Читать книгу Tara - Nancy Omreg - Страница 11
9 Das Konzert
ОглавлениеDer Wind wehte noch kälter als an dem gestrigen Abend. So sehr wir auch die Mäntel um uns schlangen, dem Zittern entgingen wir nicht. Wir konnten es kaum erwarten im „Dark Hole“ anzukommen, um der Kälte zu entfliehen.
„Da hätte ich mir die Haare auch gleich toupieren können“, jammerte Fine neben mir und versuchte, ihre vom Wind zerzausten Haare unter Kontrolle zu bekommen. Doch der Wind war stärker und wedelte sie stets aufs Neue wieder durch.
„Wir sind ja gleich da“, versuchte ich sie zu trösten und bemühte mich die Tränen, die mir der Wind in die Augen trieb, rechtzeitig abzufangen, eh sie mir das Make Up ruinieren konnten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir das „Dark Hole“ und stürzten so schnell wir konnten hinein. Nur der Kerl am Einlass konnte uns bremsen. Wir bezahlten und gingen den langen, schmalen und dunklen Gang entlang, der nur mit einzelnen Laternen beleuchtet wurde, um uns an einem Fenster anzustellen, durch welche man seine Garderobe abgeben konnte. Es war schon einiges los. In der Luft schwebte der Duft von Patchouli gepaart mit Zigarettenqualm.
Ein paar Schritte weiter von der Garderobe entfernt befanden sich auf der rechten Seite die Toiletten. Fine und ich betraten sie um unser Aussehen im Spiegel zu überprüfen. Ein Mädchen mit Zigarette im Mund richtete gerade ihre Strapse als wir herein kamen. Sie löschte ihre Zigarette im Waschbecken, schmiss sie in den Eimer und sprühte sich noch eine halbe Flasche Haarspray in ihre auftoupierten Haare. Schließlich verschwand sie in der schwarzen Menge im Gang.
Erst als sie gegangen war, konnten wir an den Spiegel treten. Der Vorraum der Toiletten war so eng, dass man Mühe hatte, sich zu zweit darin zu bewegen. Schnell brachten wir die teils verlaufene Schminke wieder in Ordnung, kämmten unsere Haare und machten den nächsten zwei Mädchen Platz, die ebenfalls vom Wind massakriert waren.
Wir folgten den letzten paar Metern des Ganges in den großen Raum, in dem das Konzert stattfand. Auch darin wurde es nicht heller. Einzelne Lämpchen an der Wand, von denen manche flimmerten, sorgten für eine bizarre Beleuchtung.
Ich freute mich schon auf den Moment, wenn der Nebel dazu stieß und Strobolichter die Atmosphäre brachen. Es saßen bereits einige Konzertbesucher in der Mitte des Raumes auf dem Boden und lauschten der Musik aus den Boxen, während andere an der Seite standen und sich leise unterhielten.
Durch einen kleinen Durchgang gelangte man rechts von dem großen Raum in einen kleineren. In diesem befand sich die Bar mit fünf Tischen und ein paar Stühlen dazu. Fine bestellte sich eine Bloody Mary, ich einen Rotwein. Beides wurde in Plastikbechern gereicht.
Wir setzten uns an den noch letzten freien Tisch, auf dem ein kleines Teelicht flackerte. Genüsslich sogen wir an unseren Strohhalmen, die wir uns hatten geben lassen um beim Trinken unseren Lippenstift nicht zu entfernen und schauten uns das schwarze Treiben um uns herum an.
Wir hielten Ausschau, ob das eine oder andere bekannte Gesicht vorbei kam. In der Zeit, wo wir noch regelmäßig nach Berlin zum Feiern fuhren, hatten wir einige Leute kennen gelernt. Doch durch die Beziehung zu Max wurde es immer seltener, dass wir hierher kamen. Allein wollte Fine auch nicht so oft fahren und eine Begleitung aus Potsdam fand sie nur selten. So hatte auch sie schon lange niemanden mehr von den Bekannten hier getroffen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Fine griff beiläufig in meine Schachtel und redete, als ob nichts wäre. Ich grinste in mich hinein. Von wegen Nichtraucher. Ich sagte aber nichts.
„Wenn Matti oder Tobi heute da sind, müssten wir sie doch aber auf jeden Fall sehen, die müssen ja hier vorbei zur Bar“, grübelte Fine und renkte sich fast den Hals aus um durch den Durchgang in den großen Raum linsen zu können.
„Wir können ja, wenn wir aufgeraucht haben, mal herum laufen und schauen, ob wir noch jemanden entdecken“, meinte ich, wobei ich „wir“ besonders betonte.
Um Fines Mund spielte ein Grinsen, sie ging aber auf meine Anspielung nicht ein. „Ja, das können wir machen“, antwortete sie stattdessen und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas, an welchem sie sich halb verschluckte, als sie mit den Armen wild zu fuchteln anfing. „Hey, Maren!“, rief sie, nachdem sie es geschafft hatte ihre Bloody Mary herunter zu schlucken.
Ich drehte mich in die Richtung, in die Fine winkte und sah auch schon Maren auf uns zu laufen. Sie hatte ihre schwarzen langen Haare auf einer Seite abrasiert, die andere Seite war wild toupiert. In ihrem rechten Auge trug sie eine rote Kontaktlinse. Ihren Hals und ihre Handgelenke zierten Stachelnietenarmbänder. Das zerrissene Netzoberteil, über dem sie ein schwarzes Lackminikleid trug, arrangierte sich hervorragend mit den zerrissenen Netzstrapsen, die darunter hervor lugten. Mit schweren Lackstiefeln, welche extrem hohe Plateausohlen besaßen, stapfte sie zu uns an den Tisch. Als sie näher kam erkannte ich, dass ein Piercing mehr ihr Gesicht zierte.
Das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte, trug sie eines in Lippe und Nase, nun hatte sie sich auch eines in die Augenbraue stechen lassen. Ihre Ohren waren bereits voll mit Ringen, da konnte ich mit meinen neun Piercings in den Ohren nicht mithalten.
„Hallo! Mensch ihr seid auch mal wieder hier“, begrüßte uns Maren und drückte uns.
„Ja, ich konnte Tara endlich mal wieder dazu überreden hierher zu kommen. Aber sag mal, warum redest du so komisch?“, fragte Fine und zog eine Augenbraue hoch.
„Oh achso ja, das ist nur vorübergehend. Ich habe mir heute ein Zungenpiercing stechen lassen“, antwortete Maren und streckte stolz ihre Zunge heraus. Darauf prangte eine silberne Kugel, welche sich eng an die Zunge schmiegte.
„Sieht so aus, als drückt dir das Ding die Zunge ab“, meinte ich und beäugte es noch einmal.
„Das ist normal. Die Schwellung ist bald weg und dann kann ich damit schön herum spielen und das nicht nur allein“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.
„Na solange du dich damit nicht an seinem Intimschmuck verfängst“, meinte ich und wir lachten.
„Hast du eigentlich noch deinen komischen Freund?“, fragte mich Maren und setzte sich zu uns an den Tisch.
Bumm, da war es wieder. Ich wartete gerade auf den Stich im Herzen, aber nichts rührte sich. Keine Trauer, keine Wehmut, noch nicht einmal ein „schade“ empfand ich. Ich wollte nicht nur nicht darüber reden, sondern ich brauchte es auch nicht mehr. Das Gefühl, sich die Seele frei reden zu müssen, war wie weggeblasen. Sie fühlte sich noch nicht einmal schwermütig an. Das einzige was ich spürte war aufkommende Wut auf Max. Aber auch die ließ sich mit einem Schluck Rotwein schnell wieder hinunter spülen.
„Ne, mit ihm ist es aus. Ist auch gut so. Ich komme inzwischen damit klar“, antwortete ich schnell und versuchte flink das Thema zu wechseln. Zum Glück konnte ich da voll und ganz auf Fine zählen. Ihren prüfenden Blick auf mich spürend, ob auch wirklich alles in Ordnung war mit mir, fing sie an sofort über unseren gestrigen Shoppingtag zu reden und ließ sich von Maren den neuesten Tratsch erzählen.
So verging schnell eine halbe Stunde und während wir an der Bar neue Getränke bestellten, um im bald beginnenden Konzert nicht zur Bar zu müssen, klopfte es von hinten auf unsere Schultern.
Matthias und Tobias, oder auch Matti und Tobi, wie wir sie nannten, standen hinter uns.
Matti hatte immer noch seine Robert Smith - Frisur, während sich Tobi einen Undercut hatte schneiden lassen. Er besaß somit nur noch sein langes Deckhaar, dass er sich nach hinten als Pferdeschwanz gebunden hatte.
Tobi roch richtig gut nach Patchouli als ich ihn umarmte, so dass ich noch ein paar Sekunden länger ihn drückte, um an ihm zu schnuppern.
Die schwarz geschminkten Augen der beiden Jungs strahlten. Sie freuten sich ehrlich uns nach langer Zeit wiederzusehen.
Fine schien ihren Barkeeper vom gestrigen Abend schnell vergessen zu haben, während sie sich angeregt mit Matti unterhielt. Kein, in der Menge suchender Blick ließ den Augenkontakt zu Matti unterbrechen.
Zu fünft gingen wir vor zur Bühne. Der Raum war inzwischen sehr gut gefüllt. Alle standen ruhig und erwartungsvoll mit dem Blick in Richtung Bühne.
Als die erste Band die ersten Takte spielte und der Nebel begann in die Menge zu strömen, wurde mein ganzer Körper von Gänsehaut überzogen. Die Individuen um mich herum verschmolzen zu einer Masse. Wir wurden eine Gemeinschaft, die das gleiche sah, hörte und fühlte. Wir in diesem Raum waren eine Einheit geworden.
Während die erste Band „Lacrimosa“ nicht so ganz nach meinem Geschmack war, sorgte „Project Pichfork“ für einen Sound, bei dem man einfach mittanzen musste. Die Klänge durchströmten meinen Körper und ließen ihn sich im Rhythmus bewegen.
Im Laufe des Auftritts begann ich jedoch eine gewisse Unruhe in mir zu spüren. Ich wusste nicht woher sie kam. Die Leute um mich herum wirkten alle vergnügt und waren total bei der Sache. Die Musik war gut.
Ich versuchte das Gefühl zu ignorieren und hoffte, dass der Rotwein sein Übriges dazu tat, mich wieder in die vorhergehende Stimmung zu bringen.
Jedoch wurde das Gefühl immer stärker. Ich glaubte Blicke auf meinem Rücken zu spüren, als ob ich beobachtet werden würde. Ich drehte mich zu allen Seiten um, aber ich konnte niemanden ausmachen, der mich beobachten würde.
Ich versuchte mich wieder auf die Band zu konzentrieren, doch während der abschließenden Klänge ihres letzten Liedes war nicht nur das Gefühl noch da, ich spürte ebenfalls einen eisigen Windhauch in meinem Nacken.
Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die dunklen Augen von IHM. Der Typ aus der Bar von gestern Abend, der plötzlich verschwunden war, stand ein paar Schritte von mir entfernt und starrte mich an.
Obwohl er auch dieses Mal sah, dass ich es bemerkte, schaute er dennoch erneut nicht weg. Mein Herz fing an wie wild zu schlagen. Mit so einem Beat konnte nicht einmal diese Band mithalten. Mir wurde es abwechselnd heiß und kalt und eine feine Röte stieg mir ins Gesicht. Am liebsten hätte ich meinen Blick von ihm abgewandt, so peinlich war mir dies, aber ich konnte nicht. Wie versteinert stand ich da. Ich konnte nicht denken und mich nicht bewegen. Ich wünschte, ich hätte es gekonnt um ihn zu fragen wer er ist. Aber mein Körper und mein Gehirn arbeiteten nicht mehr zusammen.
Von ganz weit weg hörte ich meinen Namen rufen und spürte eine leichte Berührung. Die Stimme wurde immer lauter und der Druck in meinem Arm immer stärker.
„Tara, hey, was ist denn los? In welchen Gedanken bist du denn versunken?“ Fine kniff mir in den Arm. Als ob ich aus einer Trance erwachte, konnte ich nur langsam wahrnehmen, was sie von mir wollte und drehte wie in Zeitlupe meinen Kopf in ihre Richtung.
„In welcher Welt warst du denn versunken? Oder hast du dort drüben etwas Hübsches entdeckt? Vielleicht der Barkeeper von gestern?“, neugierig lugte sie über meine Schulter.
„D-D-Der Typ v-v-v-von ges-gestern Abend... d-der ist hi-hi-hier“, stammelte ich noch total unter Schock stehend.
„Wo denn? Wo? Ich sehe ihn nicht?“ Fine verrenkte sich fast den Hals auf der Suche nach ihm.
Schnell drehte ich mich um und schaute in die Richtung, wo er zuvor gestanden hatte. Weg war er. Wieder. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich suchte den ganzen Saal mit den Augen ab, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. „Er ist weg“, stieß ich fassungslos aus.
„Oder vielleicht war er auch nicht da?“, fragte Fine vorsichtig. „Vielleicht hast du bereits ein bisschen zu tief ins Glas geschaut und ihn dir nur her gewünscht?“, neckend stieß sie mich in die Seite.
Verwirrt schaute ich mich weiter um. Ich hatte es doch nicht geträumt. Er stand doch wirklich da. Oder nicht? Das Gefühl beobachtet zu werden war ebenfalls weg. Tobi legte seinen Arm um mich.
„Wen suchst du denn? Ich bin doch hier. Du verpasst doch den ganzen Auftritt von 'Endraum'“. Ich schaute in sein schmales Gesicht. Seine Augen mit den weißen Kontaktlinsen schauten mich aufmunternd an.
Ich atmete tief durch und richtete meinen Blick wieder auf die Bühne. Tatsächlich waren „Endraum“ bereits mitten am Spielen. Fine und Maren waren am Tanzen und auch Matti bewegte sich leicht mit.
„Prost!“, flüsterte Tobi mir ins Ohr und stieß mit seinem Bier an meinem Wein an.
„Prost!“, lächelte ich zurück und nahm einen tiefen Schluck. So ganz konnte ich mich nicht auf die Band konzentrieren. Zu sehr kreisten meine Gedanken noch um das merkwürdige Geschehen von gerade eben.
Doch dann kamen „Das Ich“ auf die Bühne und rissen mich mit Haut und Haar in ihren Bann. Vergessen war der Typ, zumindest für diesen Moment. Ich befreite mich aus dem Arm von Tobi und tanzte mit der Menge und die Menge tanzte mit mir.
Nach der dritten Zugabe gingen „Das Ich“ letztendlich von der Bühne. Die Konzertbeleuchtung wurde auf Fetenbeleuchtung umgestellt und aus den Boxen dröhnten die ersten elektronischen Klänge von Welle:Erdball: „Ich träum von dir“. Diese Band wurde auch gestern gespielt, als wir die Bar betraten und ich den Fremden zum ersten Mal sah.
Ich versuchte keinen Zusammenhang darin zu sehen und drängte die Gedanken zur Seite.
Wir fünf gingen zur Bar, an der nun reges Gedränge herrschte. Ich überlegte mir, ob ich noch einen 0,2 Becher mit Rotwein mir bestellen sollte. Aber ich beschloss, dass der Alkohol nichts mit der Erscheinung des Typen zu tun hatte und bestellte mir daher einen weiteren Rotwein.
Zusammen stießen wir an auf einen weiterhin schönen Abend.
„Hast du schon lange ein Bauchnabelpiercing? Das habe ich ja noch nie bemerkt“, fragte mich Tobi und betrachtete den rot leuchtenden Stein, der an einem Anhänger am Bauchnabel hing.
„Ja, das habe ich schon eine Weile“, meinte ich.
„Hm, ich glaube du zeigst mit eindeutig zu selten deinen Körper. Was versteckst du denn noch so unter deiner Kleidung?“, raunte Tobi und zwinkerte mir zu.
„Nichts, was dich zu interessieren hätte“, antwortete ich und streckte ihm die Zunge raus.
„Na zumindest ein Zungenpiercing hast du noch nicht. Den Rest finde ich schon noch raus“, meinte Tobi zuversichtlich und drückte mir einen Kuss auf die Wange, eh er sich an mir vorbei drückte und sich in Richtung Toilette aufmachte. Gespielt drohend erhob ich den Zeigefinger und grinste ihm kopfschüttelnd hinter-her.
Maren hatte inzwischen an der Bar eine neue Bekanntschaft geschlossen. Der Typ war mindestens um die dreißig Jahre und somit gut zehn Jahre älter als sie. Er hatte kurze, an den Seiten hoch toupierte Haare und über sein rechtes Auge fiel eine breite leicht toupierte Strähne. Drei silberne schwere Ketten hingen in unterschiedlichen Längen um den Hals. Auch an den Handgelenken und an den Klamotten hingen schwere, Metallketten. Zwei große Siegelringe zierten seine Hände, von denen die eine anfing, mit einzelnen Haarsträhnen von Maren zu spielen.
Ohne Zweifel würden die beiden heute noch eine sehr befriedigende Nacht zusammen verbringen. Maren lag nichts an festen Beziehungen. Sie mochte es ungebunden zu sein und soviel Spaß wie möglich zu haben. Wenn sich dabei die eine oder andere Gelegenheit mit dem anderen Geschlecht ergab sich zu vergnügen, nahm sie das ohne lange oder ohne überhaupt zu überlegen gerne an.
Fine war da ganz anders. Sie hatte keinen Freund, weil sie wohl zu anspruchsvoll war und es auch nicht darauf anlegte einen zu finden. Sie mochte es, sich sämtliche Möglichkeiten offen zu halten, ohne eine auch nur für ein kleines Abenteuer zu nutzen. Sie war nicht der Typ, der sich schnell auf einen Mann einließ und sie war der Meinung, dass sie irgendwann dem Mann schon begegnen würde, mit dem sie eine Beziehung eingehen wollte.
Wie ich war konnte ich nicht genau beurteilen. Vor Max hatte ich auch schon zwei feste Freunde gehabt, aber auch flüchtige Abenteuer. Ich würde mir bestimmt eher wieder eine Beziehung wünschen, als von Mann zu Mann zu springen, jedoch war ich mir nicht sicher, ob vielleicht gerade letzteres im Moment gar nicht so schlecht wäre.
Hier liefen schon einige hübsche Kerlchen herum und es wäre heute Abend ein leichtes jemanden für eine Nacht zu finden. Aber irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass es dafür noch zu früh wäre. Ich musste ja auch nichts überstürzen. Einen Schritt nach dem anderen zu tun war bestimmt besser um mich gänzlich von Max zu lösen und meinen Gefühlshaushalt wieder herzu-stellen hatte für mich oberste Priorität.
Also ignorierte ich die lüsternen Blicke von dem Tisch vor der Bar und den Popoklatscher von Tobi, als er von der Toilette zurück kam und ging mit Fine auf die Tanzfläche. Dort angekommen ließ ich die Musik durch meinen Körper fließen und alle Gedanken zerstreuen. Mein Kopf war leer und mein Körper frei.
Gegen 4 Uhr morgens waren Fine und ich restlos geschafft. Die Schminke war durch das Schwitzen beim Tanzen und den Auswirkungen des Alkohols längst nicht mehr so perfekt wie zu Beginn des Abends. Teilweise war sie verwischt oder weggeschwitzt. Die Füße taten weh auf Grund der hohen Schuhe und wir setzten uns an einen Tisch neben der Bar um uns auszuruhen.
Maren und der Glückliche für den heutigen Abend waren bereits vor zwei Stunden verschwunden. Matti knutschte in der Ecke mit einem Mädel herum.
"Was findet Matti nur an der Schlampe?", lallte Fine und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab.
"Eifersüchtig?", neckte ich sie.
"Auf die? Pah, nicht mal im Traum." Fine winkte übertrieben ab. Ich grinste in mich hinein.
"Wo war denn dein Barkeeper von gestern? Wollte er heute nicht kommen?" Ich wusste, dass Fine ihn bereits wieder vergessen hatte. Den ganzen Abend hatte sie immer wieder Mattis Nähe gesucht. Ein Wunder, dass er überhaupt die Möglichkeit fand, ein anderes Mädel aufzureißen. Fine zuckte mit den Schultern.
"Ach der…, ach ist mir auch egal. Ich brauche keinen von denen." Sie zündete sich umständlich eine Zigarette von mir an und stützte ihren Kopf wieder auf ihre Hand.
Auch Tobi wirkte alles andere als fit, als er sich neben uns auf den Boden fallen ließ.
„Oh, so zu unseren Füßen wollten wir dich schon immer einmal sitzen sehen“, spottete ich und hielt ihm meinen Stiefel hin.
„Los küssen!“, befahl ich ihm scherzhaft. Daraufhin fing er an meinen Stiefel zu liebkosen und Fine und mich schmiss es vor Lachen.
„Hey ausgelacht wird nicht“, Tobi sprang auf, hob mich von meinem Stuhl, nahm selbst darauf Platz und setzte mich auf seinen Schoß ab. Er legte seine Arme um mich und schmiegte seinen Kopf an meinen Rücken.
„Tobi müde. Tobi mag kuscheln“, murmelte er in meine Haare.
„Tobi mag sicher vieles, aber bestimmt nicht nur kuscheln“, neckte ihn Fine und lachte. Liebevoll tätschelte ich ihm den Kopf.
„Armer Tobi, jetzt wäre ich bereit und du bist zu müde um deinen Mann zu stehen.“
„Was? Ne, ne, ich bin sofort wieder top fit, ich stehe Gewehr bei Fuß, wenn du es willst?!“, fragend schaute er mich an und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Was wäre das Leben ohne Hoffnung und ohne Träume?! Aber in deinem Traum kannst du mit mir machen was du willst.“ Fine prustete ihre Wodka-Cola über den Tisch vor Lachen und Tobi drückte mich noch fester.
„Irgendwann merkst du schon, dass du mich auch willst“, flüsterte Tobi und schloss die Augen, als würde er einschlafen wollen. Ich wusste nicht genau, wie ich den Satz deuten sollte, ob das nur eine rein sexuelle Anspielung war oder ob er damit mehr sagen wollte.
Auch Fine zuckte mit den Schultern und schaute mich ratlos an. Mir wurde die Situation nun zu unangenehm. Ich trank aus und deutete Fine an, dass wir gehen sollten. Fine nahm ebenfalls den letzten Schluck und stand auf. Ich löste vorsichtig Tobis Arme. Dabei wurde er wieder wach und schaute mich mit großen Augen an. „Geht ihr schon?“, fragte er.
„Ja wir sind müde und total kaputt. Wir wollen nur noch ins Bett.“ Und das war noch nicht einmal gelogen. Ich war mir sicher, sobald wir unser Zimmer betraten, fielen wir schlafend ins Bett. Tobi stand auf und drückte mich noch einmal ganz fest.
„Komm gut nach Hause und ich hoffe wir sehen uns bald wieder“, flüsterte er mir ins Ohr. Er gab Fine noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ver-schwand in der Menge. Seine Patchouli-Fahne schwebte hinter ihm her.
Als wir das Dark Hole verließen schlug uns die kalte Luft wie eine Faust ins Gesicht. Sofort wurden wir hellwach. Einerseits tat es gut, da wir so überhitzt waren. Andererseits war es für unseren Alkoholzustand bestimmt nicht förderlich. Zumal uns ein warmes Pensionszimmer erwartete. Eingehakt liefen wir in Richtung Pension. Jeder Schritt tat am Fußballen höllisch weh. Eine zeitlang lief unsere Kommunikation mit einem abwechselnden „Au!“, „Au!“, „Au!“, „Au!“, ab, bis Fine diesen monotonen Dialog unterbrach und mich auf Tobi ansprach.
„Ich habe das ja noch nie so wahr genommen wie heute. Aber Tobi scheint wohl doch mehr als nur oberflächlich an dir interessiert zu sein. Er verbrachte den größten Teil des Abends an deiner Seite.“
„Hm, ich hatte mich auch schon gewundert. Ich meine, die sexuellen Anspielungen machte er ja immer, aber dieses Anfassen heute und dann dieser Satz…, aber er weiß doch auch gar nicht, dass ich nicht mehr mit Max zusammen bin. Warum sollte er sich da jetzt auf einmal bemühen, wo er es davor doch auch nicht tat“, grübelte ich.
„Nun ja, Maren hatte ihm erzählt, dass du wieder solo bist. Ich denke mal, er hat jetzt seine Chance gewittert, solange du noch zu haben bist“, meinte Fine.
„Wäre er denn was für dich? Ich meine, er ist ja sehr nett und gut sieht er auch aus.“
„Ich weiß nicht. Ich habe mir bisher da nie Gedanken darüber gemacht, weil ich ja mit Max zusammen war. Auch so..., irgendwie ist da nicht dieses gewisse Kribbeln. Weißt du es fehlt irgendwie diese…“,
„…Magie“, beendete Fine meinen Satz.
„Ja genau“, pflichtete ich ihr bei und wieder erschien das Gesicht des geheimnisvollen Fremden in meinem Kopf. So wie ich mich bei ihm gefühlt hatte, so sollte es doch eigentlich auch sein.
„Ich weiß genau was du meinst“, antwortete Fine und begann mir die Geschichte von ihrer ersten, großen Liebe zu erzählen. Dies erlebte sie bevor wir einander kennen lernten und sie hatte mir diese Geschichte bisher noch nie erzählt. Somit riss sie mich aus meiner Erinnerung an den Fremden und ich hörte mir aufmerksam ihre traurige Geschichte an.
„Ich war sechszehn gewesen. Er hieß Jens. Ich war so schrecklich in ihn verliebt. Seine Eltern hatten einen Ausreiseantrag gestellt. Als meine Eltern dies erfuhren, verboten sie mir mich weiterhin mit ihm zu treffen. Sie wollten nicht, dass wir damit in Verbindung gebracht wurden. Jens und ich trafen uns daher nur noch heimlich, bis er mit seinen Eltern nach drüben zog. Er hatte mir bei unserem letzten Treffen seine neue Adresse zugesteckt. Nach der Wende bin ich dorthin gefahren, um ihn wiederzusehen. Aber an dieser Adresse fand ich ihn nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob er überhaupt jemals dort gewohnt hatte oder ob seine Eltern ihm eine falsche Adresse nannten, damit er dies nicht aus Versehen an die Falschen verriet. Es bestand keine Chance mehr ihn wiederzufinden.“
Diese Geschichte berührte mich sehr und ich nahm sie tröstend in den Arm.
Wir kamen gerade an der Pension an und ich stellte mir vor, wie schrecklich das für sie gewesen sein musste, den einzigen Jungen zu verlieren, den sie bis jetzt je richtig geliebt hatte, als ich einen Schatten wahrnahm. Er huschte hinter meinem Rücken los in eine finstere Ecke auf der anderen Straßenseite. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte rein gar nichts erkennen. Ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht, da bewegte er sich wieder. Dieses Mal zog er in die Nähe einer Straßenlaterne, so dass ihr Schein ihn leicht erreichte. Nun konnte ich einen Umriss erkennen. Der Schatten ging noch ein Stück weiter und ich erstarrte. Das Licht fiel auf ein, mir mittlerweile wohl bekanntes Gesicht.
ER stand da im Schein der Straßenlaterne und schaute mich wieder an. Ich konnte es nicht fassen. Ein dicker Kloß breitete sich in meinem Hals aus, sodass ich unfähig war Fine Bescheid zu geben, dass der Typ aus der Bar wirklich dort stand. Ich traute meinen eigenen Sinnen nicht und kniff die Augen fest zusammen.
Ich zählte bis drei und riss sie auf, um erneut dorthin zu schauen, wo er stand. Ich konnte gerade noch sehen, wie er aus dem Licht zurück wich. Er war wieder ganz im Schatten verschwunden doch seine Augen leuchteten mich an.
Mit einem Mal waren jedoch auch sie verschwunden und ich spürte einen kalten Lufthauch an mir vorbei ziehen. Ich schüttelte mich. Was war denn das jetzt wieder gewesen? Ich beschloss Fine nichts davon zu erzählen. Am Ende war mir der viele Alkoholkonsum während der Trauerphase nach der Trennung von Max doch nicht bekommen und nun fing ich an zu halluzinieren. Fine würde mir bestimmt kein Wort glauben. Sie würde mich fragen, ob ich schon Geister sehen würde. Somit war es wirklich das Beste darüber zu schweigen.
In dem Versuch mir nichts anmerken zu lassen, folgte ich Fine auf unser Zimmer. Fine fiel hundemüde ins Bett, sie konnte sich kaum noch mit mir unterhalten. Während sie bereits ins Land der Träume entschlum-merte, lag ich hellwach da und grübelte über diesen Unbekannten. Sollte ich zweimal an einem Abend solche Hirngespinste haben? Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Und gestern in der Bar hatte Fine ihn ja auch gesehen. Konnte ich meiner Wahrnehmung nun trauen oder nicht? Über diesen Überlegungen fiel ich ohne eine Antwort zu finden in einen tiefen Schlaf.