Читать книгу Die Prinzessin der Lilien - M.P. Anderfeldt - Страница 10
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ОглавлениеManchmal war das Zwielicht in der dunklen Höhle auch ein Segen, denn einige Soldaten waren am Kopf verletzt und hatten kaum noch Gesichter. Anfangs war Miyako erschrocken, als sie diese Gestalten sah, bei manchen war die Haut im Gesicht schwarz und tot wie bei einem verbrannten Stück Fleisch, andere besaßen keine Nasen oder keine Ohren mehr.
Einmal fütterte Hisa, eine der jüngeren Schülerinnen, mit dem Löffel einen Soldaten, dessen Unterkiefer nur noch eine breiige, vor Blut schwarz glänzende Masse war.
Selbst im schummrigen Licht der Kerosinlampen konnte Miyako erkennen, wie sich das Mädchen ekelte. Als sie einen Löffel Reisbrei in den Rachen des Mannes geschoben hatte, fielen plötzlich Dutzende weiße Maden auf Hisas Hand und in ihren Schoß. Mit einem schrillen Schrei sprang sie auf und lief weg.
Kikuko hatte sie beobachtet und eilte sofort an Hisas Stelle. Als ob nichts gewesen wäre, nahm sie den Löffel, wischte ihn an ihrer Kleidung ab und fütterte den Patienten weiter. Dabei redete sie ruhig auf ihn ein. Miyako verstand nicht, was sie sagte. Sprach sie wieder vom bevorstehenden Sieg Japans? Das war ihr Lieblingsthema, deshalb nannten manche Soldaten sie auch »Fräulein Endsieg« und belächelten sie insgeheim.
Miyako schämte sich nun, dass auch sie sich über Kikuko lustig gemacht hatte. Denn was sie auch sagte, entscheidend war doch, dass sie sich um den Mann kümmerte und dafür verdiente sie Respekt.
Schwester Suzuki zeigte den Mädchen, wie sie die Patienten sauber machen, ihre Fäkalien beseitigen und ihnen beim Urinieren helfen mussten. Besonders die doppelt Amputierten brauchten Hilfe.
Einer der Männer, dem beide Arme unterhalb der Ellbogen amputiert worden waren, weinte ununterbrochen vor Scham, als Miyako seinen Penis hielt und ihm helfen wollte, in einen Becher zu urinieren. Obwohl er dringend musste, konnte er nicht pinkeln, wenn Miyako dabei war. »Ich will sterben. Welchen Sinn hat mein Leben denn noch?«, sagte er immer wieder.
Miyako fehlten die Worte. Sie hatte seit ihrem siebten Lebensjahr keinen Mann außer ihrem Vater berührt und ihr war die Sache ebenso peinlich. Aus Verlegenheit entschuldigte sie sich jedes Mal, bevor sie ihn berührte.
Nachdem der Soldat sie dreimal gerufen hatte und doch immer nichts kam, konnte er sein Wasser nicht länger halten und der Urin ergoss sich auf sein Lager. Beschämt drehte er sich zur Wand um und vermied es, Miyako anzusehen, während sie ihn sauber machte. Sie wollte ihm sagen, dass es sie nicht störte, aber sie wusste nicht, wie.
Die meisten Soldaten waren dankbar für die Hilfe der Schülerinnen. Einer kannte die Namen aller Mädchen und unterhielt sich mit ihnen, wann immer sie vorbeikamen. Er merkte sich sogar die Namen sämtlicher Freundinnen und Verwandten, von denen sie ihm erzählten.
Eines Abends erzählte er Miyako von seinem ersten Tag in der Höhle. »Ein Kamerad muss mich hierhergebracht haben. Ich kann mich noch erinnern, wie wir in unserem Unterstand unter Beschuss lagen und die Amerikaner immer näherkamen. Sie hatten einen Panzer und wir wussten, dass wir am Ende sind, wenn der Panzer uns entdeckt. Zum Glück hat unsere Artillerie ihn erwischt und sie mussten sich zurückziehen. Aber dann haben sie aus der Luft angegriffen. Eine Bombe muss mich getroffen haben. Bis heute weiß ich nicht, was mit meinen Kameraden passiert ist.
Als ich wieder zu mir kam, dachte ich, ich wäre in der Hölle gelandet. Die Schmerzen, die Dunkelheit, die schlechte Luft, die Schreie der anderen, das war einfach zu viel für mich. Doch dann kam … ein Engel.« Er sah Miyako an. »Ja, das warst du, Miyako-chan. Ich sah dein Gesicht und ich schwöre, du hast geleuchtet. Du hast dich über mich gebeugt und gefragt, wie es mir geht. Ihr seid Engel, die in die Hölle herabgestiegen sind, um uns zu retten.«
Dabei fühlte sich Miyako überhaupt nicht wie ein Engel. Wenn die Patienten keine Ruhe gaben und immer wieder etwas anderes wollten, wünschte sie sich manchmal, dass sie tot wären und sie endlich in Ruhe ließen. Nach solchen Gedanken plagte sie regelmäßig ein schlechtes Gewissen. Sie versuchte dann, sich vor sich selbst zu entschuldigen, dass sie eben übermüdet sei.
Jedem Mädchen standen regulär nur drei Stunden zu, aber Miyako hatte inzwischen gelernt, im Stehen zu schlafen. Wann immer es etwas ruhiger war, lehnte sie sich an eine Wand und fiel in Halbschlaf. Manchmal gelang es ihr sogar, während einer Operation einzuschlafen, wenn sie eine Kerze oder eine Kerosinlampe hielt.
Bald konnten die Mädchen die Tage und Nächte nicht mehr unterscheiden, ihr Leben war ein einziger, dämmriger Albtraum.