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Das Angerer-Mädel

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Als ich klein war, ging es für mich darum, meine Grenzen zu sprengen, dabei wusste ich damals noch gar nicht, wo die liegen. Ich hatte einen unheimlichen Bewegungsdrang, ständig wollte ich raus und etwas machen. Stillsitzen war nicht meins, warum auch? Da draußen gab es so viel zu entdecken und zu erleben, da wollte ich dabei sein. Beim Sport konnte ich mich austoben, und ich merkte schnell, dass ich meist mehr Puste hatte als die anderen. Mein Körper hat eine gute Veranlagung, er ist sehr belastbar und widerstandsfähig, wofür ich mich bei meinen Eltern und ihren Genen bedanken darf. Wer meine Eltern kennt, wundert sich nicht, dass dabei jemand wie ich herausgekommen ist.

Das sportliche Talent habe ich auf jeden Fall von meinem Vater Norbert. Den nötigen Ehrgeiz für den Leistungssport habe ich allerdings von meiner Mutter Petra, die als Triathletin früher viele Wettkämpfe absolviert hat. Ob fränkische oder bayerische Meisterschaften, der Ironman in Roth oder der Frankenwald-Marathon – meine Mutter ließ kaum ein Rennen in der Region aus. Sie hat einen unbändigen Willen und damit viel wettgemacht, was andere ihr an Talent voraushatten. Wenn sie im Sport etwas erreichen will, dann setzt sie alles daran, das auch zu schaffen. Die körperlichen Grundlagen und das Talent für Bewegungsabläufe hat mir aber mein Vater mitgegeben, auch wenn er auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussieht. Mein Vater versteht zu leben, er ist ein Genießer und doch auch richtig sportlich – er macht nur keinen Sport. Früher, als junger Mann in Italien, wo er aufgewachsen ist, da hat er noch Fußball im Verein gespielt, je nach Bedarf stand er beim FC Nals im Tor oder stürmte. In Deutschland schlief das schnell ein, wegen seiner Arbeit als Hydrauliker blieb bald keine Zeit mehr für regelmäßigen Sport. Wenn heute meine Mutter nach einer langen Zeit des Nichtstuns zu ihm sagt: »Lass uns langlaufen gehen, damit du dich mal bewegst«, dann geht er – ohne mit der Wimper zu zucken – einfach mal 20 Kilometer mit ihr langlaufen, kommt nach Hause und setzt sich ganz entspannt wieder hin, als wäre nichts gewesen.

Für mich haben meine Eltern offenbar ihre Eigenschaften zusammengeschmissen, was mir ganz gut gefällt: Auch ich weiß wie mein Vater das Leben zu genießen, das habe ich mir nie nehmen lassen, auch von meinen Trainerinnen und Trainern nicht. Den sportlichen Ehrgeiz habe ich von meiner Mutter mitbekommen, auch wenn es etwas gedauert hat, bis ich ihn entdeckt habe. Es geht um die Mischung, die jeder für sich finden muss, und ich hatte das Glück, dass meine Familie mich bei dieser Suche immer unterstützt hat.

Mein Vater ist ein Italiener aus dem kleinen Südtiroler Dörfchen Nals, das liegt im Etschtal, fast exakt zwischen Bozen und Meran. Dort leben heute noch der Bruder und die Schwester meines Vaters mit ihren Familien, dazu auch noch meine Oma Else, die jetzt schon auf die 90 zugeht. Wann immer ich zu Besuch komme nach Nals, was selten genug ist, spricht mich mindestens einmal jemand auf der Straße oder im Café an und fragt: »Bischt du a Angerer-Mädel?« Die Mitglieder unserer Familie sehen sich ähnlich, keine Frage, mein Vater kann mich also definitiv nicht verleugnen. Petra, meine Mutter, kommt aus Gössenheim, das ist ein ebenso kleines unterfränkisches Dorf in der Nähe von Gemünden am Main und liegt ungefähr in der Mitte zwischen Aschaffenburg und Schweinfurt. Sowohl Nals wie auch Gössenheim haben kaum 2000 Einwohner und eine Burgruine, aber es war trotzdem keine Selbstverständlichkeit, dass meine Eltern sich kennengelernt haben.

Als meine Mutter jung war, gab es eine Tankstelle im nahen Gemünden, deren Inhaber im Urlaub immer nach Nals reisten, die italienische Partnerstadt von Gemünden am Main. Sie freundeten sich mit meinem Vater an, der in Brixen eine Ausbildung zum Maschinenbauschlosser gemacht hatte, und schlugen ihm vor, mit ihnen nach Deutschland zu kommen, um sich dort Arbeit zu suchen. Also hat er seine Sachen gepackt und ist in den wilden 70ern mit nach Deutschland gefahren. Es sollte für immer sein.

Meine Mutter arbeitete damals in Gemünden in einem Restaurant in der Küche und beim Ausschank, um sich neben ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau das Geld für den Führerschein zu verdienen. Eines Tages kam mein Vater in das Restaurant, um etwas zu essen. Sie sagen beide, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Kurze Zeit später war ich da.

Meine Eltern sind heute noch zusammen, aber ich habe meinen Vater praktisch nie gesehen, weil er immer im Außendienst unterwegs war. Er wurde bei der in Lohr ansässigen Mannesmann Rexroth GmbH, die inzwischen Bosch Rexroth GmbH heißt, ein Fachmann für Hydraulik und arbeitete an großen Projekten der Bühnentechnik und im Bau von beweglichen Brücken für die Schifffahrt. Vor seiner Pensionierung 2013 war er für seinen letzten Großauftrag für zwei Jahre in Moskau und hat dort die Bühnentechnik des Bolschoi-Theaters erneuert.

Meine Mutter und ich gewöhnten uns daran, dass wir meinen Vater wegen seiner Außendiensteinsätze nur selten sahen. Manchmal war er ganze Jahre am Stück weg, er war oft und viel unterwegs für Arbeitsaufträge in der ganzen Welt, in Südamerika und Asien etwa und in den Arabischen Emiraten. Als 1990 der Zweite Golfkrieg begann, war mein Vater gerade in Kuwait beschäftigt, er wurde gerade noch rechtzeitig ausgeflogen vor dem ersten Angriff der irakischen Streitkräfte, mit der Gasmaske im Gesicht. Natürlich ist mein Verhältnis zu ihm lange nicht so intensiv wie zu meiner Mutter, aber obwohl wir uns selten gesehen haben, war die Bindung zu meinem Vater immer da, er war immer interessiert und sehr liebevoll. Schon oft wurde ich gefragt, wo und wer denn eigentlich mein Vater sei, weil bei Länderspielen oder Turnieren im Publikum meist nur meine Mutter zu sehen war. Während mein Vater arbeiten war, ist sie mir seit der Weltmeisterschaft 1999 überallhin nachgereist und war bei all meinen Turnieren dabei. Meine Mutter sagt oft, wir sind eine richtige Zigeunerfamilie – ständig unterwegs und selten alle beieinander, aber wir halten zusammen. So ist es heute noch.

Im Grunde bin ich also hauptsächlich mit meiner Mutter aufgewachsen, aber was für andere schwierig klingt, war für unsere Familie der Normalzustand: Ich kannte es nicht anders. Vor allem war es ja nicht so, dass ich deshalb als Kind viel alleine gewesen wäre. Ganz im Gegenteil.

Meine Mutter ist eines von zehn Geschwistern, ich habe so an die 40 Cousins und Cousinen, und fast alle wohnen in Gössenheim und im nahen Gemünden. Ich bin also vielleicht ein Einzelkind, aber aufgewachsen bin ich in einer Großfamilie. In einer richtig großen Großfamilie. Seit ich denken kann, lebten meine Eltern und ich in einer 85-Quadratmeter-Wohnung des Hauses, das eine der sieben Schwestern meiner Mutter mit ihrem Mann in Gemünden gebaut hat. Es liegt am Ende einer Sackgasse am Wald, die Jungs aus der Nachbarschaft trafen sich hier immer zum Fußballspielen. Logisch, dass ich da mitmachen wollte, egal wie klein ich war und egal ob ich nun ein Junge oder ein Mädchen war. Die anderen Kinder spielten, also wollte ich mitspielen, da gab es nie irgendwelche Diskussionen. Als die Jungs dann zum Fußballspielen in den Verein sind, bin ich einfach mit ihnen mitgegangen.

Durch meine Mutter schnupperte ich auch beim Triathlon rein, ich ging beim ESV Gemünden zum Schwimmen und zur Leichtathletik, machte in Langenprozelten Karate und spielte beim TSV Lohr Handball. Ich habe alles Mögliche ausprobiert, weil mir Sport grundsätzlich viel Spaß machte, und bin dafür quer durch unsere Region gefahren. Für den Triathlon habe ich nie speziell trainiert, aber meine Mutter hat mich der Einfachheit halber immer mit angemeldet, wenn sie bei einem Wettbewerb angetreten ist.

Bei allem Spaß aber war ich nur, wenn es um Mannschaftssport ging, mit voller Leidenschaft dabei. Ich spielte Handball und Fußball und liebte beides, ich fand es super, in der Gruppe zu sein und gemeinsam um etwas kämpfen zu können. Ich bin immer viel lieber in ein Mannschaftstraining als zu einem Einzeltraining gegangen. Um etwa beim Karate irgendwelche Bewegungsabfolgen einzustudieren, war ich viel zu ungeduldig. Aber wenn es um Mannschaftssport ging, konnte ich gar nicht genug kriegen.

Bald spielte ich in der Unterfranken-Auswahl, sowohl im Handball als auch im Fußball. Wobei ich da noch keine Ambitionen gehabt habe, den Sport für mich zum Beruf zu machen. Für mich war Sport mein liebster Zeitvertreib, für den ich gern alles andere liegen ließ. Daneben wusste durch meine vielen Sportarten und Trainingszeiten immer jeder in der Verwandtschaft, wo ich gerade zu finden war, was für meine Mutter durchaus auch praktisch war.

Bis ich drei Jahre alt war, bin ich mehr oder weniger bei meiner Oma Resi aufgewachsen. Meine Mutter hatte mich mit 19 Jahren bekommen, und sie musste erst ihre Ausbildung zu Ende bringen, bevor sie sich komplett um mich kümmern konnte. Damit ich gut versorgt war, brachte meine Mutter mich morgens als Erstes zur Oma nach Gössenheim und später, als ich etwas größer war, in den Kindergarten. Von dort hat mich Oma Resi dann abgeholt, bevor mich abends meine Mutter wieder mit nach Hause nahm. Etliche der vielen Geschwister meiner Mutter machten das mit ihren Kindern genauso, und so waren wir bei meiner Oma immer ein ganzer Haufen von Cousins und Cousinen unterschiedlichen Alters, die zusammen ihre Zeit verbrachten. Meine Oma hatte quasi ihren eigenen Kindergarten, es war eine echt schöne Zeit. Allerdings war meine Oma mit der ganzen Kinderbetreuung ziemlich eingespannt, und so passierten auch mal Pannen. Mich sollte sie nachmittags immer vom Kindergarten abholen – und sie hat es regelmäßig vergessen.

Oma Resi hatte zehn eigene Kinder, dazu deren Kinder und manchmal schon erste Urenkel im Auge zu behalten, da kann man schon mal den Überblick verlieren. Vor lauter Essenkochen, Enkelbeaufsichtigen und Einkäufeerledigen hat sie dann manchmal eben das eine oder andere Kind vergessen. Meist hat dann die Kindergärtnerin angerufen, und noch bevor der erste Satz gewechselt war, wusste Oma Resi schon Bescheid: Wenn sie die Stimme hörte, ist ihr eingefallen, dass ich da noch stehe und warte. Als ich vier Jahre alt war, meinte meine Mutter, dass das so nicht mehr weitergeht und meine Oma entlastet werden muss. Der Kindergarten war keine drei Kilometer von unserem Haus entfernt, und so unterschrieb meine Mutter eine Einverständniserklärung, dass ich von da an mit einer Ausnahmegenehmigung allein heimlaufen durfte. In unserem kleinen Ort war das kein Problem.

Ein typisches Schlüsselkind war ich allerdings auch nicht, denn einen Schlüssel brauchte ich bei uns erst gar nicht. Die Türen im Haus meiner Familie standen immer offen, auch bei meinen Großeltern. Anders wäre das wohl mit der großen Familie und dem ständigen Ein und Aus von Kindern und Enkeln gar nicht gegangen. Verschlossene Türen lernte ich erst kennen, als ich auszog und nach München ging.

Nadine Angerer - Im richtigen Moment

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