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Italienische Freiheiten

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Als wir bei der Europameisterschaft 1997 das Finale gegen Italien gewonnen hatten, kam die damalige italienische Nationalstürmerin Carolina Morace nach dem Spiel auf mich zu. Ich stutzte, denn Carolina war bei dieser EM der Star des italienischen Teams, sie war eine von drei Torschützenköniginnen des Turniers und ich nur ein Grünschnabel auf der Bank. »Sag mal, du bist doch nicht nur deutsch, oder?«, fragte Carolina und musterte mich. »Nee, ich habe einen italienischen Vater«, antwortete ich, woraufhin sie überrascht die Augenbrauen hochzog. »Hast du jemals überlegt, für Italien zu spielen?«, legte sie nach. Sie konnte nicht wissen, dass ich zu dem Zeitpunkt mit 19 bereits meine ersten Länderspiele für die deutsche A-Elf hinter mir hatte. So kam ich erst gar nicht in die Situation, mir Gedanken machen zu müssen, aber ein paarmal ging mir das Gespräch mit ihr schon durch den Kopf. Nicht ernsthaft, aber so als Gedankenblitz, denn ich war immer wieder mal gefrustet von meiner Situation, in der Nationalelf meist nur auf der Bank sitzen zu müssen und nicht spielen zu dürfen. Aber ich bin wirklich froh, dass ich für Deutschland spielen durfte und darf. Denn die Karriere, die ich dadurch erleben durfte, und die Erfolge, die wir feiern konnten, sind unersetzlich und bedeuten mir sehr viel. Und mit Italien verbindet mich außer meiner Verwandtschaft auch nicht wirklich viel.

Ich sehe meine Familie heute ohnehin seltener, als mir lieb ist, ich schaffe es zeitlich einfach nicht durch die vielen Reisen. Als ich noch ein Kind war, sind wir regelmäßig in die Heimat meines Vaters in den Urlaub gefahren, vor allem im Winter. Nals liegt in der Nähe mehrerer Skigebiete, und als ich zweieinhalb Jahre alt war, stand ich auch schon auf den Skiern. Es macht mir heute noch Spaß, Berge abzufahren, und ich kann es auch ganz gut – früher bin ich im Skiurlaub regelmäßig Rennen gefahren. In Welschnofen bei Bozen hatten gute Freunde meiner Eltern ein Hotel, wo wir unsere Urlaube verbracht haben – und direkt gegenüber war der Skilift. Damit ich früh am Morgen schon alleine den Hang hochfahren konnte, wenn meine Eltern noch geschlafen oder gefrühstückt haben, montierte mir der Liftjunge extra einen speziellen Kinderbügel in den Lift, wenn ich mit meinen Skiern auftauchte. Dass ich mit meinen vier, fünf Jahren alleine unterwegs war, wunderte die Menschen hier genauso wenig wie daheim in Gemünden. Im Nachhinein weiß ich, dass das nicht selbstverständlich war, doch ich würde es mit eigenen Kindern genauso machen: Ich habe dadurch gelernt, mich zurechtzufinden und selbst zu merken, was schon klappt und was nicht. Meine Eltern haben mir unglaublich viele Freiheiten gelassen und mir vor allem sehr viel Vertrauen geschenkt. Und sie wussten, dass ich das nicht missbrauchen würde.

Jetzt, wo ich erwachsen bin, hat meine Mutter mir einmal gesagt, dass sie sich manchmal darüber wundert, wie viel sie mir zugetraut und manchmal auch zugemutet hat. Letztendlich aber, das weiß ich, war es gut so: Ich war schon früh sehr selbstständig und dadurch auch selbstbewusst. Bei aller Freiheit haben meine Eltern stets darauf geachtet, dass immer alles ordentlich ist, dass ich nicht in seltsame Kreise gerate und bei mir in der Schule alles stimmt. Ich durfte machen, was ich will, wenn ich den Alltag und die Dinge, die sein mussten, dabei nicht schleifen ließ. Es herrschte da ein sehr großes Vertrauensverhältnis zwischen meiner Mutter und mir, das ich nie ausgenutzt habe. Gerade deshalb funktionierte es so gut.

Vielleicht kommt es daher, dass ich so freiheitsliebend bin. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich eingeengt werde. Ich kann es auch nicht ausstehen, wenn ich herumkommandiert werde. Ich habe von klein auf gelernt, auf eigenen Beinen durchs Leben zu gehen und eigene Entscheidungen zu treffen. Deswegen kriege ich einen Vogel, wenn mir Menschen einen Rahmen stecken wollen, in den ich zu passen und den ich zu erfüllen habe. Das funktioniert nicht, da werde ich unruhig und kämpfe mich frei. Ich muss das, was ich mache, aus freien Stücken machen können, sonst geht das auf Dauer nicht gut.

Während ich einerseits sehr selbstständig geworden bin, fällt es mir andererseits schwer, mich auf andere zu verlassen. Natürlich vertraue ich meinen Eltern oder meiner Partnerin, diese Ebene des Vertrauens meine ich nicht. Aber es fällt mir sehr schwer, Entscheidungen abzugeben oder mich in Situationen zu begeben, in denen ich den Lauf der Dinge nicht mehr selbst in der Hand habe. Das mache ich nur, wenn ich gut vorbereitet bin – oder wenn ich nicht ahne, was auf mich zukommt.

Ich muss zum Beispiel viel fliegen als Profisportlerin, aber insgeheim habe ich gehörig Flugangst. Ich lege da ja mein Leben in die Hand von Menschen, die ich nie gesehen habe und nie einschätzen konnte. Am liebsten würde ich vor jedem Flug zu den Piloten gehen und sie mir ansehen, um mir einen Eindruck zu verschaffen, aber das geht natürlich nicht. Also muss ich mich jedes Mal aufs Neue vor dem Start überwinden und mir sagen, dass das schon okay sein wird und die Piloten bestimmt Ahnung haben von dem, was sie da machen. Nach einer kurzen Weile habe ich mich dann meist im Griff.

Ich will verstehen, was um mich herum passiert, und ich will vor allem Verständnis haben für das, was ich machen soll. Im Mannschaftssport sorgt das manchmal für Irritationen, weil ein Trainer in vielen Situationen nicht die Zeit hat, einem etwas lange zu erklären. Aber für mich geht es darum, dass ich auch überzeugt bin von dem, was von mir verlangt wird. Oder dass ich von dem Menschen überzeugt bin, der mir sagt, was ich machen soll. Bei Bundestrainerin Silvia Neid etwa weiß ich, dass es Hand und Fuß hat, wenn sie etwas von mir will. Auch Michael Fuchs, meinem Torwarttrainer in Deutschland, vertraue ich absolut, weil ich mir sicher bin, dass er weiß, was er macht.

Nadine Angerer - Im richtigen Moment

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