Читать книгу Die Prinzessin der Lilien - M.P. Anderfeldt - Страница 11
Otohime in der Unterwelt
ОглавлениеOtohime bereute, dass sie Karage so rüde zurechtgewiesen hatte, aber sie hatte befürchtet, ihren Mut zu verlieren, wenn sie ihm noch länger zuhörte. Denn natürlich hatte er recht. Wie konnte sie glauben, dass sie bestehen würde, wo die Göttin Izanami, die gemeinsam mit ihrem Gatten Izanagi die Welt geschaffen hatte, gescheitert war? Seitdem war Izanami dazu verdammt, im Jenseits zu bleiben.
Aber Otohime musste es einfach versuchen, um ihren Vater zu retten. Sie konnte nicht zulassen, dass ein Drache im Korallenpalast hauste.
Und so begab sich Otohime zum Eingang von Yomi, der Unterwelt. Ein gewaltiger Felsen versperrte den Zugang, doch als sie daran klopfte, rollte er zur Seite und gab den Weg frei. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, trat sie in die dunkle Öffnung und der Stein rollte hinter ihr wieder zurück.
»Ich bin Prinzessin Toyotama, man nennt mich Otohime, das strahlende Juwel des Meeres. Ich bin die Tochter des Drachenkönigs Ryujin und wünsche, mit Izanami no Mikoto zu sprechen«, sprach sie mit fester Stimme.
Ein halb durchsichtiger Schatten schlich vorüber. Sie beachtete ihn nicht und drang weiter in die Höhle ein. Alles schien grau zu sein, die Wände, der Boden und selbst das trübe Licht.
Nach einer Weile erweiterte sich die Höhle zu einem größeren Raum. Auf dem Boden saßen, standen und lagen Hunderte Schattenwesen. Otohime versuchte, zwischen ihnen hindurchzugehen, doch immer wieder streckten sie ihre Arme aus und versuchten, die Prinzessin mit ihren kalten Fingern festzuhalten.
»Gib uns zu essen. Wir sind so hungrig.«, »Warum lässt du uns verhungern?« bettelten sie. Otohime bedauerte die freudlosen Kreaturen, vermied aber, mit ihnen zu sprechen. Einige der Wesen wurden gehässig: »Wo ist denn dein Glanz, strahlendes Juwel?« »Deine Hochnäsigkeit wird dir schon noch vergehen, Mädchen.« »Spürst du, wie du verblasst?«
Erschrocken sah Otohime an sich herunter. Die Schatten hatten recht. Ihr nachtblau schimmernder Kimono und ihr prächtiger roter Umhang wirkten grau und verwaschen. Verwandelte sie sich bereits in einen Schatten? Sie erinnerte sich an Izanami. Diese mächtige Göttin musste im Schattenreich bleiben, weil sie dort von der Speise der Toten gegessen hatte. Otohime hatte sich vorgenommen, sich nicht verunreinigen zu lassen.
»Ich bin Otohime, das strahlende Juwel des Meeres, geliebte Tochter des Drachenkönigs Ryujin, des Herrschers der See«, murmelte sie vor sich hin.
»Du meinst wohl, Tochter eines völlig verblödeten Drachen?«
Otohime fuhr herum, zornig funkelten ihre Augen. »Niemand spricht so mit mir. Wie kannst du es wagen?«, rief sie entrüstet. Einer der Schatten kam auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.
»Wer bist du?«
»Wir haben keine Namen. Und du wirst auch bald keinen mehr haben.« Jetzt, wo der Schatten so nah vor ihr stand, konnte sie fast durch ihn hindurchblicken.
»Ich habe einen Namen. Ich bin Otohime und ich verlange, dass man mich zu Izanami no Mikoto bringt.«
»Große Worte, kleines Mädchen. Erlaube mir, dass ich dich führe.« Beinahe galant verbeugte sich der Schatten und bot Otohime die Hand dar. Die aber war klug genug, ihn nicht zu berühren.
»Zeig mir einfach nur den Weg, namenloser Schatten.« Ohne es zu sehen, spürte sie den Ärger ihres Gegenübers, weil sie nicht auf seinen Trick hereingefallen war. Dennoch gehorchte er ihr und deutete in eine Richtung. Otohime verbeugte sich und sprach ihm ihren Dank aus.
Die Wände und die Decke der Höhle wichen zurück und Otohime fand sich in einer weiten Ebene. Braun war der Boden und grau die Luft. Kein Baum und kein Strauch wuchsen und die Felsen, die in bizarren Formen und allen Größen den Boden bedeckten, betonten die Eintönigkeit der sich endlos ausdehnenden Landschaft nur noch. Immer wieder näherten sich Schatten, vom Blut und der Wärme der Prinzessin angezogen und betrachteten sie aus leeren Augen.
Die Ebene schien endlos und Otohime sank der Mut.