Читать книгу Die Körpersprache der Lügner - Monika Matschnig - Страница 6
ОглавлениеWie wäre die Welt ohne Lügen!
»Man darf sich nicht immer kränken,
dass uns andere nicht die Wahrheit sagen;
denn wir sagen sie uns oft selbst nicht.«
FRANÇOIS VI. HERZOG DE LA ROCHEFOUCAULD
»Was?! Das ist doch Humbug. Ehrlich, veräppeln können Sie einen anderen.« Ich stand auf und bewegte mich Richtung Ausgang, doch ich wurde aufgehalten. »Ich meine es ernst. Sie bekommen eine Million, wenn Sie das Experiment durchhalten. Wie gesagt, es ist einfach: Nachdem wir Ihnen diesen kleinen Chip in den Oberarm injiziert haben, werden Sie immer die Wahrheit sagen. Sie werden aussprechen, was Sie denken und fühlen.« Was für ein außergewöhnliches Angebot, jedem die ungeschminkte Wahrheit zu sagen und sich dafür alle Wünsche und Träume erfüllen zu können. »Warum nicht. Ich mache mit«, hörte ich mich selbst sagen. Und schon spürte ich einen kleinen Stich im Oberarm. »Wunderbar, der Chip sitzt perfekt. Morgen, wenn Sie aufwachen, beginnt das Experiment.«
Gefährlich ehrlich
Ich werde wach, fühle, dass ich endlich wieder einmal tief und fest geschlafen habe. Richard, mein Mann, erwacht ebenfalls, umarmt mich und möchte mir einen Gutenmorgenkuss geben. Sein Gesicht nähert sich meinem, ich rieche seinen Atem und begrüße ihn mit einem »Iih, du stinkst aus dem Mund«. Verdutzt blickt er mich an und torkelt etwas irritiert ins Bad. Ich folge. In Shorts putzt er sich die Zähne. Mir fällt sein Bauch auf, der über die Jahre ein wenig größer geworden ist, und schon höre ich mich sagen: »Na, an deinem Schwimmreifen kann man sich ja schon richtig festhalten. Du solltest dir mal ein Beispiel an deinem Arbeitskollegen nehmen, der hat noch immer eine Figur wie vor zehn Jahren.« Die Irritation meines Mannes wird größer und er fragt: »Na, schlecht geschlafen? Deine zynischen Bemerkungen kannst du dir sparen.« Nach einem schnellen Espresso flieht Richard kommentarlos ins Büro.
Auf dem Weg zur Arbeit ruft mich meine von sich selbst überzeugte Freundin an, die wieder einmal nur von sich spricht und von ihren Männern, die sie angeblich alle unendlich vergöttern. Als sie Atem holt, nutze ich die Chance und sage: »Du glaubst wohl, du bist der Nabel der Welt und unwiderstehlich. Ich finde dich ehrlich gesagt durchschnittlich und außerdem sind deine Zähne zu gelb. Es geht immer nur um dich und deine Besonderheiten. Deine Männergeschichten hängen mir zum Hals raus. Ich glaube, dass du in Wirklichkeit eine ziemlich verkorkste Persönlichkeit bist. Nicht von ungefähr hält es kein Mann mit dir länger als ein paar Monate aus. Du interessierst dich doch wirklich gar nicht für andere. Deine Egozentrik habe ich satt. Jedes Mal, wenn ich deine Nummer sehe, überlege ich mir dreimal, ob ich mir das antue.« Wortlos legt meine Freundin auf.
Welche Folgen hätte es, wenn wir alle ungebremst alles sagen würden, was wir denken? Und wie würden wir uns fühlen?
Im Büro begrüßt mich schon von Weitem ein sehr netter Kollege mit: »Hallo. Na, wie geht’s?« Und es sprudelt aus meinem Mund: »Ich bin genervt, meine Freundin hat mich vollgelabert und ich muss gleich mit einem Kunden verhandeln, den ich nicht leiden kann. Danach muss ich den hirnlosen Report beim Chef vorlegen. Am späten Nachmittag muss ich noch zu einem Lehrergespräch und ich bekomme Blähungen.«
Ich setze mich an den Schreibtisch, sortiere die Unterlagen für das Kundengespräch, da poppt eine WhatsApp von Bekannten auf: Einladung zu einem Champagner-Brunch. Ich antworte: »Sorry, ich hab keine Lust, mit euch Schleimern zu brunchen«.
Pünktlich betrete ich in den Meetingraum und begrüße den Kunden: »Wow, Sie sehen ja viel besser aus als auf dem Foto, das ich gegoogelt habe. Und einen knackigen Po haben Sie auch. Da muss ich aufpassen, dass ich nicht auf andere Gedanken komme.« Ich präsentiere unser Produkt und zum Abschluss füge ich hinzu: »Ehrlich gesagt bin ich von diesem Produkt nicht überzeugt. Aber wir verkaufen es, da es die größten Margen bringt. Ach ja, und die genannten Servicedienstleistungen können wir auch nicht alle einhalten, da uns die Kapazitäten fehlen. Es wäre toll, wenn Sie unterzeichnen, dann bekomme ich einen netten Bonus.« Die Vertragsunterzeichnung wird auf unbestimmte Zeit verschoben.
Bevor ich den Report beim Chef vorlege, düse ich noch in die Bäckerei, um mir ein Croissant zu besorgen. Ich stehe in der Warteschlange und vor mir telefoniert ein McKinsey-Hosenscheißer lauthals über firmeninterne Beschlüsse. Ich bin gezwungen mitzuhören. Ich stupse ihn an und fordere ihn auf: »Sie glauben wohl, weil Sie Anzug und Krawatte tragen, können Sie alle anderen mit Ihren firmeninternen Geheimnissen belästigen. Sprechen Sie leiser, besser gar nicht.«
Die grimmige Bäckereiverkäuferin fragt mich: »Was darf ich Ihnen geben?« – »Ein Croissant, bitte.« Emotionslos, wie bei den vorherigen Kunden, antwortet sie: »Sehr gerne.« Ich frage sie: »Sagen Sie mal, macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß?« – »Ja, natürlich.« Meine Antwort: »Komisch, merkt man gar nicht.«
Dem Chef lege ich den Report vor und sage gleichzeitig: »Sie gehen mir mit Ihren bürokratischen Verordnungen dermaßen auf den Senkel und übrigens wird gemunkelt, genauer gesagt, hat es mir der Abteilungsleiter erzählt, dass Sie sich mit dem Mädel am Empfang regelmäßig amüsieren. Ich finde es widerlich, wenn ein so alter Sack mit einer fast noch Jugendlichen in die Kiste steigt.« Im hohen Bogen werde ich rausgeworfen.
Am Nachmittag sage ich der Lehrerin meine Meinung: »Sie haben überhaupt kein Gefühl für Kinder und Sie sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, eine Schulklasse zu führen, geschweige denn den Kindern etwas beizubringen. Haben Sie sich schon mal die Frage gestellt, ob es an Ihren Unterrichtsmethoden liegen könnte, dass die Mehrheit der Schüler bei den Klassenarbeiten immer so schlecht abschneidet? So einen entspannten Job wie Sie hätte ich auch gerne. Ein wenig unterrichten, viel Freizeit und noch dazu eine überzogene Bezahlung. Und übrigens finde ich Ihren Ökofimmel echt albern. Kein Wunder, dass die ganze Klasse über Sie Witze macht und Sie ›Brokkoli‹ nennt.« Oje, mein armes Kind wird in der Zukunft wohl leiden müssen.
Auf dem Weg nach Hause werfe ich noch den Brief für das Finanzamt in den Briefkasten, dem ich eine Notiz beigelegt habe: »Sie sind faule Säcke. Zur Info: Ich habe die Steuererklärung geschönt.«
Dann läuft mir die Nachbarin über den Weg und noch bevor sie ein Wort sagen kann, bekommt sie zu hören: »Bitte sprechen Sie mich nicht an. Ich möchte keinen belanglosen Smalltalk und mir Ihre Geschichten aus der Nachbarschaft anhören.« Eingeschnappt dreht sie sich um und geht ihres Weges.
Zu Hause empfängt mich mein Mann mit einem Strauß Blumen und nimmt mich in den Arm. Meine Reaktion: »Blumen?! Hast du ein schlechtes Gewissen? Sag mal, warum musst du eigentlich in letzter Zeit oft so lange arbeiten? Hast du eine Affäre? Irgendwie würde ich es verstehen. Unser Leben ist ja nur noch auf die Kinder ausgerichtet. Und du trägst gar nichts zum Familienleben bei. Die Arbeit ist dir immer wichtiger. Du hältst meine Anwesenheit halt für selbstverständlich. Ich bin in dieser Familie Köchin, Putzfrau, Erzieherin, Dienerin … Ich fühle mich in unserer Ehe schon lange nicht mehr wohl. Wir sollten uns scheiden lassen.« Der Abend endet im Desaster.
Katerstimmung garantiert!
Dieses hypothetische Szenario ließe sich endlos fortsetzen, aber schauen wir doch einmal, was schon nach einem Tag schonungsloser Ehrlichkeit die Konsequenzen wären:
Scheidung
Trennung von den Kindern
Arbeitslosigkeit
Anklage wegen Unternehmensschädigung
Verlust von Freunden
Finanzamt am Hals
Jeder würde den Kontakt abbrechen
Einsamkeit
Isolation
Fazit: Eine Welt komplett ohne Lügen und Flunkern können sich nur naive Geister und Realitätsverweigerer wünschen, denn die Erde wäre wohl ein soziales Schlachtfeld, hätten wir nicht die Fähigkeit zu lügen.
Ohne die Lüge wäre der soziale Umgang unerträglich. Natürlich sollten Beziehungen nicht auf ausdrücklichen Lügen, also Falschdarstellungen, aufgebaut sein. Der Schuss würde früher oder später nach hinten losgehen. Die Nuancen entscheiden.
Die Lüge ist ein sehr breites Wort. Es gibt eine Menge an Modifikationen der Lüge, die förderlich für das menschliche Miteinander sind. Denken Sie an ein charmantes Flunkern, Höflichkeit, einen taktvollen Umgang oder den Verzicht auf die ganze Wahrheit, wenn sie nicht wirklich relevant, aber verletzend ist. Wir können hier auch von der Kunst der Diplomatie sprechen. Solche wohlwollenden Lügen schaffen Vertrauen, stärken Beziehungen und erzeugen Respekt. Doch schön der Reihe nach: Was ist nun eine Lüge? Welche Arten der Lüge gibt es und warum lügen wir Menschen? All das und mehr erfahren Sie auf den kommenden Seiten.