Читать книгу Suomi on kaunis (Deutschland auch) - Nadja Hummes - Страница 17

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Der Schnee knirscht unter meinen Spikes. Nachdem ich der Syväraumankatu ein Stück gefolgt bin und eine Brücke überquert habe, erblicke ich einen Kiosk. Leider ist er geschlossen. Schade. Eine Wegzehrung auf die Hand wäre jetzt schön gewesen.

Hinter dem Kiosk beginnt eine Straße, die Suvitie. Kurzentschlossen folge ich ihrem Verlauf. Nach wenigen Minuten gelange ich an einen angenehm überschaubaren Hafen. Es ist der Syväraumanlahden palvelusatama, der Service- und Anlegepunkt von Syvärauma. Vielleicht kann ich ein paar malerische Impressionen sammeln. Jetzt, da es zeitweise endlich Tageslicht gibt.

Der kleine Hafen liegt in tiefem Schlaf. Viele der Anlegestellen sind verwaist. Nur wenige Boote wurden vor Einbruch desWinters an den Stegen vertäut und mit Abdeckplanen winterfest gemacht. Frohgemut ragen die verbliebenen Masten in den Himmel. Unverdrossen begrüßen sie die ersten Sonnenstrahlen des Jahres. Die Eiszapfen an den oberen Enden der Masten beginnen zögernd zu tauen. Ab und an hört man ein Knacken.

Schnee und Eis sehen mal puderig, mal glasiert, mal festge­backen und mal wässrig aus. Unterschiedliche Blau- und Türkistöne wechseln sich ab. Je nachdem, wie die Sonne die Szenerie beleuchtet. Es glitzert. Überall. In den Baumwipfeln, an den Masten, auf den Felsen, Abdeck­planen, Anlegestegen… einfach überall. Wieder einmal wird deutlich, dass Schnee und Eis letzten Endes aus Kristallen bestehen. Wahrhaftig, es ist, als ginge ich durch ein Meer aus winzigen, hell leuchtenden Edelsteinen. So sehr funkelt es. Egal, wohin ich schaue.

Inspiriert von diesem Anblick werde ich Valtteri heute Abend fragen, ob er weiß, wo oder von wem ich mir für die nächsten zwei, drei Tage ein Mikroskop ausleihen könnte. Wenn ich eines bekomme, und sei es auch nur für einen einzigen Tag, dann werdeich mir die Schnee- und Eiskristalle ausgiebig durch das Mikroskop ansehen. All diese Farbvarianten. Dazu diese wundervollen Strukturen der Kristalle. Jedes Muster ist einzigartig. Jeder Kristall ist einzigartig. Ja, ich möchte die Kristalle in aller Stille ganz lange betrachten und anschlie­ßend mit dem Malen von Eiskristallen beginnen.

Beseelt von diesem Gedanken, glücklich und dankbar, jetzt gerade inmitten all dieser Schönheit zu stehen, sie sehen und erleben zu dürfen, halte ich inne. Erst nach etlichen Minuten gehe ich weiter.

Schließlich gelange ich an einen Turm. Er ist aus Holz gebaut, weiß gestrichen und wird durch gelb gestrichene Rahmenein­fas­sungen und Stützpfeiler stabilisiert. Meine erste Assozia­tion ist die, dass es sich hier um einen Leuchtturm handeln könnte. Was angesichts des nahe gelegenen Hafens durchaus logisch wäre. Doch der Turm ist von hohen Bäumen und Felsen umgeben. Diese Tatsache wiederum verdutzt mich. Üblicherweise muss ein Leuchtturm frei stehen, um weithin gut sichtbar zu sein.

Ich kämpfe mich durch den Schnee, bis ich vor dem Turm stehe. Auf den wenigen Metern, die ich vorher bewältigen muss, sinke ich mehrmals tief ein. Der langsame Prozess des Abtauens findet also nicht mehr nur auf Höhe der Baumwipfel, Bootmasten und Hausdächer statt, sondern beginnt mittler­weile auch auf dem Erdboden.

Was nicht zuletzt bedeutet, dass auch das Wasser taut. Ergo: Doppelt und dreifach Obacht geben. Denn rein optisch ist mitunter noch immer schwer einzuschätzen, ob sich unter der Decke aus Schnee und Eis Wasser oder Festland befindet. Eine gute Portion Hintergrundwissen ist da ungemein hilfreich.

Hier, das kann ich dank Valtteri mit Gewissheit sagen, befinde ich mich auf Festland. Seit meiner Ankunft hat er meine geographischen Grundkenntnisse über die hiesige Region ordentlich aufgestockt und die Berichte über eingebrochene und im Eiswasser zu Tode gekommene Menschen und Tiere dabei nicht ausgespart. Zu keiner Zeit ging es ihm darum, sich oder mich an derartigen Schauergeschichten zu ergötzen. Vielmehr war und ist es Valtteri ein Anliegen, Touristen, Langzeitbesucher und zugezogene Arbeitskräfte eindringlich vor Fehlein­schätzungen zu warnen und Unbedachtheit oder Leicht­sinn entgegen zu wirken.

An vereinzelten Uferstellen sind mir Schilder, deren Text englisch und finnisch gehalten ist, aufgefallen. Die 112, der internationale Notruf, steht in Fettdruck auf jedem dieser Schilder.

Immer wieder aufs Neue verwundert, stelle ich fest, wie hoch die angesammelten Schneemassen stellenweise liegen.

Jetzt zum Beispiel stehe ich bis über die Knie im Schnee.

Entsprechend meinen Erfahrungen habe ich mir auf meinen bisherigen Wanderungen eine gewisse Routine für solche Situationen angewöhnt.

Erstens: Ruhe bewahren. Mit den Schuhsohlen festen Halt ertasten.

Zweitens: Körperwärme stabil halten. Meistens ist mir durch das lange Laufen sogar richtig warm. Inzwischen kommt dieSonne ergänzend hinzu.

Drittens: Die Spielwiese genießen. In Deutschland habe ich in meinen Kindertagen Winter, in denen der Schnee wochenlang liegen blieb, gekannt. Doch mehr und mehr schwanden diese Winter. Zumindest dort, wo ich wohnte. Stattdessen gab und gibt es allenfalls Schneematsch. Damit einhergehend weit verbreitete Panikstimmungen. Inklusive kiloweise Streugut. Insbesondere dann, wenn Frost droht und die Temperaturen an der Null-Grad-Grenze hin und her pendeln.

Hier aber, hier schneit es nicht nur, hier bleibt der Schnee sogar noch liegen. Hier kann ich so viele Schneebälle formen, wie ich möchte. Demnach wühle ich einfach mit meinen Händen auf Höhe meiner Knie im Schnee und backe im Akkord Schneeball um Schneeball. Das hält nicht nur warm, sondern macht auch noch Spaß. Solange ich weder auf Gebäude noch auf selten vorbei laufende Passanten oder Tiere ziele, kommt nichts und niemand zu Schaden. Meistens dauert es nur wenige Minuten bis ich den Schnee durch all die Schneebälle so weit abgetragen habe, dass die Fläche vor meinen Beinen wieder begehbar ist.

Die Treppenstufen, die zur unteren Plattform des Turmes führen, sind gesperrt. Der Turm ist geschlossen.

Kiikatorni, steht auf einem Schild.

In Gedanken gehe ich sämtliche mir bekannten finnischen Worte, die mit einem k beginnen, durch. Das dauert einige Zeit.

Hmmm. Kukin, mit einem k in der Mitte und einem i und n am Ende: jeder. Kukka, mit zwei k in der Mitte und einem a am Ende: Blume oder Blüte. Je nach Kontext. Hingegen kukko, ebenfalls mit zwei k in der Mitte, jedoch mit einem o am Ende: der Hahn. Jener, welcher krähen kann. Nicht das tropfende Ding über dem Waschbecken.

So geht es weiter und weiter, bis ich letztlich bei dem Wort kuka lande. Mit einem k in der Mitte und einem a am Ende. Kuka bedeutet übersetzt „wer“ und nicht, wie oft irrtümlich angenommen, „gucken“. Kuka ist also ein Fragewort. Hmmmm.

Nein, das passt alles nicht.

Kiika scheint keine Ableitung, sondern ein eigenständiger Begriff zu sein.

Moment, wie war das noch… kiika... kiika… Das habe ich doch schon einmal irgendwo gelesen… kiika… Na klar! Fernglas! Das Wort tauchte ab und zu in der Tourismuswerbung auf. Werbung für geführte Touren, auf denen es möglich ist, Wildtiere aus sicherer Entfernung zu beobachten. Nämlich durch ein Fernglas, kiika. Und torni bedeutet „Turm“. Fern­glas­turm, lautet also die wörtliche Übersetzung. Das ist ein Aussichtsturm!

Wie weit man von dort oben wohl schauen kann? Schade, dass er derzeit geschlossen ist.

Was steht denn noch auf dem Schild? Na, mal sehen. Kesä, also „Sommer“, ist noch lesbar. Der Rest des Wortes ist durch Schneenässe unleserlich geworden. Darunter steht ein anderes Wort, einzeln gesetzt. Avoinna: Geöffnet. Dann folgen Uhrzeiten. Weiter unten auf dem Schild steht noch etwas: Nokan taidetorppa. Taide ist das finnische Wort für „Kunst“, so viel ist schon mal klar. Aber nokan und torppa kann ich im Moment nicht zuordnen. Unter dem Schriftzug nokan taide­torppa stehen ebenfalls die Worte kesä und avoinna, so wie auch einige Uhrzeiten. Finden in dem Turm etwa Kunstaus­stel­lungen während der Sommer­saison statt? Welche man zu bestimmten Uhrzeiten durch die Teilnahme an einer Gruppen­führung besichtigen kann? Oder gar Treffen von ortsansäs­sigen Künstlern, denen man während einer bestimmten Zeit­span­ne beim Malen über die Schulter gucken darf? Ich muss Valtteri unbedingt danach fragen.

Wie auch immer, noch ist kein Sommer, sondern finnischer Frühling. Geprägt von Daunenjacken, Frisbeewerfern, tauen­dem Schnee, knackendem Eis und wenigen Stunden Sonnen­schein. Es gilt, die Zeit gut zu nutzen.

Wieder und wieder umkreise ich den Aussichtsturm, knipse Fotos aus allen nur erdenklichen Perspektiven. Bemüht, wenigstens einen Bruchteil dessen einzufangen, was das Sonnenlicht vor meine Augen zaubert. Alleine schon, wie das Licht durch die Wipfel der Kiefern bricht, von schmelzendemSchnee reflektiert wird oder welche Farben es an den Himmel wirft, könnte ganze Alben füllen. Nein, Lenja. Fünfzig Fotos pro Wanderpause müssen genug sein. Schließlich möchtest du heute noch eine gewisse Strecke laufen und dir die Gegend anschauen. Denke daran: Das Tageslicht gibt den Zeitrahmen vor.

Unweit des Aussichtsturmes steht ein gelbes Holzhaus. Es hat ein rotes Dach und weiße Balken. Seine Größe erinnert an eines der Zweifamilienhäuser. Es wirkt gut gepflegt. Aller­dings ist es tief eingeschneit. Sogar der Eingangsbereich ist nicht geräumt. Ob es überhaupt bewohnt ist? Oder vielleicht ist es eines dieser Ferienhäuser, die man für ein paar Wochen mieten kann?

Als ich näher komme, sehe ich ein Schild an der Außenwand des Hauses. Direkt neben der Eingangstür. Auf jenem Schild steht der selbe Text wie auf dem Schild am Aussichtsturm. Die beiden Gebäude müssen irgend­welche Gemeinsamkeiten haben. Noch eine Sache, zu der ich Valtteri nachher mal befragen werde. Vielleicht kann er mir mehr darüber sagen.

Jetzt spaziere ich erst einmal weiter, genieße die Sonne, die Bäume, die knackenden tauenden Eiszapfen, denen ich gele­gentlich ausweichen muss, und den schmelzenden Schnee, aus dem ganz langsam Felsen und – es ist kaum zu fassen – Sitzbänke hervor schauen und sichtbar werden.

Nach nicht allzu langer Zeit, gelange ich an ein Freibad. Ganze fünf Sprungbretter sind zu zählen. Der Einer ist lediglich durch das vereiste Metallgestänge zu erkennen. Der Rest ist noch unter Schnee vergraben. Ebenso die quadra­tischen Sprungblöcke am Beckenrand. Sie heben sich nur durch die regelmäßigen Abstände und die eckige Form aus der Schneemasse hervor.

Im Sommer ist das Freibad bestimmt ein belebter Ort. Vielleicht werden hier auch Wettkämpfe ausgetragen. Zur Zeit ruht es jedenfalls. Also weiter.

Nach dem Freibad kommt lange Zeit nur Landschaft. Wunderschöne Landschaft. Weite Strecken flachen Ufers, kleine Waldstücke, endlose Sicht auf das tauende Eis des Meerwassers. Noch immer sind Meer und Land von Eis undSchnee überzogen. Streckenweise tauend, glitzernd, rissig oder wässrig und mal auch unverändert festgefroren. Je nachdem, ob das Licht und die Wärme der Sonne die jeweilige Stelle schon erreicht hat oder noch nicht.

Ab und an sitzt ein Angler am Ufer. Das entsprechende Loch im Eis ist kaum je größer als die Untertasse eines Kaffee­services. Nie wirken die Angler einsam, frustriert oder unge­duldig. In der Regel sind sie eher ausgeglichen, voller Gelas­sen­heit. Unterhalten wollen sie sich selten. Fünf Sätze pro Stunde reichen. Egal, in welcher Sprache.

Aber hin und wieder darf ich mich dazu setzen. Zumindest so lange ich die Fische nicht vertreibe, keine Geschwätzigkeit an den Tag lege und es mir vollauf genügt, schweigend im Sonnenlicht sitzend auf das Meer zu starren.

Nie muss ich hungern oder dursten. Jeder der Angler, zu denen ich mich setze, bietet mir von seinen mitgebrachten Getränken oder Speisen an.

Einmal begegne ich sogar einer Anglerin. Sie kann neben ihrer Muttersprache – Finnisch – auch ein wenig Schwedisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Diese Finnin zeigt sich etwas gesprächiger als ihre männlichen Anglerkol­legen. Sie freut sich aufrichtig, mich kennenzulernen und erzählt mir beiläufig von ihrer Hoffnung, ihr Mittagessen mit einem großen Fisch aufstocken zu können. Zwar seien sie und ihr Mann berufstätig – sie selbst arbeite in einer kleinen Buch­handlung, die auf Grund von Reparaturen für drei Tage ge­schlos­sen sei, – aber der letzte Lebensmitteleinkauf im Prisma – ein großer Supermarkt nahe Vanha Rauma – sei so teuer gewesen.

„Wir sind zu viert. Mein Mann und ich haben zwei gemein­same Kinder. Da geht so ein Lebensmitteleinkauf schnell zur Neige“, erklärt sie freimütig. „Deshalb nutze ich die freien Tage, um den Kühlschrank mit fangfrischem Fisch aufzufül­len.“

„Na dann mal Petri Heil.“

„Petri Heil?“

„Das ist so eine Redewendung aus Deutschland. Damitwünscht man einem Angler Glück und Erfolg.“

„Ach so? Danke.“

„Ist Ihnen denn nachher daheim jemand dabei behilflich, die gefangenen Fische verzehrbar zu machen?“, erkundige ich mich freundlich.

Nun guckt die Finnin mich arg verwundert, ja fast schon ein wenig beleidigt an.

Nach einer kurzen Pause erläutert sie mir betont höflich, dass sie so etwas durchaus könne und natürlich selber mache. Ebenso wie viele andere Finninnen und Finnen. Weit reichen­de Kenntnisse über das schnelle und leidlose Ableben, Ent­schup­pen, Ausweiden und Zubereiten von Fischen, der zuver­läs­sigen Sicherung von Feuerstellen unter freiem Himmel und auch das Wissen und die Fähigkeit, ungiftige Pilze von giftigen unterscheiden zu können, seien hier in Rauma keine Beson­derheit oder Seltenheit, sondern vielmehr eine selbstverständ­liche Angelegenheit, an die man von Kindesbeinen an heran geführt werde.

Bei ihr sei es ihr Opa gewesen, der ihr all das beigebracht habe. Er habe sie regelmäßig mitgenommen. Gemeinsam seien sie im Ruderboot auf den See hinaus gefahren. Dort habe er ihr gezeigt, wie sie die Angel richtig auswerfe, und stundenlang mit ihr geflüstert. Märchenhafte Geschichten und lehrreiche Erzählungen aus dem wirklichen Leben wechselten einander ab, während ihr Großvater und sie darauf warteten, das die Fische bissen. Sie habe diese Stunden immer sehr genossen und als sie im zarten Alter von sechs Jahren einen selbst gefangenen Fisch endlich zum ersten Mal vollständig selber entschuppen, ausweiden, zubereiten und über der Feuerstelle braten durfte, war das für sie mindestens etwas so lang Ersehntes und Bedeutsames wie beispielsweise die Einschulung oder der Führerschein. Schließlich sei man ab dem ersten selber zubereiteten Fisch endlich ein Stück eigenständiger und lebensfähiger.

Auch hätte ihr Opa ihr selbstredend beigebracht, wie sie sich im Winter auf einem Fahrrad, dessen Reifen mit Spikes be­stückt sind, gefahrlos und gleichmäßig auf Eis und Schnee fortbewege. Um Wegstrecken bewältigen zu können, ohne aufHilfe angewiesen zu sein.

„Das alles ist doch ein ganz selbstverständliches Stück Nor­ma­lität. Geradezu banal“, sagt sie abschließend.

Stille. Verlegen starre ich auf die im Eisloch versenkte Angel­schnur.

Die Finnin bemerkt es und bemüht sich, mir aus dieser Situa­tion herauszuhelfen.

Weiterhin höflich erkundigt sie sich, wie die Kinder in Deutsch­land zur Zeit aufwachsen würden und ob sich seit der allseits bekannten Pisa-Studie schon etwas zum Vorteil verändert hätte.

Betreten murmele ich etwas von abgerundeten Bastelscheren, weit verbreiteten Diskussionen über die Frage, welche Bilder, Handlungen und welchen Sprachgebrauch man Heranwach­senden zumuten könne, ohne dass deren Körper, Geist oder Seele Schaden nehme oder gar die Möglichkeit einer Verrohung während der individuellen Persönlichkeits­ent­wick­lung drohe, von Deutsch­lands speziellen Angelscheinlizenzen, von gekenn­zeichneten Grillplätzen, die manchmal nur nach vorheriger Anmeldung oder Entrichten eines Eintrittsgeldes genutzt werden dürfen und von kitschigen batteriebetrie­benen Echtwachskerzen, die nicht einmal mehr eine Kerzen­flamme haben.

Die Finnin macht große Augen. Nach einigen Minuten, in denen sie diese Fakten unkommentiert sacken lässt, bittet sie mich fortzufahren.

Daraufhin berichte ich ihr zusätzlich von dem ganz alltäg­lichen Parkplatzwahnsinn und den Autokolonnen vor Schulge­bäu­den. Ausgelöst durch Eltern, die ihre Spröss­linge bis vor die Eingangstür bringen. Sei es aus Prestige, ausgewachsener Bequemlichkeit oder um den Nachwuchs schützen zu wollen. Ich erzähle ihr auch von dem theoretischen Grundgedanken der Inklusion, dessen prak­tische Umsetzung noch in den Kinder­schuhen steckt. Von Kommunen, deren Anliegen häufig in die Bürokratie oder Lippenbekenntnisse abgeschoben werden. Von Menschen im sozialen Abseits und der damit verbundenen Kettenreaktion.

Da sie danach noch immer aufmerksam zuhört, erzähle ich ihr noch von Kindern, die nicht mehr im Wald spielen wollen oder sollen, weil deren Eltern Aversionen vor Schmutz und Angst vor Bakterien oder Tieren haben. Auch erzähle ich ihr davon, das manche Kinder diese Aversionen und Ängste übernehmen. Von dem starken Kontrast des Leistungsdruckes, der parallel zu alledem vorhanden ist, und von den realen Anforderungen des Globalisierungs­zeitalters, die logischerweise ebenfalls vor­han­den sind. Von Eltern, die lieber andere Leute verklagen, anstatt einzusehen, dass ihr Nachwuchs kein Leonardo Da Vinci ist. Und von noch anderen Erwachsenen, deren Denken und Verhalten manchmal so kritik- und konfliktunfähig ist, dass man bei dem Gedanken daran, was Heranwachsenden von solchen Menschen verbal und nonverbal vermittelt wird, gelegentlich ein dezentes Stirnrunzeln bekommt.

Ungläubig guckt die Finnin mich an. Ihre Augen werden noch größer.

„Machst du gerade einen Scherz mit mir?“, hakt sie irritiert nach.

Ich verneine es wahrheitsgemäß, woraufhin sich ernsthafte Betroffenheit in dem Gesicht der Finnin abzeichnet.

„Weißt du… Auch wir kennen abgerundete Bastelsche­ren…“ beginnt sie einlenkend. „…aber irgendwann ist es genug. Ein bisschen Vermeidungsverhalten ist vollkommen in Ordnung, aber zuviel davon ist ungesund. Auch wir haben den Gedan­ken, den Nachwuchs vor allerlei Gefahren schützen zu wollen. Aber bei uns wird dieser Gedanke anders weiter gedacht. Wir sagen, der beste Schutz, den du deinem Kind mitgeben kannst, ist, es frühzeitig daran zu gewöhnen, Situationen ein­schätzen, damit umgehen und sie selbst meistern zu können. Ein Kind sollte möglichst früh möglichst eigenständig und charakterstark werden. Das ist der beste Schutz, um gut durch das Leben zu kommen.“

Sie nimmt ihre Tasche vom Boden auf und hakt mich unter.

„Komm“, sagt sie. „Ich lade dich auf einen Kaffee ein. Und dann erzählst du mir das alles ein bisschen genauer. Das interessiert mich. Ich bin noch nie in Deutschland gewesen. Aber ich hatte schon oft den Gedanken. Ich würde gerne malLand und Leute kennenlernen.“

„Und deine Angel? Dein Mittagessen?“

„Och, die ist nachher auch noch da. Ich gehe auf dem Rückweg gucken, ob einer angebissen hat. Wie heißt du eigent­lich?“

„Lenja. Und du?“

„Tarja.“

„Danke für die Einladung, Tarja. Magst du ein Stück Kuchen zum Kaffee? Der geht dann auf mich.“

„Oh gerne! Danke, Lenja. Weißt du, ich denke, dass man einem Kind, das so aufwächst, wie es in Deutschland wohl man­cherorts vorkommt, genau das antut, wovor man es eigentlich bewahren will: Es wird nachhaltig geschädigt.“

„Ich weiß, was du meinst.“

„Ah, das ist gut. Ich hatte schon Sorge, unhöflich zu sprechen. Es ist doch so: Ein Kind muss sich als lebensfähig erleben, um tatsächlich auch lebensfähig zu sein. Das steckt doch schon in dem Wort: lebens – fähig. Des Lebens fähig sein. So ist es. Ein Mensch sollte fähig sein, sein Leben adäquat meistern zu können. Und mit all den schönen und traurigen Seiten des Lebens umgehen können, ohne dabei… wie sagt man?“

„Ohne dabei abzustürzen. So sagt man bei uns im Volks­mund.“

„Genau. Ohne abzustürzen. Ohne sich an Verzweiflung, Aggression, Verbitterung, Hilflosigkeit, Überforderung oder so etwas zu verlieren. Und jeder Mensch sollte dies von Kindes­beinen an lernen. Um ein Kind für sein weiteres Leben lebensfähig zu machen, muss man ihm immer wieder die Erfahrung zugestehen, Situationen des Lebens selber erleben, durchlaufen und meistern zu können. Wenn man ihm diese Erfahrungen und Prozesse vorenthält, wenn sein Aufwachsen vielleicht sogar zu einem Großteil von Vermeidungsverhalten, Ängsten und Aversionen geprägt ist, – dann wird es in seinem voranschreitenden Leben immer wieder Schwierigkeiten haben und sich auch seelisch schwer zurecht­finden. Deswegen sage ich, man tut einem Kind etwas Grausames an. Deswegensage ich, zu viel Vermeidungsverhalten ist ungesund. “

„Ja, man sollte mit den Dingen des Lebens umgehen können. Sowohl im Handeln als auch in Gedanken und Emotionen.“

„Genau. Man muss eine innere unerschütterliche Zuversicht, Gelassenheit und Stärke haben. Es ist wichtig, all das zu entwickeln. Auch für die eigene Lebensfreude. Verstehst du, wie ich das meine?“

„Durchaus. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die das so sehen.“

„Wenn es aber auch in Deutschland Menschen gibt, die das so sehen und die über solche Sachen nachdenken, – wieso ist Deutschland denn dann noch nicht so weit, das alles besser hinzubekommen?“

„Tja, gute Frage. Ich vermute mal, weil die Kommunen oft al­leine gelassen werden. Das geht in gewissen Abständen auch immer wieder durch die Presse. Außerdem sind sogar die­je­ni­gen, die beruflich, ehrenamtlich oder familiär mit diversen Schutz­befohlenen zu tun haben – letzten Endes auch nur Men­schen. Also stoßen auch die ab und zu an ihre Grenzen. Logisch. Kein Mensch kann rund um die Uhr perfekt sein.“

„Zum Glück.“

„Du sagst es. Naja, – und es gibt Eltern, die alleine schon bei der Vorstellung, ihr Kind könnte, würde oder müsste sich mit dieser oder jener Situation befassen, entweder in dicke Schweißperlen ausbrechen oder aber sehr aufge­bracht reagie­ren. Alleine schon durch diese drei Bausteine wird es oft schwierig. Und manchmal kommen weitere Bausteine hinzu.“

„Oje. In Deutschland gibt es wohl tatsächlich Probleme.“

„Ach, das ist doch überall so. Oder hat Finnland keinerlei Probleme?“

„Oh doch. In unserem schönen Finnland gibt es viele Alkohol­probleme. Ich weiß das. Ich bin Finnin. Der Bruder meines Mannes war auch davon betroffen. Erst hat er seinen Job verloren, dann ist er depressiv geworden und dann hat er immer öfter getrunken. Er ist nicht der einzige Finne, der ein Alkoholproblem hat. Aber er ist einer der Finnen, die darüberreden. Und: Er hat es geschafft. Er trinkt nicht mehr.“

„Gratuliere! Das ist eine echte Leistung.“

„Ja, das ist es. Freut mich, dass du es so siehst. Ja, er hat es wirklich geschafft. Seitdem geht er offen damit um und ermu­tigt jeden, der ein Alkoholproblem hat, sich Hilfe zu suchen. Und natürlich, keinen Alkohol mehr zu trinken. Nebenbei ist er auch sehr glücklich darüber, dass er sein Geld wieder anders einteilen kann. Alkohol ist in Finnland sehr teuer. Leider hält selbst das viele nicht davon ab, ihr Geld für eine Menge Alkohol auszugeben.“

„Oje. Dabei kann man so viel Schöneres mit Geld machen, als es in Alkohol umzusetzen.“

„So ist es. Der Bruder meines Mannes teilt sich das Geld, das er früher für Alkohol ausgegeben hatte, heutzutage für andere Sachen ein. Letzten Monat hat er sich einen neuen Küchen­schrank gekauft und im Moment spart er auf eine Eintritts­karte für sich und meinen Mann. Für ein Jazz­konzert. Er will ihn unbedingt einladen. Ist das nicht schön?“

„Aber ja, durchaus.“

„So, das hier ist Poroholma. Ein Stück weiter gibt es einen kleinen Kiosk mit Sitzplätzen. Dort gibt es heißen Kaffee und Snacks und Süßigkeiten.“

„Na, dann geh mal vor und suche dir ein schönes Stück Kuchen aus.“

„Oh, das wird mir nicht schwer fallen. Ich nehme ein Gebäck mit Sahne.“

Es folgt ein ausgiebiger Kaffeeklatsch. Sympathisch, unter­halt­sam, aufschlussreich und fern jeglicher Lange­weile. Wir verbringen drei weitere Stunden miteinander, ehe Tarja über­haupt wieder das Bedürfnis verspürt, nach ihrer Angel zu sehen. Lange und herzlich verabschieden wir uns vonein­ander. Vorher tauschen wir noch unsere Handynummern aus.

Gegen Abend erhalte ich eine SMS von ihr. Sie hat einen großen und zwei etwas kleinere Fische gefangen. Den großen Fisch haben ihr Mann und sie sich geteilt. Die Kinder bekamen je einen ganzen der beiden kleineren Fische. Es hatallen gut geschmeckt. Sie hat beim Abend­essen von mir erzählt und ihre gesamte Familie lässt mich schön grüßen.

Ja, Finnland beschrieben zu bekommen, ist das Eine. Es zu erleben, das Andere. Ganz anders.

Darüber hinaus den Alltag hier zu teilen, kein blöder Tourist auf Durchreise zu sein, – das ist noch mal ganz anders.

Am Abend dieses Tages sprechen Valtteri und ich über­durch­schnittlich viel miteinander, während wir über unseren Bildern sitzen. Erst zu deutlich vorgerückter Stunde geht Valtteri in sein Bett.

Ich lasse mir noch ein wenig Zeit, bevor ich mich schlafen lege. Mit einer Tasse Tee in der Hand und einer Wolldecke um die Schultern stehe ich auf dem Balkon und schaue in den Sternenhimmel. Aus einer Woche wurden vierzehn Tage. Aus vierzehn Tagen werden... ?

Ich kann es nicht abschätzen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass da noch etliche Wochen hinzu addiert werden. Wenn ich in mich hinein spüre, dann fühlt sich das nicht nach Aufbruch an. Ganz und gar nicht. Auch Valtteris Worte ließen auf alles andere als auf ein Ende seiner Zeit als Herbergsvater schließen. Mein Aufbegehren, ich müsse langsam mal wieder jobben, um die Miete meiner neuen Wohnung zu bezahlen, meine Umzugskartons auspacken und der ein oder anderen Geburtstagsfeier beiwohnen, hat er mit lediglich acht Worten quittiert.

„Papperlapapp. Du bleibst, bis dein Buch fertig ist.“

Na, hoffentlich macht der Hausmeister das mit.

Suomi on kaunis (Deutschland auch)

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