Читать книгу Die Prinzessin der Lilien - M.P. Anderfeldt - Страница 6

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Noch bevor sie etwas sah, roch sie die Mischung aus Schweiß, Blut, Erbrochenem, Urin und Fäkalien. Keine fünf Schritte vom Eingang entfernt war die Luft schon zum Schneiden dick. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Gestank erlebt. Nur langsam gewöhnten sich Miyakos Augen an die Dunkelheit in der Höhle – während draußen die Sonne hoch am Himmel stand und die Augen vor Helligkeit schmerzten, war im Innern alles in braunes Zwielicht getaucht.

Dieser nur provisorisch aus dem Felsen geschlagene Grotte entsprach nicht dem, was Miyako sich vorgestellt hatte, als sie sich als Hilfskrankenschwester für das »Okinawa Militärhospital« gemeldet hatte. Der Raum war Teil eines Komplexes natürlicher und künstlicher Höhlen. Es war geplant gewesen, sie im Innern miteinander zu verbinden, dann hätte die Luft zirkulieren können, aber die Zeit hatte nicht ausgereicht. Zu schnell waren die Amerikaner da gewesen und die Arbeiter wurden anderswo gebraucht, um Befestigungen auszuheben. So stand die Luft in der Höhle und es stank schon wenige Schritte vom Eingang entfernt unerträglich. Miyako atmete tief durch. Natürlich musste sie erst einmal husten.

»Daran wirst du dich gewöhnen, Kleine!« Miyako erschrak, als sie direkt neben sich einen Mann auf einer Liege erblickte. Er trug die Uniform der kaiserlichen Truppen und grinste sie frech durch seine Zahnlücken an.

Erschrocken wich sie zurück und trat dabei auf die Hand eines anderen Mannes, der zusammengesunken auf dem Boden saß.

»Pass doch auf«, rief er ärgerlich. Miyako entschuldigte sich sofort mit einer tiefen Verbeugung, doch der Mann sah demonstrativ weg. Um seine Stirn war ein Verband gewickelt, der eines seiner Augen bedeckte. Auch er trug die braune Uniform.

Der erste Soldat winkte ab: »Nimm den nicht ernst, Kleine. Sag mal, wo kommst du denn her?«

Miyako schlug die Augen nieder. Sie war es nicht gewöhnt, dass ein Mann sie ansprach – und dann noch in einem derart vertraulichen Ton. Mit fester Stimme antwortete sie: »Wir haben die Ehre, als Hilfskrankenschwestern von der Himeyuri Oberschule auszuhelfen.«

»Dachte ich mir, dass du so eine bist. Na dann: Willkommen, Lilienprinzessin.« Wieder lachte der Mann.

»Willkommen in der Hölle«, rief ein anderer Mann, den Miyako nicht sehen konnte, weil es zu dunkel war. Diesmal lachte niemand.

Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, verbeugte sie sich und hastete weiter. Überall lagen und saßen verwundete Soldaten, die meisten still, einige wimmerten vor sich hin. Vorsichtig und unter vielen Verbeugungen stieg sie über sie hinweg und bahnte sich ihren Weg nach hinten.

Obwohl hin und wieder eine Kerosinlampe an der Decke hing und schummriges Licht verbreitete, konnte sie kaum die Gesichter der Männer ausmachen. Sie spürte die Blicke auf sich ruhen und so mancher machte eine Bemerkung, von der sie genug verstand, um sie lieber zu überhören. Zwischen den Patienten sah sie andere Mädchen herumschleichen. Im Halbdunkel wirkten sie wie Geister.

Am Ende der Höhle war eine Sperrholztür in einen Seitengang eingepasst. Mit Kreide stand darauf geschrieben: »Chirurgie I«. Zögerlich klopfte Miyako. Als keine Antwort kam, klopfte sie nochmals, diesmal energischer.

Jemand riss von innen die Tür auf. Es war Schwester Suzuki. »Endlich! Wo hast du nur so lange gesteckt?«

»Ich - es gab einen Luftangriff und …«, stotterte Miyako, doch die Krankenschwester unterbrach sie gleich: »Hier, halt mal fest!« Ungeduldig winkte sie Miyako zu sich.

»Aber – meine Hände sind nicht desinfiziert!«

Die Schwester seufzte und zeigte stumm auf ein Becken mit Wasser und Seife. Schnell wusch Miyako ihre Hände und eilte an die Seite der Schwester.

»Komm schon. Drück das hier herunter.« Suzuki-san drückte auf den Oberschenkel eines jungen Soldaten, der auf dem Operationstisch lag. Ruhig sah der Soldat Miyako an.

Der Arzt verbeugte sich knapp vor dem Liegenden. »Es tut mir sehr leid, wir können nicht mehr Anästhetikum entbehren, als das, was ich Ihnen gegeben habe. Beißen Sie auf das hier.« Er gab dem Soldaten ein mit Stoff umwickeltes Holzstück. Dann holte er eine Säge und hob sie. Der Soldat schluckte und Tränen traten in seine Augen.

So gut sie konnte, hielt Miyako das Bein fest. Sie drückte es unterhalb der Stelle herunter, wo der Arzt sägte. Als sie bemerkte, dass der Soldat sie ansah, fühlte sie sich verpflichtet, nicht die Augen abzuwenden. Im Augenwinkel sah sie die Hin- und Herbewegung der Säge. Der junge Mann biss mit solcher Kraft auf das Holzstück, dass alle Sehnen an seinem Hals hervortraten.

Miyako wünschte ihm, dass er ohnmächtig würde, sie wünschte es ihm so sehr. Immer wieder schloss er seine Augen, doch dann öffnete er sie wieder. Tränen liefen über sein schmutziges, verschwitztes Gesicht. Miyako hielt seinem Blick stand. Wenn er das aushält, kann ich das auch, dachte sie. Noch nie hatte sie einem Mann so lange in die Augen gesehen und noch nie an dieser Stelle berührt. Wenn ein Mädchen aus der Oberschule erwischt worden wäre, wie sie mit einem jungen Mann auch nur sprach, wäre sie sofort von der Schule verwiesen worden.

Miyako dachte an das Vorjahr. Damals schien der Krieg noch fern zu sein und zeigte sich lediglich als Militär in den Straßen und als Siegesmeldungen im Radio. Die Zeitungen waren voll von Fotos jubelnder japanischer Soldaten, im Dschungel, auf Feldern, in Städten. Der Hi no Maru, die japanische Flagge, und der Kyokujitsuki, die Kriegsflagge mit den Sonnenstrahlen, wehten von Türmen, Palästen und Tempeln in weit entfernten Städten, deren Namen sie noch nie gehört hatte.

Wenn ein Kriegsschiff im Hafen oder vor der Küste lag, war das ein großes Ereignis und alle Jungen strömten zum Ufer, um es sich anzusehen. Familien machten dort Picknick und die Väter erklärten ihren Söhnen mit glänzenden Augen die Bewaffnung des Schiffs. Auch die Himeyuri-Schülerinnen hatten einmal im Hafen gestanden und ein Abschiedslied für ein auslaufendes Kriegsschiff gesungen. Das Schiff war über und über mit bunten Fahnen behängt gewesen und die Mädchen hatten den Seeleuten gewinkt, die an Deck standen.

Aber der Krieg, das war etwas, das weit weg passierte. Darum waren auch alle so überrascht, als letztes Jahr im Oktober auf einmal riesige amerikanische Bomber hoch am Himmel aufgetaucht waren und Naha und andere Städte verwüstet hatten.

Irgendwann spürte sie, dass das Bein sich gelöst hatte.

»Da hinein.« Die Schwester zeigte auf einen Metallcontainer in einer Ecke des Raums. Miyako nahm das Bein, wobei sie darauf achtete, dass der Soldat es nicht zu Gesicht bekam. Es war noch ganz warm und überraschend leicht. Konnte man einen Menschen auseinandernehmen wie eine Puppe? Ein schrecklicher Gedanke. Sie öffnete den Deckel der Kiste. Drinnen lagen unzählige Gliedmaßen und unförmige, nass glänzende Gedärme. Im Halbschatten wirkte es, als bewegten sich die Körperteile und die Hände sahen aus, als flehten sie um Hilfe. Miyako ließ erschrocken den Deckel los und er fiel mit einem lauten Knall zu. Der Arzt taxierte sie einen Moment, während die Krankenschwester die Wunde versorgte. Sicher wollte es sich vergewissern, ob die Schülerin Ärger machen würde. Miyako verbeugte sich entschuldigend. Nach wenigen Augenblicken wandte er sich ab. Schwester Suzuki tupfte seine Stirn mit einem Tuch ab.

Miyako stand eine Weile herum und überlegte, was sie tun sollte. Alles war ganz anders, als sie es sich während ihrer kurzen Ausbildung zur Hilfskrankenschwester vorgestellt hatte.

»Jetzt hier.« Schwester Suzuki deutete auf das andere Bein des jungen Soldaten. Miyakos Augen weiteten sich vor Schreck. Sie sollten ihm noch ein Bein abnehmen? Ruhig sah Suzuki-san sie an und wartete. Ihre Augen wirkten müde. War sie etwa die einzige Krankenschwester hier?

Miyako tat, wie ihr befohlen war, und drückte das Bein herunter, damit der Arzt es sauber durchsägen konnte. Der Soldat wand sich vor Schmerzen hin und her und biss so fest auf das Holzstück, dass es knirschte. Diesmal wagte sie nicht, den jungen Mann anzusehen. Welchen Trost hätte sie auch spenden können? Es war so schrecklich, wie man ihn auseinander sägte, ein Mensch war doch kein Baum. Machte das der Krieg mit den Menschen? Sie blickte zur Seite, damit niemand ihre Tränen sah.

Willkommen in der Hölle, dachte Miyako und schloss erschöpft ihre Augen.


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