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4 Loslassen

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Als ich erwachte, war der Morgen schon längst angebrochen. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses wider.

Ich hörte wie sich zwei Männer auf der Straße anschrien. Den einen erkannte ich an der Stimme. Er wurde von allen Ole genannt. Wie er richtig hieß, wusste ich nicht. Er bezeichnete sich selbst als Punk, war jedoch im Vergleich zu seinen Kameraden schon ziemlich alt. Allerdings konnte ich mir gut vorstellen, worüber der Streit ging.

Fremde Menschen waren hier im Viertel von einigen nicht gern gesehen, besonders nicht von Ole. Seit der Wende kamen aber nun ab und an Leute von drüben um sich die Häuser anzusehen, die historisch von Bedeutung waren, um eventuell das ein oder andere Holländerhaus zu kaufen.

Der Punk Ole hatte jedoch die Wende noch nicht so gut verkraftet und vermutete daher bei jedem fremden Anzugträger, der noch dazu neugierige Fragen stellte, dass dieser zur Stasi gehörte. Vermutlich machte Ole gerade dies mal wieder einem Wessi zum Vorwurf.

Ich gähnte und räkelte mich. So gut wie in dieser Nacht hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Kein nächtliches Aufwecken und Wachliegen, keine Alp-träume und keinen Kater am nächsten Morgen, sondern einfach nur ein frisches, ausgeruhtes Wohlbefinden. Ich wickelte mich aus meiner Decke und ging zum Fenster um es zu öffnen. Ein lauwarmes Lüftchen wehte mir entgegen. Es schien heute ein warmer, letzter Septembertag zu werden.

Es roch nach Lavendel und Rose. Sabine vom Nachbarhaus schien neue Rezepte für Seifen auszu-probieren. Ein leises Rattern einer Töpferscheibe drang mir ins Ohr. Der Klang kam aus dem Haus von Thomas und seiner Frau Paula. Die beiden wohnten zwei Häuser weiter von mir auf der anderen Straßenseite. Thomas machte nicht nur gewöhnliche Töpferarbeiten wie Vasen oder Krüge. Er experimentierte gern und zauberte aus der Tonmasse auch mal kleine Elfen oder Tiere hervor, manchmal sogar ganze Skulpturen. Seine Frau stellte Schmuck her aus Perlen, Steinen und Federn und allerlei bunten Dingen, die sich aufkleben oder aufreihen ließen. Nebenbei fertigte Thomas auch kleine Tonanhänger für Paulas Schmuck an.

Ich mochte es ihnen beim Arbeiten zuzuschauen, wenn ich mal die Gelegenheit erhielt und sie ihre Fenster offen hatten. Sie waren ein nettes Paar und es wurde gemunkelt, dass Paula wohl langsam besser mit dem Stricken von Babysachen anfangen sollte, anstatt ihren Schmuck zu basteln. Ich war gespannt, ob ihr Kind genauso kreativ werden würde wie seine Eltern es waren.

Der Wessi hatte inzwischen genug von Oles Pöbeleien und war gegangen. Ole stand noch da und schimpfte vor sich hin. Schließlich ging er weiter in Richtung Benkertstraße. Wahrscheinlich wollte er zu Jan, der vor seinem Haus bereits Stühle hinausstellte. Ich atmete tief die frische Luft ein und ging dann in die Küche um mir einen Kaffee aufzusetzen.

Gut gedacht, aber der Kaffee war alle. Genau wie alles andere bei mir, wie ich mit einem Blick in den Kühlschrank und in die Schränke feststellte. Gewürzgurken wollte ich heute Morgen nun echt keine mehr essen. Ich beschloss also mich zuerst einmal ausgiebig zu duschen und zu pflegen und danach zu Marla zu gehen. Sie besaß ein kleines Café und hatte jeden Morgen ganz leckere, frische Schrippen und selbst gemachte Marmelade.

Ich duschte ausgiebig. Das Badezimmer war voller Wasserdampf als ich aus der Dusche herauskam. Ich trocknete mich ab, kämmte mir die nassen Haare und wischte den beschlagenen Spiegel trocken. Ich fönte meine Haare und betrachtete das Ergebnis im Spiegel. Das dunkelrot meiner Haare war inzwischen ausgewaschen und wirkte eher orangebraun. Ein etwa 5cm breiter Ansatz in meiner Naturhaarfarbe aschblond, bzw. „Straßenkötermischung“, wie sie auch genannt wurde, ließ die Haare noch ungepflegter aussehen. Die Spitzen meiner fast bis zum Po reichenden langen Haare waren ungleich lang und ausgefranst. Ein Friseurbesuch vor dem Wochenende war unbedingt noch nötig. Mein Magenknurren unterbrach meinen prüfenden Blick im Spiegel. Also entschloss ich mich schnell Zähne zu putzen und anzuziehen und zehn Minuten später war ich bereits auf den Weg zu Marla.

Als ich das Café betrat, empfing mich der Duft von frisch gemahlenen Kaffee. Marla bediente gerade Peter und seine Freundin Nele, die ihren kleinen Sohn auf dem Schoß hatte. Ich setzte mich einen Tisch weiter neben den Dreien hin.

Ich wohnte bereits seit dreieinhalb Jahren in dem Viertel und ich war inzwischen sehr gut von meinen Nachbarn in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Dennoch traute ich mir nicht, mich einfach zu ihnen an den Tisch zu setzen oder ohne Einladung mich einfach mit zu den unterhaltsamen Grüppchen vor den Häusern zu gesellen. Tom meinte immer, ich wäre zu schüchtern. Damit hatte er auch sicherlich recht.

Andererseits genoss ich es auch gern allein zu sein und nur Kontakt zu suchen, wenn mir einmal danach war, weswegen ich mich nicht zu sehr integrieren wollte, um nicht ständig von irgendjemanden nach einem Treffen gefragt zu werden.

Marla kam an meinen Tisch und schenkte mir ihr warmes und herzliches Lächeln. Ihr Alter schätzte ich auf ungefähr Mitte 50. Sie lebte hier ohne Mann und ohne Kinder. Sie meinte stets, dass dies der Grund dafür sei, warum sie noch so eine tolle Figur hätte und noch so gut aussah.

So wie ich gehört hatte, war sie noch nie verheiratet gewesen. Ihr Vater war im Krieg umgekommen, als sie noch sehr klein gewesen war und so wuchs sie mit ihren vier Geschwistern nur bei der Mutter auf. Es hieß, sie wäre mit achtzehn von zu Hause weg und hätte ab Ende der 50er Jahre im Milieu gearbeitet. Manche meinten, sie wäre da Sängerin gewesen in einschlägigen Bars. Andere meinten, sie hätte dort als Prostituierte gearbeitet und wäre da sogar von einem Kunden schwanger geworden, doch hätte sie ihr Kind abgeben müssen.

Wie es wirklich war wusste nur Marla und sie hatte nicht die Absicht jemals ihr Geheimnis über ihre Vergangenheit zu lüften.

„Na Herzl“, sprach Marla mit ihrer samtigen Stimme. „Das Gleiche wie immer?“ Ich nickte und strahlte sie an. Ich fühlte mich in ihrer Nähe immer so wohl und geborgen. Wir brauchten nicht viele Worte um uns einfach gut zu verstehen.

„Hey Tara, wo waren du und Max denn am Freitag gewesen? Wölfchen meinte, dass ihr kommen wolltet oder hattet ihr doch Angst vorm Schnaps bekommen?“, fragte mich Nele.

Mist! Da war die Frage, vor der ich die ganze Zeit schon Angst hatte. Max und ich waren von Wölfchen zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen wurden. Er wurde 22 und da dies eine Schnapszahl war, meinte er, dass es auch 22 verschiedene Schnapssorten geben sollte. Er hatte die halbe Mittelstraße dazu eingeladen und auch einige von der Benkertstraße. Im Hof sollte gegrillt werden und jeder musste etwas zum Trinken, Essen oder Spielen mitbringen.

Ich hatte bis nachts um 4 Uhr noch alle feiern gehört. Sie hatten gesungen und Musik gemacht. Ich hatte beobachtet wie manche betrunken bei mir vorbei nach Hause torkelten und ich hatte ihnen mit Tränen in den Augen nach geschaut.

„Weißt du Nele, Max hatte sich am Dienstag von mir getrennt. Daher hatte ich keine Lust auf Wölfchens Feier“, antwortete ich mit gesenktem Blick und versuchte meine Stimme halbwegs kräftig klingen zu lassen, aber sie zitterte als ich die Worte bildete.

„Oh, das tut mir leid. Das wusste ich nicht. Wie geht es dir? Das hat dich bestimmt sehr mitgenommen. Gott, wie lange wart ihr zusammen, zwei Jahre?“, meinte Nele bestürzt und griff tröstend nach meinem Arm.

„Ja knapp zwei Jahre waren es. Es geht inzwischen wieder. Ich denke mal, das Schlimmste habe ich überstanden.“ Und das hoffte ich wirklich, wenn schon so eine banalen Frage drohte, mich aus der Bahn zu werfen, wie sollte es da sein, wenn er mir einmal über den Weg lief?

„Du kannst eigentlich froh sein ihn los zu haben. Er hatte dir doch noch nie gut getan. Ein verlogener Hund ist der, wie sein Onkel auch“, regte sich Peter auf.

„Komm, lass gut sein“, versuchte Nele ihren Freund zu beruhigen. „Das ist doch schon Jahre her.“ Max’ Onkel war ein alter Bekannter von Peters Vater gewesen. Der Onkel hatte ihn bei der Stasi angezeigt und Peters Vater war gerade so noch mit einem blauen Auge davon gekommen.

„Ne, ich hatte von Anfang an gesagt, dass dieser Kerl nichts taugt und jetzt siehst du was er Tara angetan hat.“ Peter ließ sich nicht beschwichtigen. Max und seine Familie waren ein rotes Tuch für ihn und nur mir zu liebe hatte er versucht Max zu akzeptieren. Ich war daher sehr froh, als die beiden bezahlten und gingen. Noch länger hätte ich über meinen Exfreund nicht reden wollen. Eigentlich versuchte ich alles zu verdrängen, denn den Versuch des Bewältigens hatte ich ja nun schon eine Woche hinter mir. Nele drückte mich beim Verabschieden und meinte, dass alles schon wieder werden würde. Peter drückte mir die Schulter und zwinkerte mir aufmunternd zu.

Dann kam auch schon Marla mit meinem Frühstück. In meinen Kaffee hatte sie bereits einen Schluck Milch hineingetan und mir auch schon das Ei geschält. Die zwei Brötchen waren einmal mit Käse belegt und einmal mit Honig. Über die eine Käsehälfte hatte sie leicht Erdbeermarmelade gezogen, weil sie wusste, dass ich das ab und an ganz gerne aß. Ich brauchte nur noch zu zubeißen und das tat ich auch mit Genuss. Das erste vernünftige Essen seit Tagen und es schmeckte spitzenmäßig.

Nachdem ich mit dem Essen fertig war, beschloss ich noch bei Tom und Paula vorbei zu schauen. Die Uni ging erst um 14 Uhr los und bis dahin waren es noch knapp drei Stunden. Ich wollte schauen, ob ich vielleicht schönen Schmuck bei Paula kaufen konnte. Normalerweise stellte sie eher bunte Dinge her, denn sie mochte es mit Farben zu arbeiten. Aber ab und an fand ich doch etwas bei ihr, was mehr in meine schwarze Richtung passte.

Paula war gerade allein im Laden. Als ich die Tür öffnete drehte sie sich zu mir um und kam sofort auf mich zu gerannt. Sie nahm meine Hände in ihre und schaute mir besorgt in die Augen.

„Was ist dir passiert meine Schöne? Ich spüre, dass es dir nicht gut geht. Ist was mit Max?“ Paula hatte eine „esoterische Ader“, wie sie es nannte. Sie spürte sofort, wenn es jemanden nicht gut ging. Das es wegen Max sein könnte, war wohl das Wahrscheinlichste für sie, da sie bereits einige Streitereien zwischen ihm und mir mitbekommen hatte. Nun ja, so wie ich in ihr Fenster schauen konnte, so konnte sie es auch bei mir.

„Er hat sich am Dienstag von mir getrennt.“ Ich versuchte ihr bei diesem Satz nicht in die Augen zu schauen. Diesen mitleidigen Blick konnte ich nicht ertragen.

„Du Ärmste, kann ich dir irgendwie helfen?“ Sie nahm mich in die Arme und drückte mich ganz fest.

„Nein, danke, das ist lieb…, aber nein es geht schon“, antwortete ich. Paula kannte ich eigentlich schon die ganze Zeit, seit ich in dem Viertel wohnte. Sie war die erste, die ich hier kennen gelernt hatte und sie kümmerte sich anfangs sehr viel um mich und sorgte dafür, dass ich mich gut einlebte und Kontakte zu den Anderen fand. Seit dem waren wir gute Freundinnen und wir redeten über so ziemlich alles, aber dennoch hatte ich mich immer noch nicht so ganz an ihre liebevolle, freundliche Art gewöhnt, die einen manchmal total überrumpeln konnte. Gerade weil ich selbst ein eher zurückhaltender Typ war, hatte ich Schwierigkeiten mit dieser Nähe. Sie war ein richtiges Blumenkind, das gerne Liebe gab und auch wollte, dass sich alle lieb hatten.

„Aber ich bin eigentlich aus einem anderen Grund hier“, versuchte ich das Thema zu wechseln. Sie ließ mich los und legte ihre langen, dunkelbraunen Haare, von denen sie einzelne Strähnen geflochten hatte, über ihre rechte Schulter.

„Möchtest du etwa schauen, ob ich beim Schmuckmachen mal wieder an deinen Geschmack gedacht habe?“, neckte sie mich mit ihrem bezaubernden Lächeln, das ihre Augen strahlen ließen. Ich grinste „Erraten!“, antwortete ich ihr.

„Na da komm mal mit. Ich war vor ein paar Tagen in Berlin gewesen in einem wundervollen Laden mit ganz vielen Steinen und Perlen. Da hatte ich etwas entdeckt, was mich sofort an dich erinnerte und da ich noch Samtreste zu Hause hatte, bastelte ich sofort, als ich nach Hause kam, dieses Schmuckstück“, erzählte sie mir, als wir in den hinteren Bereich des Ladens gingen, wo sie ihren Schmuck herstellte und überreichte mir ein schwarzes, samtenes Halsband mit einem blutroten, tropfenförmigen Rubin als Anhänger und kleinen schwarzen Perlen, die in unterschiedlichen Längen zu beiden Seiten des Anhängers aufgereiht waren. Ich war überwältigt. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Sprachlos, mit großen Augen und offenen Mund bestaunte ich das Schmuckband.

„Das…, das…, das ist perfekt“, stammelte ich schließlich und konnte den Blick immer noch nicht davon abwenden.

„Dachte ich mir doch, dass es dir gefallen wird.“ Zufrieden und stolz schaute mich Paula an.

„Es ist so wunderschön, aber ich glaube nicht, dass ich mir das leisten kann.“ Nur weil Paula und ich befreundet waren, wollte ich ihr den Schmuck nun auch nicht für lau abwerben.

„Ach, gib mir 30 DM dafür und dann passt das schon. Somit habe ich die Unkosten für den Granat rein und alles andere kann ich dir auch so überlassen. Außerdem würde es mir schwer fallen, jemand Anderen für so etwas begeistern zu können“, schmunzelte sie.

„Danke, ich weiß gar nicht was ich sagen soll! Danke, es ist wirklich traumhaft schön.“ Ich holte meine Geldbörse heraus und gab ihr die 30DM.

„So meine Schöne, ich habe neuen Tee da. Hast du noch Zeit für ein Plauderstündchen?“, fragte mich Paula und hob neckend eine Augenbraue.

„Aber natürlich! Ich muss doch wissen, welche Sorte Tee es noch so auf dem Markt gibt“, antwortete ich gespielt damenhaft. Paula setzte das Teewasser auf und bereitete die Teeeier vor.

„Nun möchte ich aber einmal etwas von dir wissen. Es pfeifen die Spatzen vom Dach, dass der Storch hier bald einen Besuch abstatten wird. Ist daran etwas dran?“ Mit großen Augen wartete ich gespannt auf die Antwort und stellte mir dabei schon die zierliche Paula mit Babybauch vor.

„Hm, nun ja“, grinsend rollte sie ihre Augen gen Himmel. „Ich würde mal sagen, er kommt so Anfang April vorbei.“ Ich sprang auf und umarmte sie stürmisch. Paula und Tom hatten schon länger versucht ein Kind zu bekommen und nun hatte es endlich geklappt. „Oh ich freue mich so für euch! Da wird es sogar ein Widder, so wie du es dir gewünscht hattest.“

„Richtig! Ich glaube auch, dass es ein Mädchen wird. Irgendwie habe ich das im Gefühl.“

„Na, da werde ich schon einmal nach rosa Babysachen schauen, dein Gefühl täuscht dich ja nie.“ Paula lachte und übergoss den Tee mit dem heißen Wasser. Wir setzten uns hin und redeten über das Baby, über den neusten Klatsch aus dem Viertel und was uns noch so gerade in den Sinn kam. Kurz nach um eins verabschiedete ich mich von ihr. Ich wollte noch einmal kurz zu mir nach Hause um meine Studienunterlagen zu holen. Ich drückte sie fest und streichelte über ihren noch nicht vorhandenen Bauch. Ich war selbst total aufgeregt und gespannt auf das Kleine.

Pünktlich um dreiviertel zwei kam ich in der Uni an. „Oh ich bin beeindruckt. Nicht nur, dass du da bist, du bist sogar zur verabredeten Zeit hier“, spottete Fine und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Natürlich, hast du jemals etwas anderes bei mir erlebt?“, gespielt entrüstet schaute ich sie an. Wir lachten und machten uns auf den Weg zum Hörsaal.

„Dir scheint es ja wirklich wieder besser zu gehen. Das freut mich, Tara, endlich sehe ich dich mal wieder lachen“, meinte Fine.

„Ja, mir geht es auch wirklich besser“, antwortete ich. „Ich habe gestern meine ganze Wohnung geputzt und seit langem endlich einmal wieder gut geschlafen. Übrigens, ich war heute bei Paula gewesen. Sie hat mir ein wunderschönes Halsband gemacht. Das werde ich wohl am Samstag gleich tragen und weißt du was, sie ist schwanger“, sprudelte es aus mir heraus. Fine fand Paula immer ein bisschen schräg, aber dennoch mochte sie die Frau genauso wie ich.

„Ist nicht wahr, oder? Wurde ja auch langsam Zeit bei den Beiden. Jetzt muss Nele ihren Kleinen nicht mehr ständig zum Spielen an Paula ausleihen.“ Wir lachten und überlegten uns, was wir ihr zur Geburt schenken könnten. Es war zwar noch einige Zeit hin, aber es machte einfach Spaß sich darüber zu unterhalten. Als wir gerade überlegten, ob wir ihr nur Babysachen aus DDR-Zeiten schenken wollten, damit das Baby auch aus dieser Zeit noch etwas miterleben konnte als kleines Einheitskind, blieb ich auf einmal wie vom Blitz getroffen stehen.

Mir wurde eiskalt und ich begann zu zittern. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, so laut, dass ich befürchtete, jeder im Umkreis von zwei Metern könnte es schlagen hören. Max stand fünf Meter von mir entfernt und unterhielt sich gerade mit einem Kommilitonen. Es war das erste mal, dass ich ihn seit der Trennung sah und es war genau der Moment, vor dem ich seit der Trennung am meisten Angst gehabt hatte.

Fine schien meinem entsetzten Blick gefolgt zu sein, denn sie griff nach meiner Hand und versuchte mich weiter zu ziehen. Ich war wie versteinert. Ich konnte keinen Schritt machen und auch keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige was mir nur im Kopf herum ging war „Max steht hier. Max steht hier.“ Dann verabschiedete sich Max. Er schaute mich kurz an und gleich wieder weg und ging wortlos an mir vorbei. Kein „Hallo“, kein „Ich hoffe dir geht es gut“, einfach gar nichts. Ich hatte jetzt nicht erwartet, dass er vor mir auf die Knie fiel und mir sagte, dass er mich liebte und ohne mich nicht Leben wollte, aber nach knapp zweijähriger Beziehung konnte man doch wenigstens einen Gruß erwarten, anstatt, dass man aneinander vorbei ging, als ob man sich nicht kannte. Ich war fassungslos. Mit einer Ohrfeige hätte er mich nicht mehr verletzen können, wie mit dieser Ignoranz.

„Hey Tara, alles ok?“ Fine’s Stimme holte mich zurück aus meiner Starrheit.

„Hast du das gesehen?”, fragte ich sie verwirrt. „Was sollte denn das? Als ob ich ihm sonst etwas angetan hätte! Er hatte doch Schluss gemacht. Wegen ihm gab es immer Streit. Ich war doch nicht die Böse.“

Ich schüttelte den Kopf und Tränen rollten über meine Wangen. Krampfhaft versuchte ich sie zu stoppen, aber dies erwies sich als äußerst schwierig, erst recht als Fine mich in die Arme nahm.

„Der wusste einfach nicht zu schätzen, was er an dir hat und so jemanden wie den hast du einfach nicht verdient. Er ist keine Einzige deiner Tränen wert“, versuchte mich Fine zu trösten.

Im Gegensatz zu letzter Woche, wo ich mir die Schuld für die Trennung gab und nach meinen Fehlern suchte, konnte ich ihr dieses Mal glauben. Dennoch tat es einfach so weh. Dieses ohnmächtige Gefühl der Hilflosigkeit, das ich der Entscheidung von ihm so ausgesetzt war und selbst nichts daran ändern konnte, die Wut darüber, dass er mich nicht brauchte und ich hingegen noch so an ihm hing, zu sehen, dass es ihm gut ging und ich litt wie ein Hund..., dies alles machte mich so fertig. Immer wieder diese Fragen im Kopf, warum er mich nicht lieben konnte, warum ich ihn liebte, warum ich ihn nicht einfach vergessen konnte und wie ich ihn verletzen könnte? Ein Wechselbad aus Gefühlen, zwischen Liebe, Hass, Wut und Gleichgültigkeit. Ich hatte es so satt. Ich wollte heraus aus der Gefühlsachterbahn, ich wollte endlich wieder nur ich sein, mein Leben in den Griff bekommen und einfach wieder nur glücklich sein.

Nach gefühlt zehn Minuten Weinkrampf in den Armen meiner Freundin, die mir liebevoll über den Kopf strich, wurde mir bewusst, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden und langsam wurde mir die Situation peinlich. Da standen zwei Gruftis herum und heulten, wie klischeehaft war das denn!

Ja, ich weinte nicht allein. Fine hatte die Angewohnheit, dass ihr stets Tränen kamen, wenn sie jemand anderen weinen sah. Als wir uns in die Augen sahen, wirkten ihre genauso glasig und rot, wie wohl auch meine und auch ihre Wangen wurden von Mascara und Eyeliner verziert.

Wir mussten Lachen, als wir uns einander anschauten. Was war das wohl für ein Bild für die Menschen um uns herum. Aber das war uns egal, wir fielen sowieso unter Anderen auf, skeptische Blicke waren wir gewöhnt.

„Oje“, meinte Fine, als sie in den Spiegel schaute und wischte sich mit einem Taschentuch das Make Up aus dem Gesicht. „So muss ich jetzt in die Vorlesung. Das geht doch nicht. Wenn ich dich so anschaue, du kannst so auch nicht rein“, schmunzelte sie. Sie ließ mich in ihren Spiegel schauen. Alles war bei mir verwischt. Mein roter Lippenstift war über die Lippen hinaus verschmiert, ich sah aus wie ein Clown. Gut, dass Fine schwarz trug, so konnte man meinen Lippenstift in ihrer Kleidung kaum entdecken.

„Was hältst du davon, wenn wir nicht zur Vorlesung gehen und uns stattdessen eine Flasche Wein holen und es uns bei mir gemütlich machen?“, fragte ich Fine und ein Lächeln umspielte meinen Mund.

„Nun ja, verpassen würden wir bei dieser Vorlesung nichts. Außerdem wäre das eine sehr gute Gelegenheit, den ganzen Max’ Kram, den du bestimmt gestern nicht mit weg geräumt hast, zu entsorgen“, stimmte Fine in meinen Vorschlag ein. „Wir könnten auch Dana vorbei kommen lassen. Das ist ja keine Haarfarbe mehr, die du da hast. Da könnte sie dich gleich mit färben.“

Ich nickte. Dana war gelernte Frisöse, oder wie es inzwischen genannt wurde, Friseurin. Vor ein paar Monaten war ihr Chef jedoch in den Westen gemacht und hatte den Laden hier geschlossen. Seit dem suchte sie nach einem neuen Job und bis sie einen fand, hielt sie sich mit Schwarzarbeit ein bisschen über Wasser.

Wir gingen zum nächsten Münztelefon und riefen Dana an. Sie freute sich wieder etwas zu tun zu bekommen und wollte gegen um vier bei mir vorbei kommen. Zufrieden mit unserem Plan hakten Fine und ich uns ein und machten uns auf den Weg zu mir. Unterwegs besorgten wir uns noch drei Flaschen Rotwein und einiges zum Kochen. Ich freute mich auf den gemeinsamen Nachmittag und Abend, aber ein bisschen Angst hatte ich schon vor dem Ausmisten von Max’ Sachen, Geschenken und Erinnerungsstücken.

Tara

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