Читать книгу Die Prinzessin der Lilien - M.P. Anderfeldt - Страница 12

5

Оглавление

Es wurde immer gefährlicher, die Höhle zu verlassen und Miyako fragte sich zum ersten Mal, wie lange sie im Innern noch sicher wären. Am frühen Morgen war eine Granate direkt in den Hügel über der Höhle eingeschlagen und alles hatte gezittert; von der Decke waren Erde und kleine Steinchen heruntergerieselt. Zum Glück war es wohl ein Zufallstreffer gewesen, denn weiterer Beschuss war danach ausgeblieben.

Langsam gingen auch die Lebensmittel aus, seit Tagen hatten sie keine Lieferung mehr bekommen und Taira-san zeigte verzweifelt auf die wenigen Säcke mit Reis, die ihr geblieben waren. Pro Tag bekam jeder der Patienten – und auch die Mädchen – nur einen winzigen, kaum handtellergroßen Reisball. Und mit jedem Tag schien der tägliche Reisball ein wenig kleiner zu werden.

»Mädchen, Mädchen«, riefen die Patienten, »wir haben Hunger. Ihr könnt uns doch nicht verhungern lassen.« »Wozu pflegt ihr unsere Wunden, wenn ihr uns dann an Hunger sterben lasst?« Miyako konnte sich nur entschuldigend verbeugen und traurig den Kopf schütteln. Meistens war sie aber zu beschäftigt, um überhaupt auf solche Zurufe zu reagieren. Ein gutes Dutzend Mädchen, zwei Ärzte und eine Krankenschwester mussten sich um über 700 Patienten kümmern, von denen nicht wenige intensiver Pflege bedurften. Oder bedurft hätten, wenn das irgendwie möglich gewesen wäre.

Viele Soldaten wollten mit den Mädchen sprechen, ihnen von ihren Familien erzählen, von Eltern, Frauen und Kindern zu Hause und Miyako versuchte, auch für sie da zu sein, aber meistens eilte sie einfach zu dem, der gerade am lautesten schrie. Anfangs hatten die Mädchen getrauert, wenn jemand gestorben war, aber nach wenigen Tagen wurde das Sterben zur Routine: Einer der Soldaten vermerkte den Namen des Verstorbenen und sicherte seine Besitztümer, falls er etwas bei sich gehabt hatte. Die Mädchen transportierten die Leiche ab und wechselten die Decken, dann wurde das Bett neu besetzt.

Jeden Abend verstummte das unablässige Donnern der Geschütze und Granaten für etwa eine halbe Stunde. »Jetzt essen sie«, kommentierte einer der Soldaten und lachte bitter. »Die haben sicher genug zu fressen und wir verhungern hier.«

Kikuko reagierte empfindlich auf solche Reden. »Du bist ein japanischer Soldat. Reiß dich zusammen, ich bin sicher, dass uns der Kaiser nicht vergessen hat. Wahrscheinlich ist die Flotte schon unterwegs«, wies sie ihn zurecht.

Für Kikuko war es völlig selbstverständlich, dass Japan den Krieg gewinnen würde. »Hat Japan nicht jeden Krieg gewonnen? Was können uns die ausländischen Teufel schon anhaben, wenn wir bereit sind, alles zu geben?« Manche lachten statt einer Antwort, andere schwiegen, einer spuckte demonstrativ auf den Boden.

Auch im Gespräch mit den anderen Mädchen zeigte sich Kikuko fest vom Sieg überzeugt. »Das Gute gewinnt doch immer«, sagte sie einmal zu Miyako. Miyako wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, in Gedanken hörte sie ihren Vater eine zynische Bemerkung machen.

»Ja, da hast du wohl recht«, antwortete sie und klang vermutlich nicht allzu überzeugt.

Kikuko sah sie scharf an, vielleicht war sie sich nicht sicher, ob Miyako das ernst gemeint hatte. »Solange wir Japaner nur fest zusammenstehen, werden wir siegen.«

»Gewiss, das werden wir«, sagte Miyako. Sie war nicht sarkastisch. Im Gegenteil, sie wollte es so gern glauben.

Wenn es still war, konnte Miyako manchmal hören, wie sich die Maden in den Wunden der Soldaten bewegten.

»Sie fressen sie bei lebendigem Leib«, flüsterten die Mädchen untereinander. Wann immer sie Zeit hatten, versuchten sie, die Wunden zu reinigen, aber schon lange gab es kein Desinfektionsmittel mehr und so mussten sie die Maden einzeln mit ihren hölzernen Essstäbchen herausziehen. Das gelang nie vollständig, da viele bereits tief ins Fleisch eingedrungen waren.

Eines Nachts bekamen sie Verstärkung. Yoshiko und zwei andere Mädchen waren aus einer anderen Höhle herversetzt worden. Miyako freute sich, da Yoshiko in der Schule ihre beste Freundin gewesen war. Sie sah allerdings schrecklich aus; sie hatte tiefe Ringe unter den Augen und ihre Haare wirkten dünn und stumpf. Wenn sie sich kämmte, fielen sie büschelweise aus und so ließ sie es bald sein.

»Unsere Höhle kam plötzlich unter Beschuss und wir mussten so schnell wie möglich hinaus«, erzählte Yoshiko. »Ein Teil ist eingestürzt und wir wollten nach Verletzten suchen, aber ein Offizier hat es uns verboten. Er … er hat sein Katana gezogen und gesagt, dass er jedem den Kopf abschneidet, der zurückgeht. Wir haben gebettelt und gefleht, aber er hat uns weggescheucht. Ich weiß nicht, wo Ruriko ist.«

Miyako schwieg betroffen. Ruriko war ein anderes Mädchen aus ihrer Klasse. »Vielleicht ist sie ja in eine andere Höhle versetzt worden.«

»Ja, … so muss es sein«, antwortetet sie unsicher.

Miyako wechselte das Thema. »Kikuko ist auch hier.«

Yoshiko dachte nach und schien sich an längst vergangene Ereignisse zu erinnern. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ah, Kikuko … direkt aus unserer vornehmen Hauptstadt Tokio ist sie immer noch die alte?«

»Ja, die ändert sich nicht.«

Beide Mädchen mussten grinsen und für einen Augenblick war es so, als stünden sie nicht in einer dunklen, stinkenden Höhle, sondern unter einer schattigen Platane auf dem Pausenhof vor ihrer Schule und unterhielten sich über ihre Klassenkameradinnen. Irgendwie spürten das auch die Soldaten ringsum und betrachteten die beiden, ganz so, wie man eine alte Postkarte aus längst vergangener Zeit ansieht.


Die Prinzessin der Lilien

Подняться наверх