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Der Ball darf nicht ins Tor
ОглавлениеEs kann sehr laut sein, wenn das Blut vor Aufregung so pulsiert, dass man glaubt das Klopfen in den Adern hören zu können. Booom, booom, booom, booom. Wie ein Echolot hält einen der Puls auf Kurs, das Herz bemüht sich, dabei nicht zu stolpern, und das Hirn versucht auf Autopilot zu schalten und sich auf klare Befehle zu reduzieren. Und ich? Ich überlasse mich dem Zusammenspiel der beiden und vertraue meinen Instinkten.
Adrenalin ist ein mächtiger Stoff, der einem nur zwei Möglichkeiten bietet: Man kann Angst haben und sich ihren Psychospielchen überlassen; oder man lässt das Adrenalin seinen Job machen. Das heißt: Steigerung der Herzfrequenz, Erweiterung des Lungenvolumens, Vergrößerung der Pupillen – man ist hellwach, bereit zum Sprung und denkt an nichts anderes als daran, die Situation zu lösen. In meinem Fall heißt das: Der Ball darf nicht ins Tor. Auf gar keinen Fall. Auch jetzt nicht, da mir im Endspiel um die Europameisterschaft 2013 in Schweden elf Meter entfernt Solveig Gulbrandsen gegenübersteht und darauf wartet, dass die Schiedsrichterin den Ball freigibt.
Ein halbes Jahr lang hatten wir mit der Nationalmannschaft auf diesen 28. Juli 2013 hin gekämpft. Monatelang hatten wir hart trainiert, um in diesem EM-Finale von Solna zu stehen. Und jetzt, nach etwas mehr als einer Stunde Spielzeit, gab es in diesem Endspiel gegen Norwegen schon den zweiten Elfmeter gegen uns. Ich war im ersten Moment fuchsteufelswild. Damals, im WM-Finale 2007 in China, hatte ich den Elfmeterpfiff gegen uns hingenommen wie der Rest der Mannschaft – in dem Moment, als es passierte, wussten wir alle, dass der Pfiff berechtigt war. Aber jetzt, in der mit über 41.000 Zuschauern ausverkauften Nationalarena vor den Toren Stockholms, schrie ich vor Ärger auf. Schon der erste Strafstoß nach einer halben Stunde war keiner, den man geben musste. Norwegens Cathrine Høegh Dekkerhus war im Zweikampf mit Célia Okoyino da Mbabi im Strafraum gefallen, und nachdem die Schiedsrichterin gepfiffen hatte, schnappte sich Trine Rønning den Ball zum Schuss – ich konnte ihn mitten im Sprung noch mit dem rechten Unterschenkel abwehren.
Als jetzt der zweite Pfiff kam, machte ich meinem Ärger darüber Luft. Wieder war eine Norwegerin zu Fall gekommen, diesmal Caroline Hansen im Duell mit Jennifer Cramer, und wieder entschied die Schiedsrichterin auf Strafstoß. 1 : 0 führten wir inzwischen durch ein Tor von Anja Mittag, wir spielten gut, richtig gut, und die wachsende Anspannung im Stadion war fast mit Händen zu greifen. Kaum einer hatte mit uns gerechnet in diesem Jahr, verletzungsgeplagt und unerfahren, wie unsere Mannschaft war. Und nun standen wir hier im EM-Finale vor dem großen Triumph. Wenn ich jetzt diesen Ball halte.
Ruhig bleiben, Natze, sagte ich zu mir, immer schön ruhig bleiben. Du hast den ersten Strafstoß gehalten, du kannst auch den zweiten halten, die Chance steht wie vorhin 50 : 50. Der Ball darf nicht ins Tor, auf gar keinen Fall!
Ich blendete aus, dass das voll besetzte Stadion brodelte wie ein blubbernder Brei aus tausend aufgeregten Stimmen, ich sah nichts mehr außer den Ball, den sich jetzt Norwegens Gulbrandsen zurechtlegte, und verschwand in diesem Tunnel zwischen mir und der Schützin. Stehen bleiben? Springen? Rechts? Oder doch besser links?
Als Gulbrandsen anläuft, spannt sich alles in mir an, sie schießt und ich tauche in die richtige Ecke, aber der Ball ist unerwartet hoch, ich strecke mich und reiße reflexartig meinen rechten Arm nach oben und – ich kann ihn stoppen. Während der Ball von meiner Hand abprallt und nach vorne zu Boden fällt, während ich noch in der Luft bin, sehe ich, wie Gulbrandsen auf ihn zustürmt, doch Saskia Bartusiak ist rechtzeitig zur Stelle und bugsiert ihn aus der Gefahrenzone. Gehalten! Wir führen noch immer! Wir können noch immer Europameister werden! Ich balle die Fäuste, ich brülle, und es kommt mir so vor, als ob in dem Moment das ganze Stadion brüllt. Der Ball darf nicht ins Tor. Nicht heute.