magielosigkeit. Gerüchten zufolge nahm die Goldene Frau persönlich an dem Vorgang teil, mit dem Frau Gerling ihre Magie für immer genommen wurde. Die dreißig Kriegerinnen unter dem Befehl der Oberen kamen allerdings ungeschoren davon. Es wäre undenkbar gewesen, auf diese Frauen zu verzichten, vor allem in der Zeit der großen Kriege mit den schottischen Stämmen, die sich unter drei besonders starken Frauen vereinigt hatten. Eine militärische Entscheidung. Die allerdings in Normaid auf Verständnislosigkeit traf. Kaum etwas von alledem gelangte je an die Öffentlichkeit. Die Regierung erkaufte sich das Schweigen der Bewohner mit Gold. Ich weiß noch genau, wie die Tatsache, dass sich Normaid hatte kaufen lassen, bei uns Schülerinnen selbst Jahre später noch für Empörung sorgte. Heute verstehe ich die Menschen besser: Sie hatten nicht nur einen Fang, sondern auch ihre zwanzig kräftigsten Männer verloren. Ohne das Geld der Goldenen Frau wäre Normaid mit hoher Wahrscheinlichkeit verhungert. Was ich mir allerdings nicht vorstellen kann, ist dass sich Glenna mit dem Blutpreis zufrieden gegeben hat.
„Wie ging es weiter?“, frage ich behutsam.
„Sie haben uns Geld angeboten.“ Die Rebellin schnaubt. „Der Oberen wurde ihre Magie genommen. Für manch eine mag das schlimmer sein als der Verlust ihres Lebens, aber ich habe das nie so gesehen. Sie hatte den Tod verdient! Und all die Kriegerinnen, die mit ihr gekommen waren?“
Die hätte man, hätten sie sich gegen den Befehl ihrer Oberen aufgelehnt, ebenfalls ihrer Magie beraubt, sie hatten keine Wahl gehabt. Mir ist auch klar, dass dieses Argument für Glenna nicht zählt.
Die Rebellin bestätigt meinen Verdacht: „Die sind einfach so davongekommen. Als ob sie keine Schuld auf sich geladen hätten! Weil sie angeblich den Befehlen ihrer Oberen gehorchen mussten. Als ob blinder Gehorsam wichtiger wäre als gesunder Menschenverstand und Mitgefühl. Es waren ja auch nur Männer, nicht wahr?“
„Was hast du dann gemacht?“, will ich wissen. „Hat das Geld zum Leben gereicht?“
„Pah!“, schnaubt Glenna. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich es angenommen habe! Meine Tante hättest du mal sehen sollen: Die stolzeste Frau, die ich kannte! Stand da und machte sich klein und buckelte vor der Goldenen Frau und nahm das Geld, als könne man die Leben, die genommen worden waren, damit aufwiegen. Feiglinge, allesamt! Nein, ich habe das Geld nicht angenommen. Sie hatten mir meinen Gregor genommen, da wollte ich ihnen nicht auch noch die Genugtuung geben, sich von ihrer Schuld freizukaufen.“
Glennas Blick geht in die Ferne. „Es war eine schwere Zeit für mich. Ich kehrte nie wieder nach Mainland zurück. Ich blieb im Dorf und trauerte und sorgte mich gleichzeitig um mein Baby. Gregors Baby. Ich brachte meinen Sohn gesund zur Welt. Dann hielt ich es nicht länger in Normaid aus, es hat mich alles zu sehr an Gregor erinnert. Ich ließ meinen Sohn bei meiner Tante und ging.“
„Wohin?“
„Zuerst auf die große Insel und dann immer weiter Richtung Süden: Inverness, Liverpool, schließlich Marjorieburgh, London. Irgendwann setzte ich aufs Festland über. Ich lebte auf der Straße, trieb mich weiterhin in Häfen herum, tat Dinge, auf die ich nicht stolz bin. Verkaufte meine Magie jedem, der bereit war, sie zu bezahlen.“
„Hast du denn gar nicht deinen Sohn vermisst?“, frage ich und drücke Mojserces Hand.
„Doch.“ Die Rebellin zuckt mit den Schultern. „Aber ich war jung und halb wahnsinnig vor Kummer. Ich habe Gregor so sehr geliebt. Ich konnte es nicht ertragen, Corey um mich zu haben. Er hat mich zu sehr an das erinnert, was ich verloren hatte. Es brauchte ein paar Jahre, bis ich vernünftig wurde. Bis dahin führte ich ein ziemlich wildes Leben.“
Sie grinst.
„Dann bin ich irgendwann doch zurück nach Normaid gegangen; es hat meiner Tante das Herz gebrochen, als ich Corey mit mir nahm. Sie selbst hatte keinen Mann und keine Kinder, hatte lieber rasch und ohne lästige Unterbrechungen Karriere machen wollen. Sie war längst alt geworden und lebte von ihrer Großmutterrente. Sie wollte mir den Jungen erst nicht geben, aber was kann ich für ihre Fehler? Sie hatte kein Recht, ihr verpfuschtes, einsames Leben auf meine Kosten zu bereichern. Ich nahm Corey mit und fand eine Stelle im Schloss von Wittmund, ich unterstand der Hohen Frau von Manslagt persönlich!“ Glenna ballt die Fäuste. „Ich habe drei Jahre hart und gut für sie gearbeitet. Eines Abends vergaß ich alle Vorsicht und erzählte ihr, was passiert war. Erzählte ihr von meinem Gregor und meinem Hass auf die Goldene Frau. Und was meinst du, was die Hohe Frau da getan hat? Sie hat Verständnis geheuchelt und mich hinterrücks an die Garde verraten, mögen alle sieben Finsterhexen über sie herfallen! Doch ihre Assistentin war mir eine treue Freundin und warnte mich rechtzeitig. Corey und ich flohen und wenig später schloss ich mich den Rebellen an. Zuerst einem Mann namens Joachim, nach dessen Tod Marta und ihrem Mann Petron. Irgendwann taten wir uns mit Adrians Gruppe zusammen und nach dem Tod der beiden übernahm er das Kommando. Und da bin ich nun.“
Glenna grinst wieder, doch es sieht eher wie ein Zähnefletschen aus.
„Bereit, mich an denjenigen zu rächen, denen ein Männerleben nichts gilt. Die verlogen sind und für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Bei denen allein die Stärke regiert und nicht die Vernunft. Aber wir sorgen für Gerechtigkeit, weißt du? Und eines Tages werde ich der Goldenen Frau persönlich zeigen, was es heißt, seine Liebe zu verlieren!“
Wir gehen stumm weiter. Es gibt nichts zu sagen. Ich verstehe, warum Glenna unsere Feindin geworden ist. Sie sieht die Dinge falsch, gibt der Goldenen Frau die Schuld für etwas, das eine einzige Frau verbrochen hat. Und die Seegardistinnen? Natürlich hatten sie keine andere Wahl, als ihrer Oberen zu gehorchen! Eine Frau muss auf ihre Vorgesetzte hören, darf weder zögern noch hinterfragen, sondern hat zu gehorchen, nur so kann es funktionieren! Im Krieg oder auf der See ist kein Platz für Zweifel, unsere Einigkeit und die Ergebenheit gegenüber unseren Oberen ist unsere stärkste Waffe! Sie ist der Grund, warum sich die ach so gleichgestellten Rebellen auf Dauer nie gegen uns werden behaupten können, der Grund, aus dem wir es geschafft haben, ein riesiges, goldenes Reich zu erschaffen!
Nein, die Seegardistinnen trifft genauso wenig Schuld wie die Goldene Frau. Dennoch kann ich Glenna verstehen.
Ich grübele stumm vor mich hin. Wie hätte ich in der Situation reagiert? Das habe ich mich damals schon an der Akademie gefragt. Jetzt, da ich der Schilderung einer Normaiderin gelauscht habe, fällt meine Antwort anders aus. Nein, ich hätte das Geld auch nicht genommen. Ich hätte Frau Gerling gejagt. Dass sie ihr die Magie genommen haben, wäre mir im Leben nicht genug gewesen. Ich hätte sie gejagt und dann hätte ich sie getötet. Aber niemals wäre ich deswegen zur Rebellin geworden! Die Goldene Frau kann nicht jedes Verbrechen, nicht jeden Machtmissbrauch, verhindern. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihre Cousine so kurzsichtig gedacht hat und so viele Männer für nichts ihr Leben lassen mussten.
Finster starre ich auf meine Hand. Ich werde wohl nie wieder eine Rüstung aus Fischbein tragen können, ohne an die junge Glenna zu denken, wie ich sie im Geist vor mir sehe: Das Haar zerzaust, eine Hand auf den Unterleib gelegt, wie sie dasteht und auf das Meer hinaus starrt, ein verzweifelter Schrei, den ihr der Wind von den Lippen reißt, wie sie auf die Knie sinkt und weint, denn was das Meer genommen hat, gibt es niemals wieder her.