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Obwohl sie in die gleiche Klasse gingen, hatte Miyako praktisch noch nie mit Kikuko gesprochen. Kikuko war erst vor einem guten Jahr nach Okinawa gekommen; aus Tokio, wie sie betonte. Auf subtile Art ließ sie die Mädchen aus Okinawa immer wieder spüren, dass sie sie für Hinterwäldler und Bauerntrampel hielt. Weil Kikukos Vater ein hoher Offizier in der Marine war, behandelten die Lehrer und der Direktor sie stets mit größtem Respekt und bevorzugten sie nach Kräften.

»Ihr zwei«, wandte sich Schwester Suzuki an Kikuko und Miyako, »schafft das raus.« Sie zeigte auf die Metallkiste mit den amputierten Gliedmaßen. Kikuko stellte sich sofort an das vordere Ende des Containers, um zu ziehen und Miyako ging nach hinten, um zu schieben. Gemeinsam rollten die beiden die Kiste über den unebenen Boden der Höhle Richtung Ausgang.

Miyako betrachtete die beiden akkurat geflochtenen Zöpfe in Kikukos Nacken. Gewiss hatte sie keine Läuse. Vermutlich floss in Kikukos Adern gar kein warmes Blut und die armen Tiere würden elend eingehen, dachte Miyako und musste grinsen.

Als der Kasten über eine kleine Mulde hinwegrollte, schepperte es laut. Miyako graute bei dem Gedanken, wie die Hände und Beine im Innern durchgeschüttelt wurden und zu einem unheimlichen Nach-Leben erwachten.

Plötzlich schnellte eine Hand aus einem der Verschläge und hielt Miyako an ihrer Hose fest. Das Mädchen fuhr zusammen und hielt sich die Hand vor den Mund; um ein Haar hätte sie geschrien.

»Ich weiß, was ihr da habt«, sagte der Besitzer der Hand. Trotz der Dunkelheit in der Höhle hatte er seine Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass Miyako seine Züge nicht richtig erkennen konnte. »Wollen wir das nicht kochen oder grillen? Seid nicht blöd. Wir verhungern hier. Und ihr habt doch auch Hunger. Gebt’s zu, ihr habt euch das auch schon mal überlegt. Oder wollt ihr das etwa alleine essen?«

Kikuko ging um die Kiste herum und zog beherzt seine Hand von Miyakos Bein weg. Dann ging sie ohne ein Wort nach vorne und zog wieder am Container. Miyako verbeugte sich unentschlossen vor dem Soldaten und eilte hinter Kikuko und der schlingernden Kiste her.

Der Hunger war greifbar geworden, er war ihr ständiger Begleiter und er verwandelte die Menschen. Viele Patienten konnten an nichts anderes mehr denken und schrien die Mädchen an, sie sollten ihnen zu essen bringen. Natürlich bekamen auch die Schülerinnen nicht mehr zu essen als die Patienten, sie hatten wahrscheinlich nur einfach weniger Zeit, an ihren Hunger zu denken.

Wenn einer der Soldaten gestorben war oder nicht mehr in der Lage war zu essen, stürzten sich die Umliegenden auf seine Ration und stopften sich gierig den wässrigen Brei oder den Reisball des Toten in den Mund. Der Hunger macht uns zu etwas anderem, dachte Miyako, er tötet die Menschlichkeit. Sie betete, dass ihr dieses Schicksal erspart bliebe.

Am Eingang der Höhle diskutierte der Wachhabende mit einem abgerissen aussehenden Soldaten. Der Neuankömmling trug einen verletzten Kameraden auf dem Rücken.

»Wir sind voll«, wimmelte ihn der Wachhabende ab, »versuchen sie es in der nächsten Krankenstation. Dort ist die Chirurgische Einheit Nummer 2 …«

»Da waren wir schon und man hat uns weggeschickt.«

»Das tut mir leid. Aber wir sind voll. Wir könnten uns ohnehin nicht in angemessener Weise um ihren Kameraden kümmern.«

Die Stimme des Mannes klang zornig, aber Miyako hörte die Verzweiflung, die sich dahinter versteckte. »Hören Sie. Ich war mit diesem Mann in Shanghai und Nanking. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich tot. Verdammt, wenn er nicht aus der Deckung gestürmt und die Handgranate geworfen hätte, wäre unser halber Zug tot. Er verdient einen Scheiß-Orden und sie wollen ihn nicht einmal verarzten. Und jetzt trage ich ihn seit fünf Stunden auf meinem Rücken und ich werde nicht eher hier weggehen, bis sie ihn aufnehmen.«

Der Angesprochene seufzte. »Lassen Sie mal sehen.« Er ging um den Soldaten herum und hob den Kopf des Verletzten. Er drückte ein Auge des Bewusstlosen auf und sah hinein. Dann ließ er den Kopf los, der wieder zurücksank. »Es tut mir leid, Ihr Kamerad ist tot.«

Der Soldat schien zu torkeln. Vorsichtig legte er seinen Kameraden auf den Boden und ging mit offenem Mund einen Schritt zurück um ihn zu betrachten. »Das … nein, das kann nicht sein. Er hat eine Braut in Matsumoto, er kann doch nicht einfach …« Der Soldat schüttelte den Kopf und sah die Mädchen hilfesuchend an.

Kikuko stupste Miyako an und zeigte auf den Behälter. Die beiden schoben ihn bis zum Rand der Höhle und ließen ihn dort stehen. Von da führte nur eine Leiter nach oben. Draußen war es Nacht, doch alle paar Sekunden erleuchteten Explosionen den Himmel und ließen den Boden erzittern. Helle Streifen sausten über den Himmel.

Eigentlich sah es aus wie ein riesengroßes Feuerwerk, dachte Miyako. Eines, wie es sich die Leute in den großen, reichen Städten im japanischen Mutterland in heißen Sommernächten ansahen. Ihr Vater hatte davon geschwärmt. Alle trugen dann leichte, bunte Yukatas und die Männer tranken Sake. Sie saßen da, machten Musik und betrachteten das Feuerwerk. Sie hatte sich das immer sehr schön vorgestellt.

»Gefechtsbeleuchtung«, kommentierte Kikuko. Im Norden zeichneten sich die Berge schwarz vor dem hellen Himmel ab, als ob dort bald die Sonne aufginge. Es war das erste Wort, das sie an Miyako gerichtet hatte.

Sie zeigte auf die Kiste. »Hast du das schon mal gemacht?«

Miyako schüttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass Kikuko das im Zwielicht wahrscheinlich nicht sehen konnte und sie verneinte es.

»Nimm dir eine der Schaufeln. Wir graben draußen ein Loch und werfen alles hinein.«

Draußen atmete Miyako erst einmal tief durch. Sie war froh, endlich aus der Höhle herauszukommen genoss die frische Luft. Der Mond stand als schmale Sichel über dem Meer, das man durch die Hügel erkennen konnte.

»Beeilen wir uns, hier draußen ist es nicht sicher, Miyako-kun.«

Miyako lächelte, weil Kikuko sie beim Namen genannt hatte. Sie wäre gerne noch draußen geblieben und hätte die Sterne betrachtet, aber natürlich hatte Kikuko recht, sie mussten sehen, dass sie so schnell wie möglich wieder in die Höhle kamen.

Hastig gruben sie ein Loch, bis Kikuko sagte: »Das genügt.« Dann trugen sie die abgetrennten Gliedmaßen die Leiter hoch und legten sie in die Grube. Es war schrecklich, die kalten, oft blutigen Arme und Beine mit der Hand anzufassen und damit die Leiter hinaufzubalancieren.

Als der Behälter endlich leer war, waren die Mädchen völlig erschöpft. Sie schütteten die Grube wieder mit der losen Erde zu.

Miyako fühlte sich wie auf einer Beerdigung und wollte irgendetwas sagen. Zum Zeichen des Gebets presste sie die Handflächen zusammen und verbeugte sich. Kikuko zögerte, dann tat sie es ihr gleich.

Die Prinzessin der Lilien

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