Читать книгу Im Kerker der Kleopatra - N. Färusmonz - Страница 12

Zitrusfrüchte

Оглавление

Majestätisch schlängelt sich das satinblaue Band namens Nil durch die ausgedörrte Landschaft. In der gleißenden Mittagshitze flirren die Umrisse der Pyramiden von Gizeh, Zeugnisse vergangener Größe und Macht. Jetzt herrscht eine neue Dynastie über Ägypten, fernab der alten Hauptstädte Theben und Memphis.

In ihrem legendären, heute im Meer versunkenen Palast in Alexandria kämpfte Kleopatra um das Überleben ihres Reichs sowie um ihr eigenes. Das einzige, was sie vor einer Invasion schützte, war der römische Bürgerkrieg zwischen Cäsars selbsternannten Erben. Derselbe Cäsar, der ihr einen Sohn geschenkt hatte, lieferte den Römern einen Vorwand für ein Einrücken in Ägypten. Der Sieger im römischen Bruderkampf, welcher es auch sei, würde Cäsars Sohn nicht am Leben lassen, sobald Alexandria und somit ganz Ägypten gefallen waren. Dass Ägypten fiel, stand fest. Hätte nicht ohnehin einer von Kleopatras Vorgängern das Land den Römern testamentarisch vermacht, wäre es bereits jetzt zu einer von vielen Provinzen des Imperium Romanum degradiert worden. Es war die letzte noch nicht von Rom annektierte Macht am Mittelmeer. Kleopatras Beziehung zu Cäsar, die ihr den Thron gesichert hatte, wurde ihr nun zum Verhängnis. Sobald sich die Römer auf einen neuen Diktator geeinigt hätten, würden sie wie Heuschrecken über das Land der Katzen hereinbrechen. Ihr blieb nur eins: das Unvermeidliche so lange wie möglich hinauszuzögern und wie eine Königin zu sterben. Einen Ausweg gab es nicht.

»Gegen wen wollen Sie denn mit allen Mitteln kämpfen?«, fragte Miss Folder vergnügt. »Sparen Sie Ihre Kräfte lieber für das Training!«

Anthony schrak auf. Eben noch wähnte er sich im antiken Ägypten; jetzt sah er direkt in die entwaffnenden Glutaugen seiner wachhabenden Ärztin. Diesmal verrieten sie so etwas wie Milde.

»Was … wo … wer …?«, rief er.

»Ganz ruhig«, sagte Miss Folder. Sie drückte ihn mit einer Hand sanft in Liegeposition zurück.

Wieder diese Hand … Die Erinnerung an den Vortag stellte sich sofort ein. Er stöhnte.

»Nicht ich kämpfe, sondern Sie.«

Miss Folder hob ihre pechschwarzen Augenbrauen.

»Ich?«

Anthony ärgerte sich über seine eigene Verwirrung. »Nicht Sie direkt. Kleopatra kämpft gegen das Schicksal.«

»Nicht ich direkt?« Ihre linke Braue senkte sich, ihr Blick wurde fester.

»Ent…schuldigen Sie, ich bin etwas durcheinander. Eigentlich wollte ich erst später mit Ihnen darüber reden. Wieviel Uhr ist es?«

»Schon wieder eine Entschuldigung?« Ihre Augen blitzten auf. »Es ist 6 Uhr 30 morgens. Sie haben eine halbe Stunde zum Frühstücken und Waschen.«

Frühstück? Doch wohl nicht schon wieder Tofu! Ihm stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

Sie kicherte verstohlen. »Mögen Sie etwa keinen Toast? Es gibt sogar etwas bekömmlichen Kaffee.«

Toast, Kaffee? Das klang genießbar. Unweigerlich atmete er aus. Sie lachte laut und setzte ein Tablett auf den Beistelltisch. Während sie sein Kopfende hochfuhr, sprach sie heiter:

»Ich will, dass Sie gestärkt beim Training erscheinen.«

Ach so. Die heutige Folter kam erst noch. Ihm wurde die Henkersmahlzeit serviert. Alles andere hätte ihn auch gewundert. Jetzt erst fiel ihm ihr Dress auf. Sie trug ein knappes, sportliches Oberteil, Leggins und Turnschuhe. Um ihren nackten Hals hing eine Trillerpfeife. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz geknotet. Sie war scharf, scharf, scharf. Doch die Pfeife machte ihm Angst.

»Sie sind etwa …?«

»Ihr persönlicher Trainer«, vollendete sie seinen losgestammelten Satz. »Den ganzen Tag lang. Partenes hat mir eingeräumt, mich voll und ganz um Ihre körperliche Ertüchtigung zu kümmern. Der Gute meinte nur, ich solle Sie nicht allzu hart rannehmen. Das muss ich mir allerdings noch überlegen.«

Und Anthony hatte nur das Schlimmste befürchtet!

»Essen Sie. Sie wissen, was passiert, wenn Sie es nicht freiwillig tun«, erinnerte sie ihn.

Als er fertiggegessen hatte, befahl sie ihm, ganz langsam aufzustehen.

»Seien Sie unbesorgt. Es kann nichts passieren. Ich bin da.«

Er wusste nicht, ob er das komisch finden sollte. Andererseits wäre er gestern übel zu Boden gefallen, wenn Miss Folder nicht im rechten Moment bei ihm gewesen wäre.

»Oh, das habe ich ganz vergessen!«, rief sie plötzlich. »Der Katheter!«

Sofort wurde sich Anthony wieder des beschämenden Notbehelfs zwischen seinen Beinen gewahr. Mit einem Schlag wurde er krebsrot. Wenn sie ihn, noch dazu in dieser Aufmachung, da unten anfasste, würde das höchst peinlich. Ihre Reaktion wollte er sich unter keinen Umständen ausmalen. Schon streifte sie einen hauchdünnen Latexhandschuh über ihre Rechte.

»Kann ich das nicht selber tun?«, fragte er geistesgegenwärtig.

Sie hatte bereits ihre Hand nach seinem Hosenbund ausgestreckt, die auf halber Strecke innehielt. Miss Folder neigte den Kopf zur Seite.

»Haben Sie etwa Angst vor mir?«, erkundigte sie sich belustigt und lasziv zugleich.

»Ich, Angst? Nein!«

»Dann lassen Sie das Personal ran!«

Blitzschnell wanderte ihre Hand tief in seine Unterhose. Ehe er sie spüren konnte, ehe er in Schweiß ausbrechen konnte, war sie wieder draußen.

»War doch gar nicht so schlimm!«, triumphierte die Sadistin. Verschmitzt lächelnd wedelte sie mit dem Schlauch.

Anthony machte einen halben Salto rückwärts und schnappte nach Luft.

»Fallen Sie nicht von der Matratze!«, wurde er ermahnt.

Aber sie klang nicht ganz so streng wie sonst. Wer war diese Frau? Wer hatte sie als seine persönliche Erzieherin abkommandiert, damit sie ihn getreu dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche abrichtete? Da fiel ihm wieder ihr Satz ein: »Ich lasse mich von niemandem irgendwohin zitieren.« Nein, nein. Sie tat das alles aus purem Vergnügen. Hätte er seinen Sarkasmus von Anfang an unter Verschluss gehalten, wären ihm ihre Spielchen erspart geblieben.

»Soll ich Sie ins Badezimmer zerren, oder erheben Sie sich freiwillig aus dem Bett?«, holte sie ihn aus seiner Schockstarre.

»Ich gehe lieber selbst«, hauchte er.

Vorsichtig stand er auf.

»Sehr gut«, lobte sie seine diesmal sicheren Gehversuche. »Wie ich sehe, können wir schon heute mit dem Lauftraining beginnen. Ich dachte, ich müsste Sie noch schonen. Aber das können wir getrost vergessen.«

Im Badezimmer grummelte Anthony etwas Unverständliches vor sich hin, allerdings erst, nachdem er die Tür fest zugedrückt hatte. Wenigstens lag alles parat: eine verpackte Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Haarwaschmittel, Handtücher. Ein Hoch auf die Privatversicherung! Erstmals seit langem betrachtete er sich im Spiegel. Die Narbe unter seinem Haaransatz würde wohl ein bleibendes Andenken an die behandelnde Ärztin darstellen, auch wenn sie mit der Zeit gewiss kleiner werden würde. Er stieg in eine enge Duschkabine und ließ warmes Wasser auf sich einrieseln. Es tat unbeschreiblich gut. Seit zweieinhalb Tagen hatte er (fast) ohne Unterbrechung im Bett gelegen.

»Kleidung und Sportschuhe in Ihrer Größe finden Sie im Schrank. Ziehen Sie einen Jogginganzug an!«, hörte er sie von draußen rufen.

Im Moment interessierte ihn nur das warme Nass auf seiner Haut. Sie sollte ihm bloß gestohlen bleiben. Hier war er sicher. Schließlich würde sie nicht … Plötzlich beeilte er sich mit dem Duschen. Er streifte sich seine neue ›Sträflingskleidung‹ über und ging aus dem Bad. Miss Folder erwartete ihn mit sichtlicher Ungeduld.

»Da sind Sie ja endlich. Beinahe hätte ich nachgesehen, ob alles im Lot ist.«

Sie begutachtete ihn in seinem gelben Jogginganzug. Sie schüttelte das Haupt.

»Gelb steht Ihnen nicht«, urteilte sie.

Anthony war nicht in Stimmung für modische Ratschläge. Er trug das Teil doch nur ihretwegen.

»Muss ich jetzt einen Marathon laufen?«, fragte er spitz.

Abermals hatte er sich zu einem zynischen Ausrutscher verleiten lassen. Wohin würde ihn das bei dieser Frau noch führen?

»Nein«, fauchte sie prompt. »Zuerst gehen Sie schwimmen. Das wird Ihren Kreislauf in Schwung bringen. Danach wird Marathon gelaufen.«

Er schluckte.

»Ich habe aber keine Badehose dabei«, wandte er ein.

Honigsüß grinsend reichte sie ihm eine. »Die habe ich gestern für Sie gekauft.«

»Das wäre aber nicht nötig gewesen«, presste er durch die Zähne.

»Gern geschehen«, erwiderte sie mit blumiger Stimme, die sogleich in den Befehlston zurückfiel:

»Sie gehen jetzt mit mir in den Flur. Ich muss im Büro nur kurz den Bademeister anrufen, damit er eine Bahn für Sie freihält. Währenddessen warten Sie vor Ihrer Zimmertüre auf mich und halten Ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt.«

Er sah sie vollkommen entgeistert an.

»Warum soll ich denn die Hände hinter dem Rücken kreuzen?«

»Weil ich es so will. Und jetzt ab marsch!«

Sie wies ihm die Tür. Sein Verstand riet ihm, lieber zu gehorchen, obgleich sein Unterbewusstsein Alarm und sein Ego Widerspruch schrien. Aber er durfte es sich nicht vollends mit Miss Folder verderben. Er wollte sie unbedingt für seinen Film gewinnen.

Im Flur angelangt, stellte er sich tatsächlich vor seinem Zimmer auf. Auch verschränkte er die Arme hinter dem Rücken. Miss Folder trat einen Schritt zurück und musterte ihn von oben bis unten.

»So gefallen Sie mir«, verkündete sie – das scheußliche Gelb störte sie also nicht mehr. »Bin gleich wieder da. Sollten Sie die Hände nicht mehr hinter dem Rücken haben, lernen Sie mich kennen.«

Sie verschwand. Anthony war überrascht. Dann erst würde er sie kennenlernen? Wenn ihr bisheriges Verhalten also von Nachsicht zeugte, wollte er gar nicht darüber nachdenken, was diese Frau veranstaltete, wenn man sie »kennenlernte«. In diesem Fall in ihrer Nähe zu sein, wäre gewiss kein Zuckerschlecken, so anziehend sie auf eine andere Weise auch war, besonders wenn Wut in ihren Augen aufblitzte. Ein Schauder fuhr durch seinen gesamten Körper.

Das Publikum im Flur – humpelnde Patienten und selbsternannte Götter in Weiß – sah ihn recht befremdet an, wie er dastand, als hätte ihm jemand imaginäre Fesseln angelegt. Ein Grüppchen Krankenschwestern kicherte wild drauflos. Natürlich musste der Chefarzt die Station entlangstolzieren. Ihm blieb auch nichts erspart! Partenes bedachte ihn mit einem erstaunten Stirnrunzeln, unterließ aber einen Kommentar. Am liebsten wäre Anthony im Boden versunken.

Er schaute auf die flackernden Neonröhren unter der Decke, die vergilbte Tapete, den giftgrünen Teppich. Obwohl er nie zuvor im Hollywood Community Hospital gewesen war, sagte ihm die klinische Umgebung etwas: Grauen, Entsetzen, eine furchtbare und sorgsam weggesperrte Erinnerung. Nun kroch sie wieder aus ihrer Höhle. Erneut ließ er den Blick über den Flur schweifen. Ja, so ähnlich hatte es in jenem Krankenhaus ausgesehen, wo er vor eineinhalb Jahrzehnten mit seiner Ex gewesen war. Damals waren sie jung und sehr verliebt, aber verheiratet. Sie wollte unbedingt ein Kind. Er hatte ihr erklärt, nichts gegen die Zeugung zu haben. Nur der Rest bereite ihm Sorgen. Er fühlte sich noch nicht reif für so viel Verantwortung. Irgendwann wurde seine damalige Frau doch schwanger. Trotz seiner Bedenken kam eine Abtreibung für ihn ebenso wenig in Betracht wie für sie. Viel zu früh setzten die Wehen ein. Kurz darauf verloren sie ihr Kind. Er wird nie vergessen, wie sich seine Ex in Tränen auflöste. Verzweifelt hatte er versucht, sie zu trösten, ihr zu versichern, dass seine Trauer nicht geringer war als ihre. Das entsprach der Wahrheit. Seit er von ihrer Schwangerschaft wusste, wollte er das Kind. Bis zum Zerbrechen der Ehe dauerte es nicht lange. Fraglos hatte der Verlust ihres Babys dazu beigetragen. Aber beide trennte noch vieles andere. Sie fanden nicht mehr zueinander. Bald begegneten sie sich nur noch in Hass und Streit. Sein Zynismus verhärtete sich, ihre Unzufriedenheit wuchs. Begonnen hatte das Unglück in einer Klinik; ähnlich wie diese hier. Aber vermutlich war das Scheitern seiner Ehe bereits vorher gesät worden, an dem Tag, als sie sich das Jawort gaben. Sie gehörten einfach nicht zusammen. Nichtsdestoweniger nagte der Tod seines Kindes bis heute an ihm, so gut er es auch vermocht hatte, ihn aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Das war ihm mit einer Überdosis Sarkasmus gelungen. Außer seiner Karriere kam nichts mehr so nah an ihn heran wie jener Schmerz. Wenn er wieder heiraten würde – was völlig ausgeschlossen war – wüsste er freilich nicht, ob er ein Kind wollte. Eine neue Fehlgeburt könnte er kaum verkraften. Ihm blieb nichts als seine Arbeit. Nur ihretwegen spielte er das Spiel dieser tyrannischen Ärztin mit. Sie sollte seine Kleopatra werden, verdammt nochmal!

»Ich sehe, Sie haben meine Anweisung befolgt.«

Verblüfft hob er den Kopf. Kaum hatte er an Miss Folder gedacht, stand sie wieder vor ihm, fast so, als hätte er sie herzitiert. Aber das war laut ihrer eigenen Aussage unmöglich.

Zwanzig Minuten später zog Anthony, nur mit einer albern gestreiften Badehose bekleidet, in der klinikeigenen Schwimmhalle die ihm verordneten Bahnen. Miss Folder stand am Beckenrand und hielt ihren Block vor den Brustkorb geklemmt. Natürlich kommandierte sie ihn herum. Wenn er nicht so spurte, wie sie wollte, blies sie kräftig in die Trillerpfeife. Die gab einen derart schrillen Ton von sich, dass sich seine Anstrengungen ganz automatisch intensivierten. Brustschwimmen, Kraulen, Rückenlage und keine Pause. Doch irgendwann war er zu erschöpft. Keuchend hielt er sich am Beckenrand fest und spuckte gechlortes Wasser.

»Bitte, ich kann nicht mehr«, prustete er. »Ich brauche eine Pause. Haben Sie doch Gnade mit mir, Miss Folder. Bitte!«

Vom Beckenrand aus sah er zunächst nur ihre Füße vor sich. Er schaute zu ihr auf. Sie ging in die Hocke. Ihr Blick war ungewöhnlich milde, sie ließ sogar von der Pfeife ab. Ganz sanft redete sie zu ihm:

»Wenn Sie noch eine Bahn schwimmen, dürfen Sie mich Severine nennen. Wir machen dann auch eine Pause. Aber vorher noch eine Bahn, ja? Für mich!«

Was sollte das denn jetzt? Für sie: Severine? Er wollte gerade heftig mit dem Kopf schütteln, als ihn die volle Wucht ihrer leuchtenden Augen traf, die ihn eindringlich baten, noch einmal hundert Meter zu schwimmen. Dieser Blick war nicht zu beschreiben und nur an seiner Wirkung zu erfassen. Erbarmungslos schlug er Anthony in seinen Bann. Wen jene Augen einmal in solcher Weise angesehen hatten, der kam von ihnen nie wieder los. Der Versuch, sich ihrer hypnotischen Wirkung zu entziehen, hatte unweigerlich physische Schmerzen zur Folge.

Er atmete tief durch und machte einen neuen Satz ins Wasser. Tapfer kämpfte er sich Meter für Meter vor. Seine streng-zärtliche Trainerin begleitete ihn vom Beckenrand aus. Sie schien vor Freude hüpfen zu wollen, als er endlich ans andere Ende der Bahn gelangte.

»Sehr gut«, rief sie und klatschte in die Hände. »Ich heiße Severine.«

»Anthony«, keuchte er.

Beide konnten sich ein Lachen nicht verkneifen, auch wenn das seine ziemlich atemlos war. Sie legte ihren Block ab und reichte ihm eine Hand. So erklomm er schnell die aus dem Wasser führenden Metallstufen. Ihre Hand strömte diesmal pure Wärme aus. Verschwunden war jenes mysteriöse Brodeln, das automatisch Respekt einflößte. Beim Heraussteigen nahm er den Block und übergab ihn Severine, als er mit ihrer Hilfe wieder auf den Füßen stand.

»Vielen Dank. Wie ich sehe, kannst du galant sein, wenn du willst.«

»Und wie ich sehe«, entgegnete er ironisch, aber keineswegs verletzend, »kannst du sehr milde sein, wenn du willst.«

Severine machte die Augen schmal. Sie ließ seine Hand los. »Komm, wir gehen was essen.«

In der Schwimmhalle befand sich eine kleine Kantine. Dort saßen triefend nasse Gäste in Badekleidung, die sich an Eis oder leichten Kuchen ergötzten. Anthony frohlockte bereits. Endlich verschnaufen und etwas Süßes zum Futtern!

Sie stießen auf eine lange Schlange vor der Theke. Diese wurde von einer einzigen, sichtlich genervten Angestellten bedient.

»Was nimmst du?«, fragte Severine.

»Butterstreusel, einen starken Kaffee und vier Kugeln Vanilleeis.«

»Scherzkeks!«

Er konnte nichts tun. Sie bestimmte über sein Essen, seinen Tagesablauf, und nur sie verfügte über ein Portemonnaie. Er stand hinter ihr und hatte erstmals Gelegenheit, sie mehr oder weniger ungestört von hinten zu bewundern. Ihre eleganten Proportionen hatte er bereits mehrfach bestaunt, aber noch nicht ihren Hintern. Abermals stockte ihm der Atem. Wäre er doch bloß kein Frauenverächter! Für eine Zehntelsekunde spielte er mit einem unartigen Gedanken. Was würde wohl geschehen, wenn er diesen Wahnsinnshintern berührte? Wie er sie einschätzte, würde sie ihn an Ort und Stelle, vor all den Leuten übers Knie legen. Wenn er Pech hätte, fiele die Strafe weit härter aus. Im Grunde war seine Anwesenheit in der Schwimmhalle bereits Strafe für einen Fehltritt. Doch im Moment war die Lage gar nicht übel. Erst jetzt, da er hinter ihr weilte, bemerkte er, dass sie mindestens einen Zentimeter größer war als er. Ihr nachtschwarzer Pferdeschwanz hielt ihn auf Abstand. Sein Panoramablick schweifte auf ihren Po zurück. Das Berühren der Figuren mit den Pfoten ist verboten. Diese Lebensweisheit musste er im Geiste durchkauen, um der ständig brennender werdenden Versuchung zu widerstehen, immer wieder.

»Was nuschelst du da?«, wollte sie plötzlich wissen.

Er lief knallrot an. Zum Glück drehte sie sich nicht um. Anscheinend hatte er nicht nur im Geiste mit sich gesprochen. Severine und ihre verflixt guten Ohren!

»Äh … nichts. Alles in Ordnung«, antwortete er verlegen.

»Das hoffe ich für dich. Denn nachher geht’s aufs Laufband.«

Jetzt waren sie an der Reihe.

»Zwei Gläser frisch gepressten Orangensaft und eine Zitrone«, sagte Severine.

Er verdrehte die Augen. Natürlich konnte seine tyrannische Leibärztin nicht das bestellen, was er sich gewünscht hatte.

»Nimm das Tablett«, befahl sie. »Ich gehe zur Kasse.«

Während sich Severine seinem Gesichtskreis entzog, wartete Anthony, bis die Bedienung mit dem Schlafzimmerblick die vitaminverseuchte Bestellung über die Theke schob. Er positionierte alles auf ein Tablett und sah sich nach der Folder um. Sie saß bereits an einem freien Tisch und winkte ihn zu sich herüber. Weiterhin tropfend, steuerte er mit dem Tablett auf sie zu. Er legte es auf den hölzernen Cafétisch und setzte sich ihr gegenüber auf einen harten Stuhl.

»Gut gemacht!«, lobte sie ihn.

Anthony runzelte die Stirn. »Wieso habe ich bei dir ständig das Gefühl, auf irgendetwas abgerichtet zu werden?«

Sie tat so, als hätte sie wieder nichts mitbekommen. Sie zückte ein Schweizer Messer. Geschickt klappte sie es auf und halbierte die Zitrone. Anschließend hielt sie eines der beiden Stücke über ihr Glas. Ihre langen Finger pressten in die Frucht, deren Nektar in den Orangensaft fiel.

»Ich mag den Saft sauer«, erklärte sie.

Daher also die Zitrusfrucht zusätzlich zum Zitrusfruchtsaft!

»Kannst du das auch?«

»Was denn?«, erwiderte er verdutzt.

»Na das!« Sie legte ihm die andere Zitronenhälfte in die Hand.

Jetzt verstand er. Offenbar spielte sie auf seine vermaledeite Muskelschwäche an.

»Also hör mal«, protestierte Anthony, »so ein Waschlappen bin ich nun auch wieder nicht!«

Er hielt die Frucht über seinen Orangensaft.

»Nein«, wies sie ihn zurecht, »nicht bei dir, sondern bei mir.«

Sie ergriff seine Hand und führte sie über ihr Glas. Das war eine weitere ihrer kostbaren Berührungen …

»Drück zu!«

Verblüfft sah er in ihre fesselnden Augen und begann, in das Zitronenstück zu pressen. Langsam fielen die Tropfen in Severines Saft.

»Nicht schlecht!«, meinte sie. »Aber es geht noch besser.«

Jetzt drückte sie ihrerseits auf seine Hand. Sie packte ziemlich kräftig zu. Seine Finger wurden genötigt, die aggressiv saure Frucht völlig auszuquetschen. Die Komposition aus Severines sinnlich warmem, wenngleich hartem Griff sowie der ätzenden Zitronensäure, die seine Finger benetzte, ehe sie sich in Severines Glas ergoss, war verwirrend, überraschend, in jedem Fall aber erregend. Er wurde aus der eigenartig harmonierenden Mischung entgegengesetzter Gefühle einfach nicht schlau.

Erst nachdem die zweite Hälfte ausgelaugt war, ließ Severine Anthonys Hand los. Seine Finger standen in verkrampfter Haltung voneinander ab. Obwohl sie völlig entkräftet waren, schien es ihnen gutzugehen. Severines Wärme ruhte noch auf ihnen und vertrieb das Beißen des Zitronenmarks.

»Das war dein zweiter Krafttest«, verkündete sie.

Sie nahm ihr Glas Orangensaft mit dem zusätzlichen Nektar einer ganzen Zitrone, um es in einem Zug zu leeren.

Fassungslos starrte er sie an. »Ist das nicht viel zu sauer?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich’s so mag. Manche mögen, was andere verabscheuen«, entgegnete sie. »Jetzt trink deinen Orangensaft.«

»Kriege ich denn keine Zitrone?«, fragte er keck.

Freilich hatte er bei seinem Verlangen nach Süßem nichts weniger vor, als sich den Orangensaft noch abstoßender zu machen. Aber er wollte Severine aus ihrer rätselhaften Reserve locken. Doch anstatt über den Grund ihrer seltsam melancholischen Stimmung zu berichten, schien sie ernsthaft zu grübeln.

»Ich weiß nicht, ob du es verträgst«, murmelte sie.

Anthony und sein Ego schnappten nach Luft.

»Soviel ich weiß, leidet mein Magen an keiner Muskelschwäche.«

»Dein Magen ist auch ein Muskel«, belehrte ihn die Ärztin. »Aber in einem Punkt hast du recht: Mit deiner Verdauung ist alles in Ordnung. Andernfalls hättest du längst Essstörungen feststellen müssen. Oder hast du welche?«

»Nein.«

»Hätte mich bei deinem Appetit auch gewundert, wenngleich er bei Tofuwürfeln etwas unterentwickelt ist.«

Sie schmunzelte. Er schürzte die Lippen.

»Trotzdem weiß ich nicht, ob es etwas für dich ist, obwohl ich zu gerne wüsste …«, sinnierte Severine.

»Was ist nichts für mich?«, beharrte Anthony ungeduldig; »die Zitrone?«

»Ach nichts.«

Plötzlich sprang sie auf, huschte zum Ausschank und kehrte kurz darauf mit einer weiteren Zitrone zurück. Er hatte kaum Zeit, ihr hinterherzugucken. Schon saß sie wieder auf ihrem Platz. Sie zerteilte die Frucht wie die erste und biss direkt in eine Hälfte hinein. Anthony schüttelte sich.

»Zitrone schmeckt«, dozierte Severine. »Nur darf der Genuss ein gewisses Maß nicht überschreiten. Sonst wird er ungesund.«

Was sie nicht sagte! Wie konnte sie nur nach einem Glas nahezu purer Säure in eine rohe Zitrone beißen? Warum nicht gleich mexikanische Peperoni oder rumänischer Knoblauch?

»Trink!«, drängte sie ihn.

Widerwillig nippte Anthony an seinem Orangensaft. Sofort verzog er das Gesicht. Allein die Orangen waren viel zu sauer! Sie sah ihn mit unergründlichem Blick an.

»Probier doch mal!«

Sie zeigte auf die letzte Zitronenhälfte. Gehorsam streckte er die Hand nach der widerlichen Frucht aus. Severines Blick verfolgte jede seiner Regungen.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sprach sie milde.

Das war ja ganz neu. Erleichtert ließ er von dem Stück ab. Severine wirkte auf einmal traurig, was sich auf sein Gemüt übertrug. Er seufzte betrübt.

»Was bekümmert dich?«, wollte sie erfahren.

Er versuchte, dem Thema auszuweichen:

»Ach, es ist lange her.«

»Dann erzähl mir davon.«

»Ist das ein Befehl oder habe ich eine Wahl?«

Sie lächelte schwach. »Du darfst wählen.«

Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, mit ihr zu reden. Also berichtete er:

»Vor vielen Jahren habe ich mein einziges Kind verloren. Es war eine Totgeburt.«

»Oh!«

»Meine damalige Frau wurde damit noch weniger fertig als ich.«

»Du warst verheiratet?«

»Ja.«

»Hast du wieder geheiratet?«

»Nein. Daran wird sich bis zu meinem Lebensende auch nichts mehr ändern.«

Anthony blickte aus der Glasfassade nach draußen. Dort sah er nur das Grau der Stadt. Er wollte keine Trübsal blasen und wandte sich wieder Severine zu.

»Hast du Kinder?«

»Nein«, stieß sie niedergeschlagen hervor.

Plötzlich war das Kastanienbraun ihrer wunderschönen Augen fahl geworden. Tränen sammelten sich in ihnen und kullerten langsam ihre Wangen hinunter. Die Souveränität in Person weinte. Der Anblick war derart verstörend, dass Anthony nicht anders konnte, als ihre Trauer zu teilen.

»Was ist? Habe ich wieder etwas Falsches gesagt?«

»Ich habe nie Kinder bekommen, obwohl ich sie mir so sehr wünsche«, schluchzte sie. »Früh wurde herausgefunden, dass bei mir ein Kaiserschnitt vonnöten wäre. Diese Aussicht hat mich als junge Frau in Angst und Schrecken versetzt. Die Vorstellung, mir bei der Entbindung den Bauch aufschneiden lassen zu müssen, war der blanke Horror. Auch hatte ich Angst, den Eingriff womöglich nicht zu überleben. Heute weiß ich, wie unbegründet diese Sorge war, aber damals ließ sie mich nicht los. Also habe ich …« Sie stockte. Ganze Bäche flossen nun über ihre seidig weißen Wangen. »Also habe ich mich vor Jahren sterilisieren lassen. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen, doch das geht nicht. Nun bin ich dazu verdammt, ewig kinderlos zu bleiben!«

Wie seltsam sich ihre Stimme beim Weinen anhörte!

»Du bist nicht verdammt«, widersprach Anthony energisch. »Nicht ein so bezauberndes Geschöpf wie du!«

Die zaghafte Andeutung eines Lächelns mogelte sich auf ihre Lippen.

»Du hast ja keine Ahnung!«, knurrte sie.

Verzweifelt versuchte Anthony, ihre Laune zu heben. Severine war doch eben erst sehr fröhlich gewesen.

»Kannst du denn keine Kinder adoptieren?«

»Daran habe ich längst gedacht. Aber aufgrund meines … Lebensstils wird mir keine Adoption gewährt.«

»Ach was! Eine selbstbewusste Frau, die als Ärztin sicher gut verdient, wird doch wohl ein Kind adoptieren dürfen.«

»Nein!«, entgegnete sie heftig. »Erstens lebe ich allein. Das sieht die Adoptionsbehörde gar nicht gerne. Zweitens ist da, wie erwähnt, mein Lebensstil, den ich nicht aufgeben kann. Er ist ein Teil von mir. Ich kann und will ihn nicht verleugnen.«

Was sollte das bloß bedeuten? Das Bild der weinenden Severine zerriss ihm das Herz. Ohne darüber nachzudenken, wischte er ihr mit dem Daumen eine Träne von der Schläfe. Bevor er verstand, was los war, hatten sich fünf lange Finger in sein Handgelenk gekrallt und hielten es im Würgegriff.

»Was machst du da?«, fragte sie erbost.

Ihre Augenfarbe war ins Rötliche gewechselt.

»Dich … trösten?«, stammelte er völlig perplex. »Du tust mir weh.«

Sie gab sein Handgelenk frei.

»Fass – mich – nie – wieder – an! Kapiert?«

Verdattert zog er seine Hand zurück. Eigentlich war er doch derjenige mit der Berührungsphobie. Auf die Verblüffung folgte sehr schnell kalte Wut.

»So so, du darfst mir in den Schritt greifen, und ich darf dir nicht mal eine Träne abtrocknen!«, schrie er quer durch die Cafeteria.

Sämtliche Gäste an den Nachbartischen wandten sich um. Da stieg sogar Severine die Schamesröte ins Gesicht.

»Komm, wir gehen«, beschloss sie, stand auf, packte Anthony am Arm und zerrte ihn durch die Schwimmhalle.

»Da haben wir’s schon wieder«, zeterte er, »du darfst mich berühren, ich dich aber nicht.«

»Sei leise«, herrschte sie ihn an. »Ich erkläre es dir später«, fügte sie ruhiger hinzu. »Wir müssen erst weg hier.«

Sie scheuchte ihn zu den Umkleidekabinen. Kurz darauf saßen sie beide auf einer Bank in dem kleinen Park vor dem Hospital. Ein frischer Februarwind blies ihnen entgegen. Seine Haare waren noch durchnässt.

»Hoffentlich erkältest du dich nicht«, meinte sie besorgt.

»Ich kenne da eine Ärztin, die sich meiner gewiss annehmen würde«, giftete er.

Sie konnte darüber sogar lachen. Allzu schnell wurde sie wieder ernst:

»Es tut mir leid. Ich hätte dich vorwarnen müssen. Meine engeren Bekannten wissen alle, wie ich drauf bin, mehr oder weniger. Du hingegen konntest es nicht wissen.«

»Ein wenig schon«, räusperte er sich.

»Du kannst einen so netten Humor haben, wenn du nicht sarkastisch bist«, sagte sie sanft.

Das war ja schon wieder ein Lob aus ihrem Munde!

»Danke. Aber wovor genau hättest du mich warnen sollen? Dass du dich nicht gerne anfassen lässt, genau wie ich?« – außer von ihr. Doch diese Erkenntnis konnte er sich noch nicht ganz eingestehen.

»Mit Anfassen oder nicht hat es in meinem Fall eigentlich weniger zu tun.« Severine schien ihre Worte genauestens abzuwägen. »Es geht mir eher um gewisse Positionen, die klar abgesteckt sein müssen.«

»Positionen?!«, echote Anthony ungläubig.

Wo ihr die Worte nicht halfen, musste ihr Blick sie retten. Abermals sah sie ihm tief in die Augen.

»Bitte, bestehe nicht auf einer weiteren Erläuterung«, las er aus ihnen heraus.

Jedenfalls entfaltete die Magie von Severines Augen zuverlässig ihre Wirkung. Er konnte nicht anders, als zu hauchen:

»Es geht mich nichts an. Vielleicht liegt es auch nur an den Zitronen.«

Sie ließ ihn mit ihrem Blick los und guckte verlegen zu Boden.

»Das ist so falsch nicht.«

Eine kühle Brise trocknete Severine die immer noch feuchten Wangen. Fröhlichkeit indes vermochte ihr der Wind nicht zu spenden. Dafür war er zu kalt.

Sie saßen beide nebeneinander und ließen sich von der ungestüm rauschenden Luft umwehen. Wenigstens war bald Frühling, auch wenn noch nichts darauf hindeutete. Anthony nutzte die momentane Funkstille für eine durchaus berechtigte Frage:

»Weswegen darf ich dich plötzlich Severine nennen?«

Anstatt zu antworten, sprang sie auf und rief:

»Die Pause ist beendet.«

Das hatte er nun von seiner Neugierde!

Völlig ausgelaugt fiel er an jenem Abend ins Bett. Am Nachmittag hatte ihn Miss Folder, jetzt Severine für ihn, stundenlang über ein Laufband gehetzt. Nach dem peinlichen Vorfall in der Cafeteria und dem alles andere als befriedigendem Gespräch im Park hatte sie wieder ganz die Sadistin herausgekehrt. Nun lag er platt darnieder und starrte an die Zimmerdecke. Die ganze Zeit hatte er keine Gelegenheit gefunden, mit ihr über die Kleopatra-Rolle zu sprechen. Spätestens nach dem heutigen Tag wusste er, dass sich das noch schwieriger gestalten würde, als er ohnehin angenommen hatte. Obendrein war da noch der Stich, den ihm der Anblick der weinenden Severine ins Herz versetzte. Anthony war verwirrt. Er durfte, konnte und wollte sich nicht verlieben. Eine Beziehung strebte er schon lange nicht mehr an. Er glaubte alles zu kennen: die irrationalen Anfänge, die ersten Ermüdungserscheinungen im Alltag und schließlich das lange Dahinsiechen bis zum erlösenden Bruch. Etwas anderes, geschweige denn etwas ganz Neues erwartete er nicht von einer weiteren Liaison. Außerdem plagten ihn ganz andere Sorgen. Sein neuer Film musste einfach ein Erfolg werden. Wenn er doch nur wüsste, wie er an Severine herankommen, sie für die Rolle gewinnen könnte! Plötzlich hatte er eine Idee. In dem Büro auf seinem Stockwerk war wahrscheinlich eine Personalakte von ihr zu finden. Wüsste er zumindest, wo sie wohnte oder ob sie Verwandte hatte, wäre ihm schon geholfen. Er könnte sie ein wenig besser einschätzen. Für jede noch so kleine Information wäre er sehr dankbar. Vielleicht ruhte in Severines Akte der Schlüssel zu ihrem seltsamen Verhalten. Zwar ging ihn das nichts an, wie er selbst eingeräumt hatte, aber er musste einfach so viel wie möglich über sie herausfinden. Die Überwindung, die es ihm kostete, seinen erschöpften Körper aus dem Bett zu hieven, war ihm ein Versuch allemal wert.

Langsam erhob er sich. Mit dem Laufen hatte er ja keine Probleme mehr. Was schmerzte, war sein Muskelkater. Vorsichtig schritt er zur Zimmertür. Er lugte in den Flur, schaute nach links und nach rechts. Niemand war zu sehen. Es war schon spät. Gewiss schliefen die meisten Patienten. Nur jede zweite Neonleuchte war jetzt noch in Betrieb. Von irgendwoher war lautes Stöhnen zu hören. Wohin sollte er gehen? Er entschied sich kurz entschlossen für eine Richtung und guckte, wohin sie führte. So wandelte er wie ein Gespenst durch den Krankenhausflur an unzähligen Zimmern vorbei. Aus einigen waren Piepsgeräusche zu vernehmen, aus anderen Schnarchen oder ungesundes Röcheln. Plötzlich erschien eine Pflegerin – ausgerechnet Miss Fields – im Korridor. Sogleich floh Anthony ins nächste Zimmer. Dort sah ein alter Herr im Krankenbett fern. Er verfolgte das Programm derart gebannt, als hinge sein Leben davon ab.

»Was machen Sie denn hier? Sind Sie ein Dieb?«, fragte der Greis, nachdem er sich von der Mattscheibe hatte abwenden können.

»Nein, ich verstecke mich nur vor der Schwester. Bitte verpfeifen Sie mich nicht, ja?«, flüsterte Anthony.

Der Mann runzelte seine ohnehin faltenreiche Stirn.

»Es ist verboten, um diese Uhrzeit durchs Haus zu schleichen. Vielleicht sollte ich klingeln.«

»Nein, bitte nicht. Ich bin auch gleich wieder weg«, beschwor Anthony den Alten und spähte vorsichtig in den Flur.

Miss Fields hatte sich inzwischen verzogen.

»Also gut«, meinte der Greis. Er konzentrierte sich wieder auf den Fernseher. »Diebe sind nicht so ängstlich wie Sie und tragen keinen Schlafanzug. Aber lassen Sie sich nicht von der Stationsärztin erwischen, die ist ziemlich streng.«

Er zwinkerte dem Senior dankbar zu und trat in den Flur zurück. Das war knapp! Endlich stieß er auf eine Informationstafel. Dort stand alles Mögliche: Radiologie, Aufenthaltsraum, Gerätekammer und so weiter. Außerdem war da etwas von einem »Personalbüro« zu lesen. Er hatte Glück. Unter dieser Rubrik waren mehrere Namen aufgelistet, auch eine gewisse Severine Folder. Das Büro trug die Raumnummer 7. Er sah sich um. Er stand zwischen den Zimmern 30 und 31. Also musste er den Flur in die andere Richtung abgehen. Er tastete sich vor und landete schließlich bei Raum 7:

ETAGE 2

PERSONALBÜRO

ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN

Nun, er behauptete nicht, dass sein Vorgehen legal wäre. Seine größte Sorge war, dass der Raum abgeschlossen sein könnte. Von drinnen kamen keine Laute. Das war schon einmal von Vorteil. Er fasste an den Knauf, drehte an ihm … Es war offen! Bei einem vielgenutzten Büro ist ein solches Versäumnis nicht verwunderlich. Schnell trat Anthony ein und schloss die Türe. Nach einer Weile des Umherirrens fand er einen Lichtschalter, woraufhin sich das Zimmer grell erleuchtete. Es beherbergte einen Kühlschrank, eine Spüle, eine Kaffeemaschine, außerdem jede Menge Schränke mit zahllosen Schubläden. Wo sollte er mit der Suche anfangen? Er trat an die Schubläden heran. Seine heimliche Freude kannte keine Grenzen mehr, als er deren penible Beschriftung entdeckte. Auf einem Aufkleber stand: »Personal: A-G«. Mit zittrigen Fingern öffnete er das Fach. Es gab eine wohlgeordnete Reihe von gelblichen Kladden frei. »Farnsworth« – nein; »Fields« – bloß nicht! »Folder«. Bingo! Hastig zog er die Mappe heraus.

Severine Folder

Arbeitstitel: Stationsärztin

Familienstand: ledig

Geboren: 17.1.1983

Wohnort: 6762 Fountain Avenue, Los Angeles

Anstellung seit: 27.3.2009

Eltern: Henry Folder, Joyce Folder (beide verstorben: 1999, Autounfall)

Sonstige Verwandte: keine

Einträge wegen inkorrekter Arbeit: keine (letzter Stand: 3.2.2011)

Anthony rieb sich das Kinn. Wenigstens wusste er jetzt ihren Wohnort, so dass er sie weiter bearbeiten konnte, falls sie bis zu seiner Entlassung nicht in die Rolle einwilligen sollte. Der frühe Verlust ihrer Eltern und das komplette Fehlen einer Familie waren vermutlich traurig für sie, besonders in Verbindung mit ihrer Kinderlosigkeit. Viel schlauer war er jetzt aber nicht. Lediglich bestätigte ihm die Todesart von Severines einzigen Verwandten noch einmal, welches Glück er gehabt hatte. Nachdenklich strich er über das Blatt und ging im Raum umher. Irgendwann wandte er den Blick von der Mappe ab, in Gedanken unvermindert mit Severine beschäftigt. Als er sich auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten umschaute, wurde er jäh aus seinen Überlegungen gerissen. Vor Schreck ließ er ihre Personalakte fallen.

Sie lehnte mit auf der Brust verschränkten Armen gegen den Türrahmen und fixierte ihn mit finsterem Blick. Er würde Ärger kriegen, großen Ärger.

»Hast du gefunden, wonach du suchst?«

Sie klang verwirrend ruhig. Nichtsdestotrotz war er unfähig, auch nur einen Pieps von sich zu geben. Langsam schritt Severine auf ihn zu. Dann hob sie ihre Papiere auf. Ihn sachte beiseite drängend, legte sie ihre Akte in die Schublade, die sie sogleich zuschob. Schließlich widmete sie sich wieder dem erstarrten Anthony:

»Du hast heute wohl nicht genug Bewegung bekommen. Andernfalls wüsste ich nicht, weshalb du zu dieser Stunde noch unterwegs bist. Vielleicht sollte ich dein Trainingsprogramm etwas verfeinern.«

»Was machst du denn hier? Du hast doch jetzt frei«, stammelte er.

»Ich wollte mich vergewissern, ob mit dir nach dem anstrengenden Tag alles in Ordnung ist. Wie ich sehe, geht es dir ein wenig zu gut.«

Er verstummte. Was hatte sie nun mit ihm vor? Wie so oft war ihre Miene nicht zu deuten. Jedenfalls erreichte das Lodern in ihren Augen eine neue Dimension. Fast schien es ihm, als ob sie sich darüber freute, ihn bei einer solchen Verlegenheit ertappt zu haben. Sie formte die Lippen zu einem kaum merklichen Lächeln.

»Da du schon einmal hier bist, kannst du mir auch behilflich sein«, sprach sie.

Behilflich?

»Öffne doch bitte den weißen Schrank hinter dir.«

Er gehorchte dem auffallend freundlichen Befehl und fand einen Stapel ominöser Stoffbänder vor.

»Da sind aber nur Bandagen.«

Severine schmunzelte. »Dann gib sie mir.«

Er nahm den Stapel aus dem Schrank und registrierte, dass das Verbandszeug gelocht war. Jedes Loch besaß einen Metallrand. Völlig verblüfft hielt Anthony die vermeintlichen Bandagen in Händen. Es waren Fixiergurte! Ihm wich sämtliches Blut aus den Adern. Er presste die Fesseln gegen seinen Rumpf und weigerte sich, sie herauszurücken.

»Bitte tu das nicht! Ich wollte doch nur etwas finden, womit ich dich überreden könnte, in meinem Film mitzuspielen. Bitte sei meine Kleopatra, aber binde mich nicht fest. Ich habe heute schon genug Stress erlebt.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Du ahnst gar nicht, wie entspannend so eine Fixierung ans Bett sein kann.«

Er versuchte sich an einem flehenden Blick, der restlos in ihren flammenden Augen verpuffte. Diese glühten dadurch im Gegenteil nur noch heißer.

»Bitte nicht!«, hauchte er.

Wie zum Trost legte sie ihm ihre rechte Hand auf eine Wange, die über die zärtliche Berührung jubelte.

»Sieh mal«, entgegnete Severine butterweich, »ich bin doppelt verpflichtet, dich ans Bett zu fesseln. Erstens schreibt die Hausordnung vor, die Patienten vor Verletzungen zu schützen. Also muss für eine gesicherte Nachtruhe gesorgt werden. Zweitens habe ich dir gestern angekündigt, dass ich dich fixiere, wenn ich dich noch einmal unerlaubt außerhalb deines Betts vorfinde. Ich muss es tun. Mir sind die Hände gebunden.«

Sie kicherte. Erstmals erfuhr Anthony, wie schmerzhaft Sarkasmus sein kann.

»Bitte nicht!«, probierte er es erneut.

Sie strich mit der Handfläche über seine Wange, die sich wie von selbst in sie hineinschmiegte. Eine derart sinnliche Berührung hatte er in seinem gesamten Leben noch nicht verspürt. Gleichzeitig wusste er, dass ebendiese Hand ihn ans Bett fesseln wollte. Welch verstörendes Spiel mit seinen Gefühlen!

Severine schenkte ihm einen offen mitleidigen Blick. »Es tut gar nicht weh. Die Fesseln sind sehr weich, ich ziehe sie auch nicht zu fest zu. Angst ist völlig überflüssig.«

Sie trat ganz nah an ihn heran und raunte in sein Ohr:

»Fühl doch mal, wie weich sie sind.«

Sie griff nach seiner Hand, um sie über den Stoff gleiten zu lassen. Die Fixiergurte fühlten sich in der Tat nicht übel an, aber es waren und blieben Fesselwerkzeuge. Anthony stöhnte, sah indes ein, dass er Severine nicht von ihrem Vorhaben abbringen konnte. Hatte er vielleicht eine Chance zu fliehen? Abgesehen davon, dass sie genau zwischen ihm und der rettenden Türöffnung stand, war sie stärker als er. Sie brauchte ihn nur am Arm zu festzuhalten, und die Flucht wäre beendet, ehe sie begonnen hätte. Aber vielleicht war er schneller als sie? Doch auch in diesem Fall müsste er zunächst an ihr vorbei.

Severines Rechte wanderte quer über sein Gesicht bis zur Stirn. »Woran denkst du gerade?«

Der seidige Klang ihrer Stimme ließ gar nichts anderes als die Wahrheit zu:

»An Flucht.«

Wieder kicherte sie. »Wenn du wüsstest, wie viel interessanter du das Ganze damit für mich gestalten würdest …«

Genau das hatte er befürchtet.

»Aber es ist schon spät«, seufzte sie. »Du musst morgen frühzeitig aus den Federn. Also gehst du jetzt anstandslos mit mir auf dein Zimmer, legst dich wieder ins Bett, lässt dich von mir festbinden und schließt die Augen. Morgen ist ein neuer Tag.«

»Severine«, stotterte er, ohne jede Vorstellung, was er außer Jammern und Flehen gegen diese Wand von Entschlossenheit noch aufbieten konnte. Aber dazu rang er sich doch nicht durch.

»Letzte Chance, Anthony«, warnte sie ihn. »Entweder gehst du freiwillig ins Bett, oder ich werde dich dazu zwingen. Ich versichere dir, dass letzteres mit Unannehmlichkeiten zu tun hat, die du nicht möchtest.«

Er kapitulierte.

»Na schön, ich komme mit.«

»Dann gib mir die Gurte«, befahl sie.

Immer noch zögernd überließ er ihr seine Fesseln.

»Warum nicht gleich so? Dir nach.«

Ohne Anstalten eines Fluchtversuchs ging er voraus in den Flur und ließ sich in sein Zimmer zurückdirigieren. Dort fragte ihn Severine, ob er noch einmal ins Badezimmer müsse. Er schüttelte den Kopf. Er wollte sich vor Erschöpfung nur noch hinlegen.

»Warte, ich muss sie erst auslegen.«

In komplizierter Weise breitete sie die Gurte auf der Matratze aus. Sie tat das mit einem Geschick und einer Schnelligkeit, die ihm trotz seiner bizarren Situation Bewunderung abverlangten.

»Jetzt darfst du dich hinlegen«, verkündete sie.

Er trat vor das Bettgestell. Ein Schauer durchfuhr ihn. Das »Dürfen« konnte nur ein Witz sein. Andererseits wollte er nichts lieber als in die Waagerechte gehen. Doch dafür musste er die Fixierung in Kauf nehmen. Unschlüssig wandte er sich erneut nach Severine. Sie machte ihm mit einem Nicken Mut. Ergeben legte er sich nieder. Sofort beugte sie sich über ihn. Sie packte seine Arme, positionierte sie auf seinen Bauch und band sie mit zwei Gurten zusammen. Einen weiteren Gurt legte sie ihm über die Hüften. Auch ihn zurrte sie stramm. Sie führte zwei zusätzliche Bänder links und rechts über seine Schultern, dann zwischen den Beinen hindurch. Ferner verknüpfte sie die Gurte mit dem Kopf- sowie dem Seitengestänge. Schließlich befestigte sie seine Füße an der unteren Bettstange. Als Schlösser dienten ihr eine Art Bolzen. Er konnte sich keinen Millimeter mehr rühren.

»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sie sich.

»Ein wenig eingeschränkt«, murrte er.

»Ein wenig?«, rief sie erstaunt. »Muss ich vielleicht noch weitere Bänder holen?«

»Nein, nein. Ist schon gut; ich kann mich nicht bewegen«, beeilte er sich zu erklären.

Honigsüß lächelte sie. Ihr Blick wurde satt und zeugte ganz offensichtlich von Glück. Der Kontrast zu der schluchzenden Severine in der Cafeteria konnte größer kaum sein.

»Alles andere hätte mich auch sehr gewundert.« Dann wurde ihr Ton etwas ernster: »Ist alles gut? Drückt nichts? Kann ich dich so alleine lassen?«

Wie sie versprochen hatte, lagen die Fesseln weich auf seiner Haut. Sie waren sogar ganz angenehm. Severine hatte sie ihm exakt so angelegt, dass die Fixierung den größtmöglichen Effekt bei größtmöglichem Komfort gewährleistete. Es war bei weitem nicht so schrecklich wie befürchtet. Offenbar verstand sie sich im Fesseln. Das gehörte gewiss zu ihrer Ärzteausbildung.

»Alles so weit prima, du kannst mich hier beruhigt zurücklassen«, antwortete Anthony mäßig begeistert, aber ehrlich.

Ganz kurz schien ihr Gesicht noch heller aufzuleuchten. Für den Bruchteil einer Sekunde vibrierte ihr Körper. Obwohl es ganz schnell ging, war er sich sicher, dass sie etwas freudig durchzuckt hatte. Aber was sollte das gewesen sein? Sie deckte ihn zu. Mit einem breiten Grinsen sagte sie:

»Ich wünsche dir einen festen Schlaf.«

»Besten Dank«, erwiderte Anthony kurz angebunden.

Sie wandte sich zum Gehen.

»Severine«, rief er ihr nach.

»Ja?«

»Spiel für mich die Kleopatra. BITTE!«

»Gute Nacht.«

Sie schaltete das Licht aus und überließ ihn für die nächsten Stunden seinem Schicksal.

Im Kerker der Kleopatra

Подняться наверх