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Kapitel 2
ОглавлениеDonnerstag, 23. Dezember, 9.36 Uhr
Carolyn Sullivan manövrierte ihren weißen Infiniti in eine Lücke auf dem Parkplatz hinter dem Regierungsgebäudekomplex. Vom Rücksitz nahm sie ihren Schirm und ihren Aktenkoffer. Heute war mal wieder einer dieser Tage, an denen es fünfzehn Minuten lang regnete, dann aufhörte und Stunden später erneut in Strömen goss. Sie trug eine weiße, langärmelige Bluse mit silbernen Manschettenknöpfen – ihr Markenzeichen –, die schon seit über hundert Jahren im Besitz ihrer Familie waren. Ein Gürtel aus Lackleder hielt ihre schwarze Samtweste zusammen, und ihr schwarzer Rock reichte knapp bis über die Knie. Sie schwang ihre Beine aus dem Auto und landete prompt in einer Pfütze. »Wieder ein Paar Schuhe hinüber«, schimpfte sie und war froh, dass es keine teuren waren.
Ein paar Meter entfernt sah sie einen großen schlanken Mann in einem dunklen Parka aus der Richtung auf sie zugehen, wo sich das Gefängnis befand. Da der Mann seine Kapuze aufgesetzt hatte, konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Carolyn fürchtete, es könnte sich dabei um einen aus der Haft entlassenen Sträfling handeln, dessen Fall sie bearbeitet hatte und der ihretwegen hinter Gittern gelandet war – und der sich nun an ihr rächen wollte. Jetzt schaute der Mann auf. Er war nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt.
Carolyn lehnte sich mit dem Rücken an ihr Auto, ließ den Aktenkoffer fallen und griff in ihre Handtasche. Noch ehe sie ihre Waffe hervorholen konnte, packte der Mann sie an den Schultern.
»Neil, verdammt noch mal!«, schrie sie und verpasste ihrem Bruder einen Schlag vor die Brust. »Um Himmels willen, was fällt dir ein? Ich hätte dich beinahe erschossen.«
Neil setzte sein charmantes Lächeln auf, und Carolyns Zorn verflog sofort.
»Ich wollte dich sehen«, sagte er. »Und wie behandelst du mich? Warum bist du so schreckhaft?«
Neil war ein gut aussehender und erfolgreicher Maler. Er war einsfünfundachtzig groß, schlaksig, hatte dunkles Haar, ausdrucksvolle grüne Augen und markante, klassische Gesichtszüge.
»Ich bin nicht schreckhaft«, protestierte Carolyn und hob ihren Aktenkoffer auf. »Aber ich habe mit Kriminellen zu tun, falls du das vergessen hast. Man weiß nie, ob nicht einer von ihnen hinter einem her ist. Ich muss ständig auf der Hut sein. Die meisten hassen mich.«
»Wie könnte jemand dich hassen?«, sagte Neil und legte den Arm um die Schultern seiner Schwester. Dann nahm er ihr den Schirm aus der Hand, klappte ihn auf und hielt ihn über ihre Köpfe. »Wahrscheinlich sind alle scharf auf dich, Schwesterchen. Du bist eine attraktive Frau, wenn auch schon jenseits deiner besten Jahre.«
Carolyn trat ihm so fest auf die Zehen, dass er aufschrie. »Das war doch wohl ein Witz, oder?«, sagte sie.
»Oh Mann!«, jammerte er und humpelte neben ihr her. »Natürlich war das ein Witz. Zuerst willst du mich erschießen und dann machst du mich zum Krüppel. Wo gehen wir überhaupt hin? Ich bin am Verhungern. Habt ihr keine Cafeteria oder so was in eurem Laden? Ich lade dich zum Frühstück ein.«
Carolyn blieb abrupt stehen und starrte ihren Bruder an. Normalerweise arbeitete er die Nächte durch und schlief am Tag. Da er noch unrasiert war, nahm sie an, dass er noch gar nicht im Bett gewesen war. »Stimmt was nicht?«, fragte sie besorgt.
»So ungefähr«, meinte Neil ausweichend. »Es ist nichts Schlimmes, weder eine Krankheit noch sonst was. Ich hätte zwar nichts dagegen, wenn ich ein paar Bilder verkaufen könnte, aber deswegen möchte ich dich nicht sprechen.«
»Wo ist denn dein neues Spielzeug?«
»Der Ferrari?«, sagte er und lachte. »Habe ich dir das nicht erzählt? Der Ehemann der Frau hat mich verklagt. Der Wagen steht seit einem Monat in einem Lagerhaus. Der Alte hatte eine Affäre mit einer jüngeren Frau, und da hat sie den Ferrari aus reiner Bosheit verhökert, ihn gegen vier meiner Bilder eingetauscht. Der Kerl könnte sich vor Wut in den Arsch beißen, weil er den Wagen auf den Namen seiner Frau zugelassen hat. Dieser Tausch war völlig legal. Ich hatte gehofft, die beiden würden den Wagen zurücknehmen und mir Bares stattdessen geben, aber seit gestern gehört er wieder mir. Bei dem Regen wollte ich nicht damit fahren. Ich muss mich erst noch an diesen Power-Schlitten gewöhnen.«
Im Foyer angekommen, faltete Carolyn den Schirm zusammen. »Hör mal, Neil«, sagte sie und berührte seinen Arm. »Ich liebe dich, aber ich habe keine Zeit, mit dir zu frühstücken. Der Verkehr heute Morgen war fürchterlich, und ich bin schon zu spät dran. Ruf mich heute Abend an, wenn die Kinder im Bett sind.«
»Bitte, Carolyn«, sagte er mit ungewohnt ernster Stimme. »Ich muss was wegen Melody unternehmen.«
Da ständig Menschen an ihnen vorbeiströmten, zog Carolyn ihren Bruder in eine Ecke. »Darüber haben wir doch neulich erst geredet, Neil. Ich sag’s zwar nicht gern, aber diesen Schlamassel hast du dir selbst eingebrockt. Du hättest dich nach deiner Versöhnung mit Laurel nicht mehr mit Melody treffen dürfen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er, schob sich die Kapuze vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, schwarzes Haar. »Ich stecke in einer Zwickmühle. Ich liebe Laurel und war schon auf der Highschool verrückt nach ihr. Jetzt hat sie sich endlich scheiden lassen. Wir treffen uns heute zum Mittagessen. Vielleicht bitte ich sie, mich zu heiraten. Soll ich Melody die Wahrheit sagen oder ihr eine Lüge auftischen?«
»Ich schlage dir einen Deal vor«, sagte Carolyn. »Hör gut zu, weil du mir helfen musst. Ruf John und Rebecca an. Die beiden müssten kurz nach vier zu Hause sein. Sag Rebecca, dass du vorbeikommst, um dir ihre Zeichnungen anzusehen. Du hast versprochen, ihr zu helfen, wenn ich sie an der Kunstakademie anmelde. Seit John den Führerschein hat, ist er ständig unterwegs und kümmert sich nicht mehr so um sie wie früher. Ich müsste gegen acht zu Hause sein. Dann können wir reden.«
»Ich bin doch immer für deine Kinder da«, beklagte sich Neil. »Hast du nicht mal ein paar Minuten Zeit für mich? Allein deswegen bin ich den weiten Weg hierher gefahren.«
»Nicht jetzt, mein Lieber«, sagte Carolyn. »Brad hat mich heute Morgen um sechs angerufen. Bei Veronica haben gestern die Wehen eingesetzt, und ich muss einen Bericht für sie fertig machen. Dabei geht es um einen großen Fall, diesen mehrfachen Mörder, der eine ganze Familie mit drei kleinen Kindern umgebracht hat. Davon hast du bestimmt gehört.«
»Ich sehe mir die Nachrichten nie an«, entgegnete Neil mürrisch.
»Okay, hör mir zu«, sagte Carolyn und presste ihre Handfläche gegen seine Brust. »Ich verspreche dir, dich nach meiner Besprechung anzurufen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie musste ihr Gespräch mit ihrem Bruder beenden. »Ich sollte jetzt schon in der Haftanstalt sein und diesen Mann vernehmen. Fährst du von hier aus direkt nach Hause? Hast du überhaupt schon geschlafen?«
»Ich habe nicht vor, wieder ins Bett zu gehen, falls du das meinst.«
Carolyn stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Wenigstens diese Entscheidung kannst du allein treffen. Meiner Meinung nach solltest du es trotzdem tun.«
Neils Augen waren vor Müdigkeit gerötet. »Du bist meine große Schwester«, sagte er. »Ich treffe nie eine Entscheidung, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Ich bin weder ein Mörder noch sonst was, aber hier geht es um etwas Wichtiges. Ist dir das völlig egal? Ich habe vor, Laurel einen Heiratsantrag zu machen. Dann wird sie zur Familie gehören. Ich will doch nur, dass du mir dabei hilfst, die Situation mit Melody zu klären. Wann bist du mit deiner Vernehmung fertig?«
»Noch vor Mittag«, sagte Carolyn. »Fahr nach Hause und denk noch mal darüber nach. Dann bekommst du die Sache vielleicht besser in den Griff. Und wenn du mir dann die ganze Geschichte erzählt hast, sage ich dir meine Meinung dazu. Je früher du mich meine Arbeit machen lässt, umso früher können wir miteinander reden.«
Carolyn wartete, bis Neil gegangen war, und eilte dann zum Eingang der Haftanstalt für Männer.
Sie stieß die Tür auf und ging zu dem Glasfenster. Ihr schulterlanges Haar hatte sie auf der linken Seite hinters Ohr gestrichen, und rechts fielen ihr die Strähnen ins Gesicht. Der Gürtel betonte zwar ihre schmale Taille, aber sie war nicht so schlank wie die Freundinnen ihres Bruders. Immerhin war sie Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern. Die meisten Leute fanden, dass sie jünger aussah als achtunddreißig.
Der Regierungsgebäudekomplex des Verwaltungsbezirks Ventura ähnelte einer kleinen Stadt, die links von einer weitläufigen offenen Fläche mit Steinbänken umgeben war, in deren Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Darin befanden sich die Gerichtssäle, die Büros der Bezirksstaatsanwälte und die der Pflichtverteidiger sowie das Archiv. In dem Gebäude rechts waren das Amt für Bewährungs- und Gerichtshilfe – so die offizielle Bezeichnung ihrer Behörde – untergebracht sowie das Amt des Sheriffs und die Haftanstalten für Frauen und Männer. Der Öffentlichkeit war nicht bekannt, dass beide Gebäude durch einen unterirdischen Tunnel verbunden waren, der dazu diente, die Häftlinge ins und aus dem Gericht zu bringen.
In dem für vierhundertzwölf Häftlinge angelegten Gefängnis saßen zeitweise über tausend Straftäter ein. Leider verfügte diese ziemlich neue Einrichtung nur über die Infrastruktur eines schon dreißig Jahre alten Gebäudes. Vor zehn Jahren hatte das County in der Stadt Santa Paula eine neue Strafanstalt namens Todd-Road-Gefängnis für die Unterbringung von siebenhundertfünfzig Straftätern errichten lassen. Delinquenten, die wegen leichter Vergehen verurteilt worden waren, oder Wiederholungstäter saßen ihre Strafe in Haftanstalten ab. Schwerverbrecher hingegen wurden in Gefängnisse überstellt.
Auf der anderen Seite des Glasfensters reagierte der dunkelhaarige Deputy Joe Powell schockiert, als er den Namen auf dem Antrag für eine Besuchererlaubnis las.
»Sie können Raphael Moreno nicht besuchen. Er sitzt in Einzelhaft. Nur noch zwei Tage, dann sind wir dieses Stück Scheiße los.«
Moreno hatte seine behinderte Mutter enthauptet, seine zwölfjährige Schwester getötet, die beiden Leichen im Haus zurückgelassen und war dann, von Mordgier getrieben, bei Einbruch der Dunkelheit durch ein Fenster im rückwärtigen Teil des Hauses einer fünfköpfigen Familie eingestiegen und hatte den einunddreißigjährigen Grundstücksmakler, dessen Frau und ihre drei Kinder – darunter ein sechs Monate altes Baby – erschossen. Die Polizei von Ventura hatte die fünf Leichen nebeneinander aufgereiht im Wohnzimmer gefunden.
Da nichts aus dem Haus entwendet worden war und Moreno bisher kein Motiv für diese Morde angegeben hatte, standen die Behörden vor einem Rätsel.
»Ich muss mit ihm sprechen«, sagte Carolyn durch das Mikrofon. »Und zwar sofort, Joe.«
»Hören Sie«, entgegnete der Deputy. »Ihr Ermittler wartet immer bis zum letzten Augenblick mit euren Vernehmungen. Der Captain hat gesagt, dass wir das nicht mehr akzeptieren müssen. Außerdem können Sie sich unmöglich mit Moreno allein in einem Raum aufhalten. Er ist einer der gefährlichsten Insassen, die wir jemals hier hatten.« Zu einem kräftig gebauten schwarzen Sergeant mit rasiertem, glänzendem Schädel sagte er: »Erzähl ihr, was unser Kumpel Raphael gestern Abend getan hat. Sie will mit ihm Sandkastenspiele spielen.«
»Er hat versucht, drei Mithäftlinge umzubringen«, sagte Bobby Kirsh und lehnte sich über Joe Powells Schulter. »Moreno ist ein ganz fieser Scheißkerl. Ich bin seit zwanzig Jahren im Strafvollzug und kenne diese Typen. Er wiegt knapp sechzig Kilo und hat die drei innerhalb weniger Minuten fertig gemacht. Ein Gespräch unter vier Augen kommt nicht infrage.« Bobby Kirsh wandte sich kurz ab und warf dann etwas in die Durchreiche. »Da, sehen Sie sich an, was der Kerl angerichtet hat. Wollen Sie etwa auch so enden?«
Carolyn griff nach dem Foto und betrachtete entsetzt das blutige Gesicht eines Schwarzen, dem das linke Auge fehlte.
»Was ist denn mit seinem Auge passiert?«
»Moreno hat es ihm rausgerissen. Und da wir es nirgends gefunden haben, hat er es wohl runtergeschluckt.«
Vielleicht hat Bobby Recht, und Moreno ist wirklich zu gefährlich für mich, dachte Carolyn. Doch dann riss sie sich zusammen und setzte eine stoische Miene auf. Sie war fest entschlossen, nicht nachzugeben.
»Dem zweiten Kerl hat er die Schulter ausgerenkt und die Hand in den Arsch gestopft«, fuhr der Sergeant fort und schnitt eine Grimasse. »Was er mit dem Dritten angestellt hat, will ich Ihnen gar nicht sagen.«
»Lassen Sie Moreno in einen Raum bringen, wo ich mit ihm reden kann«, sagte Carolyn unbeirrt, obwohl sie Angst hatte. »Sie wissen, dass Gerichtshelfer das Recht haben, Straftäter zu befragen. Und Sie wissen auch, wie ich dabei vorgehe. Niemand hat Moreno bisher geknackt. Mit seinem Pflichtverteidiger hat er kaum zwei Worte gesprochen. Der Bezirksstaatsanwalt hat mit dem Verteidiger einen Deal ausgehandelt und will eine Strafe für sieben aufeinander folgende Fälle von Totschlag beantragen. Dafür gibt es weder die Todesstrafe noch lebenslang ohne Aussicht auf Bewährung. Moreno ist erst zwanzig. Er könnte noch sechzig Jahre leben und Dutzende Menschen töten.« Jetzt appellierte Carolyn an die persönlichen Gefühle des Sergeants. »Wenn er Ihre Familie umgebracht hätte, würden Sie dann nicht wissen wollen, warum er es getan hat?«
»Nein, von dem nicht«, entgegnete der ältere Officer. »Als Moreno eingeliefert wurde, haben wir Wetten abgeschlossen, wie lange er am Leben bleibt. Wir waren uns sicher, dass die Gefangenen innerhalb von vierundzwanzig Stunden Hundefutter aus ihm machen würden. Herrgott noch mal, er hat seiner Mutter den Kopf abgeschnitten und ein sechs Monate altes Baby erschossen. Jeder Cop im County, egal ob Streifenpolizist oder Innendienstler, würde Moreno am Spieß über einem offenen Feuer braten, wenn er ungestraft davonkäme. Sogar meine Frau hat sich angeboten, ihn kaltzumachen.«
»Ich verstehe Sie ja«, sagte Carolyn. »Aber das ist nur Gerede, Bobby. Im Augenblick bin ich die Einzige, die dafür sorgen kann, dass er seiner gerechten Strafe zugeführt wird.«
»Die drei Häftlinge, mit denen er sich gestern Abend angelegt hat, sind größer und kräftiger als ich, Carolyn. Ich weiß, wie gut Sie im Umgang mit Straftätern sind, aber in den Kopf dieses Wahnsinnigen kommen selbst Sie nicht rein.«
Je länger sie hier stand, umso geringer wurden ihre Chancen, die Informationen zu bekommen, die sie brauchte. Die einzigen Menschen, die zu schätzen wussten, welch wichtige Rolle die ermittelnden Gerichtshelfer in der Strafjustiz spielten, waren wohl die Richter. Gerichtshelfer erledigten die ganze Arbeit und bereiteten einen Fall von der Festnahme bis zur Verurteilung vor. Dann wendeten die Richter die Gesetze an, wie von den Justizbehörden in San Francisco vorgeschrieben.
Gerichtshelfer verbrachten oft schlaflose Nächte damit, sich zu überlegen, welches Strafmaß für einen Täter angemessen sei. Der Richter schlug dann bei der Verhandlung die Akte auf, stellte mit einem Blick fest, welcher Gerichtshelfer den Fall bearbeitet hatte, und fällte sein Urteil: Fünfzig Jahre Gefängnis. Klar. Kein Problem. Der Richter folgte nur der Empfehlung des Gerichtshelfers. Also klebte an seinen Händen kein Blut.
»Unsere Berichte sind für jede Verhandlung ausschlaggebend«, erinnerte Carolyn den Sergeant. »Wollen Sie etwa, dass dieser Kerl je wieder freikommt? Lassen Sie mich mit ihm reden, dann mache ich ihn fertig. Er wird nie wieder in Freiheit leben.«
Da hörte sie den Summer, drückte gegen die Tür und trat ein. »Wie lange?«, fragte sie und verstaute ihre Waffe in einem Schließfach.
»Zehn«, sagte Bobby zu dem Deputy.
»Können Sie ihn nicht schneller herbringen?«
»Sind Sie verrückt, Miss?«, blaffte der Sergeant. »Ich rede von zehn Wärtern.« Er musterte ihren Aktenkoffer. »Was ist da drin? Öffnen Sie ihn.«
Jetzt wurde Carolyn wütend. »Ich muss mich hier keiner Durchsuchung unterziehen«, sagte sie aufgebracht. »Sie haben doch gesehen, dass ich meine Waffe ins Schließfach gelegt habe. Na gut«, lenkte sie grollend ein und öffnete ihren braunen Lederkoffer. »Da. Ein Schreibblock und drei Aktenordner. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Sergeant Kirsh steckte seine Hand in ein Seitenfach des Koffers, zog eine Strumpfhose heraus und hielt sie Carolyn vors Gesicht. »Wie gut für Sie, dass ich nachgesehen habe«, sagte er. »Ich hätte Sie für klüger gehalten. Damit hätte Moreno Sie erdrosseln können.« Er drückte ihr die Strumpfhose in die Hand. »Ab damit ins Schließfach oder in den Mülleimer.«
»Danke, Bobby«, sagte Carolyn kleinlaut und legte die Strumpfhose ins Schließfach. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich immer eine Ersatzstrumpfhose dabeihabe. Schließlich will ich nicht mit einer Laufmasche rumlaufen.«
Eine fleischige Hand in die Hüfte gestemmt, neigte der Sergeant den Kopf zur Seite und fragte noch einmal nach: »Wollen Sie dem Kerl wirklich Auge in Auge gegenübertreten?«
Carolyns Blick sprach Bände.
Zwanzig Minuten später saß Carolyn dem brutalen Mörder in einem acht Quadratmeter großen Raum gegenüber. Ihre Hände waren schweißfeucht, und ihre Gedanken rasten. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl etwas zur Seite und las den Bericht über das Geschehen vom Vorabend, damit Moreno sich an ihre Anwesenheit gewöhnen konnte. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase, und sie nahm an, er kam von ihm. Ihre wahren Gefühle verbarg sie hinter einer freundlichen Miene.
Raphael Moreno saß völlig reglos, mit hoch erhobenem Kopf und kerzengerade da. Fünfzehn Minuten lang musterte Carolyn ihn aus den Augenwinkeln. Er war zwar klein, aber drahtig und hatte die sehnigen Arme eines Farmarbeiters. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und war eigentlich ein gut aussehender Mann.
Er sieht aus wie ein Südamerikaner, dachte Carolyn, er könnte aus Argentinien oder Kolumbien stammen.
Seine braune, lederige Haut war an mehreren Stellen abgeschürft und verfärbt. Zwar hatte er drei Mithäftlinge übel zugerichtet, war aber auch nicht ohne Verletzungen davongekommen. Er hatte einen Bluterguss in der Nierengegend und eine Gehirnerschütterung. Carolyn vermutete, dass die drei Mithäftlinge ihn hatten vergewaltigen wollen. Dafür hatten sie sich den falschen Mann ausgesucht und mit schweren Verletzungen dafür gebüßt.
Obwohl Carolyn den Bericht längst zu Ende gelesen hatte, tat sie, als sei sie noch immer darin vertieft. Noch wollte sie mit Moreno keinen Blickkontakt aufnehmen. Dieses Zugeständnis musste er sich verdienen. Und er konnte in diesem gefährlichen Spiel nur punkten, wenn er den Mund aufmachte und sich zu seinen Taten äußerte.
Für das Büro der Staatsanwaltschaft muss es eine schwierige Entscheidung gewesen sein, sich mit dem Verteidiger auf einen Deal einzulassen, überlegte Carolyn. In Anbetracht aller Umstände hätte ich wahrscheinlich dasselbe getan. Der schmächtig aussehende, erst zwanzig Jahre alte Mann wurde von seinem Anwalt als geistig zurückgeblieben dargestellt. Und da er bisher kaum zwei Worte gesprochen hatte, würde er bei den Geschworenen im Verlauf des Prozesses durchaus Mitgefühl erwecken können. Wenn er sich in sieben Fällen des Totschlags schuldig bekannte, ersparte er dem Steuerzahler viel Geld. Selbst wenn der Staatsanwalt ihn wegen Mordes angeklagt hätte, wäre es schwierig gewesen, eine entsprechende Verurteilung zu erreichen. Denn das Gericht hätte ihm vorsätzliches Handeln und Gewalttätigkeit nachweisen müssen. Sogar abscheuliche Verbrechen wie diese ließen sich oft nur schwer als sorgfältig geplante Taten darstellen. Und während des Prozesses konnten andere Beweismittel auftauchen, die den Angeklagten entlasteten. Würde es dann zu einem Freispruch kommen, konnte Moreno wegen dieser Taten nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. Selbst Angeklagte, die weder lesen noch schreiben können, kennen dieses Gesetz: dass niemand wegen einer Tat zweimal angeklagt werden darf.
Der Staatsanwalt hatte auch noch zusätzliche Fakten zu berücksichtigen. Da sich Moreno weigerte, eine Aussage zu machen oder mit seinem Verteidiger zu kooperieren, würde er als nicht prozessfähig erklärt werden. Und sollte er von den vom Gericht bestellten psychologischen Gutachtern für zurechnungsfähig erklärt werden, hatte er noch immer die Möglichkeit, wegen Geisteskrankheit auf nicht schuldig zu plädieren. Dafür war nur ausschlaggebend, in welcher geistigen Verfassung sich der Täter während der Tatzeit befunden hatte.
Diese Regelung ist eigentlich ein schlechter Scherz, denn so absurd es auch klingt: Eine Person muss geistig gesund sein, um vor Gericht auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu können.
Jetzt klopfte Carolyn leicht mit den Absätzen auf den Linoleumboden. Moreno bewegte nur kurz die Lider, blieb aber reglos sitzen. Mit manchen Kriminellen konnte sie flirten und Informationen aus ihnen herauslocken, die niemand für möglich gehalten hätte. Falls sie den richtigen Ton traf, würde auch Moreno reden. Eine wissenschaftliche Studie hatte erwiesen, dass die meisten gewalttätigen Verbrecher einen hohen Testosteronspiegel haben, der unkontrollierbare sexuelle Impulse und mörderische Wutanfälle auslösen kann. Das war bei Moreno wohl der Fall. Denn bis auf die drei Männer, die sich gestern Abend unvorsichtigerweise mit ihm angelegt hatten, wurde er von allen mit Samthandschuhen angefasst. Wie eine tickende Zeitbombe. Um ihn zum Reden zu bringen, musste sie ihn wütend machen, damit er die Kontrolle über sich verlor, und dann beten, dass er sie nicht umbrachte. Diese Taktik hatte sie erfolgreich bei Vergewaltigern und Pädophilen – auch solchen, die ihre Opfer getötet hatten – angewandt. Und wenn es ihr gelungen war, mit diesem Abschaum fertig zu werden, dann konnte sie auch Moreno knacken.
Carolyn nahm ihr Handy aus ihrer Rocktasche und rief Neil an.
»Es tut mir Leid, dass ich heute Morgen keine Zeit für dich hatte«, sagte sie. »Hast du auch ohne mich gefrühstückt?«
»Was machst du gerade?«
»Ich sitze einem grässlichen Typen gegenüber, der obendrein noch taub ist.«
Neil schnappte nach Luft. »Sprichst du etwa von diesem Killer? Und du telefonierst mit mir? Hast du denn keine Angst, dass er dir was antut?«
»Er hat Ketten an Händen und Füßen«, sagte Carolyn, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Außerdem ist dieser Typ nur ein Schaumschläger und gibt gern an. Er ist nichts als ein kleiner Scheißer. Angeblich ist er zwanzig, er sieht aber aus wie fünfzehn. Aber der Junge sieht gut aus. Das muss man ihm lassen. Ein richtig niedlicher Strichjunge. Er hat Schwänze gelutscht, bis er durchgedreht ist und Leute umgebracht hat. Habe ich dir erzählt, dass er seiner Mutter den Kopf abgeschnitten hat? Im Knast überlebt er keine vierundzwanzig Stunden. Die Jungs da drin hassen so fiese Typen, die Kids umbringen.«
Moreno ist nicht taub, stellte Carolyn fest. Sie spürte sofort, wenn jemand zuhörte. Er hatte ein paar Mal geblinzelt und einen Mundwinkel verächtlich hochgezogen. Da er sich gegen drei Männer, die ihn hatten vergewaltigen wollen, vehement gewehrt hatte, hatte ihn ihre Bemerkung, er sei ein Strichjunge, sicher ziemlich wütend gemacht. Er konnte nicht reglos wie eine Statue dasitzen und zuhören, wie sein Stolz verletzt wurde. Latinos halten viel auf ihre Macho-Ehre. Es war ihm egal, was Staatsanwälte oder Mithäftlinge über ihn sagten, aber von einer attraktiven Frau ignoriert zu werden, war eine abgrundtiefe Beleidigung seiner Männlichkeit. Sie machte sich über ihn lustig und verhöhnte ihn.
Wäre ich mit ihm allein auf der Straße, würde er mich bestimmt verprügeln oder sogar umbringen, dachte Carolyn.
»Mach keinen Quatsch«, warnte Neil, der eine derart vulgäre Ausdrucksweise von seiner Schwester nicht gewohnt war. »Sag bloß nicht, dass du diesen Mörder ködern willst. Ich will nicht am Telefon miterleben, wie dieser Wahnsinnige auf dich losgeht.«
»Wenn nichts anderes hilft, muss man eben mit Worten kämpfen«, sagte Carolyn.
Dann erging sich Neil neunundzwanzig Minuten lang über seine Probleme. Am Fenster in der Tür tauchte das Gesicht eines Wärters auf. Carolyn reckte den Daumen hoch, und der Mann verschwand wieder. Als an Morenos Hals eine Vene anfing zu pulsieren, bückte sie sich, kramte in ihrem Aktenkoffer und spähte unter den Tisch, um sich zu vergewissern, dass er noch immer angekettet war.
Er hat kleine Hände, dachte sie, fast kleinere als ich.
Beruhigt, dass alles in Ordnung war, entdeckte sie in einem Seitenfach ihres Aktenkoffers eine alte Packung Kaugummi. Sie wickelte einen Streifen aus, legte ihn sich auf die Zunge und saugte ihn ganz langsam in den Mund. Moreno leckte sich die Lippen. Im Untersuchungsgefängnis ist sogar ein Kaugummi etwas Begehrenswertes. Wird nämlich ein Insasse weder von Verwandten noch Freunden unterstützt, bekommt er nur das, was ihm zugeteilt wird.
»Hör mal, Neil«, sagte Carolyn schließlich, »ich rufe dich später wieder an. Ich wollte nur die Zeit totschlagen und deine Stimme hören. Hast du dir schon Gedanken gemacht über…«
Da wurde ihr abrupt das Telefon aus der Hand gerissen. Moreno hatte mit den Füßen ihren Stuhl ein paar Zentimeter hochgehoben. Sie hielt sich an der Tischkante fest, um nicht umzukippen, konnte jedoch nirgends ihr Handy entdecken. Dann hörte sie ein knirschendes Geräusch. Ein Häufchen aus zerquetschtem Metall und Plastik lag auf dem Boden. Und Moreno saß genauso reglos da wie vorher.
Er ist an Händen und Füßen gefesselt, dachte Carolyn, schon auf dem Sprung zur Tür. Niemand kann sich derart schnell bewegen, und man braucht viel Kraft, um ein Handy zu zerquetschen.
Die Hand schon nach dem Alarmknopf ausgestreckt, hielt sie im letzten Moment inne.
Nein, dachte sie. Diese Genugtuung gönne ich ihm nicht.
»Stell dich an die Wand!«, schrie sie und kickte mit einem Tritt den Tisch beiseite. »Sofort! Die Hände hoch über dem Kopf, damit ich sie sehen kann!«
Blut tropfte auf Morenos orangefarbenen Overall. Vom rechten Daumen hing ein Hautfetzen herab. Trotzdem lächelte er selbstzufrieden.
Wütend kniff sie die Augen zusammen und fauchte ihn an: »Ich rede mit wem und wann ich will, du Arschgesicht!«
Moreno lächelte weiter. Als er zur Wand ging, streifte er sie flüchtig. Er roch sauber, nach Seife und Desinfektionsmittel. Der Körpergeruch, den sie beim Betreten des Raums wahrgenommen hatte, stammte also nicht von ihm. Sie hatte ihre eigene Angst gerochen. Hatte Moreno ihre Angst etwa gespürt?
Ihr Kopf schnellte zur Seite. Er hatte ihr etwas ins Ohr geflüstert. Zu leise. Sie hatte es nicht verstanden. Aber die Barriere war durchbrochen. Eine Beziehung war zwischen ihnen entstanden. Wenn auch eine gefährliche.
Da riss ein blonder junger Wärter, seinen Schlagstock in der Hand, die Tür auf. Direkt hinter ihm tauchte ein weiterer Beamter auf.
»Verschwindet!«, schrie Carolyn und fügte nach einem Blick in das besorgte Gesicht des Officers ruhiger hinzu: »Ich trage hier die Verantwortung. Alles ist in Ordnung. Der Häftling und ich, wir hatten nur eine etwas lautstarke Unterhaltung. Dabei habe ich aus Versehen den Tisch umgestoßen. Lassen Sie uns jetzt bitte allein.«
»Aber er blutet«, sagte der blonde Deputy und deutete auf die Flecken auf Morenos Overall.
»Sagen Sie Bobby, er soll sich keine Sorgen machen«, beruhigte Carolyn den Wärter, legte ihm die Hand auf den Rücken und schob ihn aus dem Zimmer. »Sollte ich Hilfe brauchen, rufe ich Sie.«
Der Officer trat kopfschüttelnd den Rückzug an und sperrte die Tür hinter sich ab. Moreno stand noch immer an der Wand. Carolyn kickte ihren Aktenkoffer in seine Nähe.
»Runter auf die Knie und sammle dieses Handy auf, ehe ich dir jedes einzelne Teil in dein Maul stopfe!«
Carolyn wusste, welches Risiko sie einging, aber sie durfte nicht nachgeben. Diesen Machtkampf musste sie gewinnen. Sollte sie verlieren, würde sich ihre Niederlage wie ein Lauffeuer in der Haftanstalt verbreiten. Und der nächste Straffällige, den sie befragte, könnte versuchen, sie herauszufordern. Die Häftlinge nannten sie »Todesengel«, denn es ging das Gerücht um, dass jeder Insasse, den die hübsche Gerichtshelferin vernahm, nach etwa einer Woche aus der Anstalt verschwand. In ihrer Unwissenheit merkten die Männer nicht, dass diese Häftlinge nach ihrer Verurteilung nur in ein Gefängnis verlegt wurden.
Moreno sammelte die Teile des zerbrochenen Handys auf und ließ sie in ihren Aktenkoffer fallen. Carolyn nahm ihren Koffer und stellte ihn neben die Tür.
Dann schob sie Moreno den Plastikstuhl hin und stellte den Tisch wieder davor.
»So, und jetzt unterhalten wir uns wie zwei zivilisierte Menschen«, sagte sie. »Wenn du dich weiter weigerst, mit mir zu reden, erhebe ich Anklage wegen eines tätlichen Angriffs auf eine Beamtin und bringe dich vor Gericht. Und dem Richter werde ich sagen, dass du weder taub noch geistig zurückgeblieben oder verrückt bist. Folglich platzt die Absprache zwischen dem Staatsanwalt und deinem Verteidiger, und du wirst zum Tode verurteilt.«
»He, so’n Scheiß lass ich nicht mit mir machen«, brach Moreno endlich sein Schweigen.
Er hatte eine tiefe Stimme und sprach unartikuliert mit leichtem spanischem Akzent.
»Ihr Leben ist zu kostbar, um es zu verspielen, Raphael«, sagte Carolyn und änderte ihre Taktik, weil er mit ihr redete. »Ich bitte Sie doch nur, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Die Sache ist gelaufen, Mann«, sagte Moreno grinsend. »Der Staatsanwalt ist zu feige, um die Todesstrafe für mich zu beantragen. An unserer Abmachung wird nicht gerüttelt. Ich bin doch kein Idiot! Ein Deal ist ein Deal.«
»Warum haben Sie diese Menschen getötet?«, fragte Carolyn und war sich bewusst, dass die zweite Runde an Moreno gegangen war. Der Kerl war gerissen. Er hatte ihren Bluff durchschaut. Eine einmal getroffene Absprache zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger war bindend und konnte nicht rückgängig gemacht werden. Ganz gleich, was sie während ihrer Vernehmung von Moreno erfuhr, es würde keinen Einfluss auf das Strafmaß haben.
»Eine Aussage zu Ihren Tatmotiven könnte später positiv für Ihren Antrag auf eine bedingte Haftentlassung bewertet werden.«
»Wenigstens ficke ich nicht meinen Bruder«, sagte Moreno lächelnd. »Te bato, que de aquella ramfla traes.«
Carolyn hatte verstanden, was er gesagt hatte: Dass sie ein tolles Auto habe.
Woher wusste Moreno, wie ihr Auto aussah?
»Ich dachte schon, so’n Typ wollte heute auf dem Parkplatz über Sie herfallen. Aber dann haben Sie sich an ihn gedrückt. He, knie dich hin und blas mir einen. Wenn du deinen Bruder ablutschst, kannst du das auch bei mir machen. Dann erzähle ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«
Carolyn wurde kreidebleich. Woher wusste Moreno das mit Neil? Er ließ sie nicht aus den Augen, und sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Er hatte schwere Lider und dunkle, trübe Pupillen. Sie hatte den Eindruck, als würde sie in einen zugefrorenen, schmutzigen Teich starren.
Bleib ganz ruhig!, ermahnte sie sich und presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne. Er hat wohl mehr von meiner Unterhaltung mit Neil mitbekommen, als mir bewusst war, und sich den Rest zusammengereimt. Die Einzelhaftzellen hatten keine Fenster. Dann fiel ihr ein, dass Moreno die Nacht auf der Krankenstation verbracht hatte, deren Fenster, wie die der Hälfte aller Gefängniszellen, auf den Parkplatz hinausgingen. Beim Errichten dieses Gebäudes hatte niemand an die Sicherheit der dort arbeitenden Beamten gedacht. Seit ihre Behörde aus dem alten Gerichtsgebäude in der Poli Street hierher gezogen war, hatte Carolyn befürchtet, dass eines Tages etwas passieren würde. Und jetzt kannte der abscheulichste Verbrecher, mit dem sie es je zu tun gehabt hatte, ihren Wagen und wahrscheinlich auch das Kennzeichen, denn ihr war seine Wachsamkeit aufgefallen und wie genau er jede Einzelheit registrierte. Und diese Informationen konnte er an Mithäftlinge oder Freunde draußen weitergeben. Es hätte auch keinen Sinn, das Kennzeichen zu wechseln. Da er sie jetzt kannte, würde er sie überall aufspüren können. Jede Menge gewalttätiger Verbrecher saßen wegen ihrer Ermittlungen und dem von ihr dem Gericht empfohlenen Strafmaß langjährige Gefängnisstrafen ab. Doch jeder Verurteilte kam irgendwann wieder frei. Bisher hatte sie nur an einem Fall gearbeitet, in dem das Todesurteil gesprochen und auch vollzogen worden war.
Ihre Sicherheit und die ihrer Familie war jetzt gefährdet.
Sollte Moreno die Flucht aus der Haftanstalt gelingen oder er – wie schon öfter passiert – irrtümlich entlassen werden, wäre sie vor ihm nicht mehr sicher. Was hatte er aus ihrem Gespräch mit Neil sonst noch über ihre Lebensumstände erfahren? Als Gerichtshelferin hatte sie einmal mit einem Delinquenten zu tun gehabt, der am Geräusch erkennen konnte, welche Telefonnummer gewählt wurde.
Jetzt war Carolyn einem Verbrecher begegnet, der ihr Angst machte.
»Scheiße, Mann!«, sagte Moreno plötzlich. »Alle hätten am liebsten, dass ich tot wäre. Stattdessen werde ich mir ein paar ruhige Jährchen auf Staatskosten gönnen. Worum geht’s hier eigentlich, hä?«
Von einem Mann, der in einem Anfall von Wahnsinn plötzlich Amok gelaufen ist und blindwütig Menschen erschossen hat, hätte ich so eine Bemerkung nicht erwartet, dachte Carolyn. Spielt er mit mir, oder meint er es ernst?
»Die Cops, die anderen Häftlinge, alle haben Angst vor mir«, redete Moreno weiter. »Als Nächstes verpassen sie mir noch eine Maske, wie diesem Typen im Film, der Menschen gefressen hat.«
»Reden wir doch mal über die Menschen, die Sie getötet haben«, sagte Carolyn. »Ich bin Gerichtshelferin und muss einen Bericht für das Gericht vorbereiten.«
Urplötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihren Atem stocken ließ. Hatte Moreno die Familie Hartfield etwa umgebracht, damit er ins Gefängnis kam?
Raphael Moreno könnte eine lebenslange Haftstrafe und eventuell die Verurteilung zum Tode beabsichtigt haben, um dem sicheren Tod auf der Straße zu entgehen. Nur ein geisteskranker Killer – was Moreno eindeutig nicht war – würde versuchen, sich einer Verhaftung nicht zu entziehen. Im Polizeiprotokoll stand, Moreno habe sich in der Garage im Kofferraum von Darren Hartfields weißem Cadillac CTS versteckt und so lange gegen den Kofferraumdeckel getreten, bis ihn ein Streifenpolizist entdeckt hatte. Ohne Widerstand zu leisten, hatte er sich dann Handschellen anlegen lassen und sich auf den Rücksitz des Streifenwagens gesetzt, bis die Kripobeamten vor Ort erschienen waren. Die Morde in einem Anfall mörderischen Wahnsinns hatte er nur dreißig Minuten vor seiner Verhaftung verübt.
»Vor wem laufen Sie davon?«, fragte Carolyn und folgte ihrem Gefühl.
Moreno biss die Zähne zusammen, reckte das Kinn und überlegte offensichtlich, ob er auf ihre Unterstellung antworten oder einfach wieder den Mund halten sollte. Er schloss die Augen, aber sie sah, dass sie sich unter den Lidern bewegten, als würde er ein Tennismatch verfolgen.
»Sehe ich etwa wie jemand aus, der vor anderen davonläuft?«
Carolyn zuckte zusammen, weil Morenos Stimme plötzlich um mehrere Oktaven tiefer und bedrohlich klang. Ihre vorübergehende Faszination wurde wieder von Angst überlagert. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Mörder folgen normalerweise einem bestimmten Verhaltensmuster, wie sie ihre Opfer umbringen und welche Waffe sie benutzen. Der Pathologe ging davon aus, dass Morenos Mutter der Kopf mit einem Skalpell vom Rumpf abgetrennt worden war. Dieses Skalpell hatte die Polizei jedoch weder im Haus und auf dem Grundstück der Getöteten noch bei Moreno gefunden.
Nachdem er seine Mutter umgebracht, seine Schwester gefesselt und geknebelt hatte, war er später wiedergekommen und hatte dem Mädchen mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen. Die Hartfield-Familie war am selben Tag, am 18. November, mit einem AR-15 Sturmgewehr exekutiert worden. Auch diese Tatwaffe hatte die Polizei nicht gefunden. Bei ihren Ermittlungen waren die Beamten zunächst davon ausgegangen, dass die Morde von zwei Tätern begangen worden waren. Doch im Haus der Hartfields waren nur Morenos Fingerabdrücke sichergestellt worden.
Mehrere Psychologen hatten sich mit diesen beiden Mordserien befasst und waren zu dem Schluss gekommen, dass die jahrelange Pflege seiner behinderten Mutter und die Sorge um seine Schwester bei Moreno zu einem psychotischen Schub geführt hatten. Nachdem er die eigene Familie umgebracht hatte, reagierte er seine rasende Wut an der Hartfield-Familie, der scheinbaren Personifizierung des amerikanischen Traums, ab. Jetzt war Carolyn überzeugt, dass sich die Experten irrten.
Sie konnte den Bericht mit dem Ergebnis ihrer Vernehmung jedoch erst diktieren, wenn sich Moreno zu seinen Taten geäußert hatte. Und um dieses Ziel zu erreichen, musste sie ihn schmoren lassen. Also würde sie jetzt gehen und später wiederkommen.
Raphael Moreno war ihrer Einschätzung nach ein Mann, der es nicht ausstehen konnte, einer Situation hilflos ausgesetzt zu sein. Sie hoffte, dass ihr nächster Schritt ihn derart in Wut versetzte, dass er die Kontrolle über sich verlor. Eine ihrer größten Begabungen lag darin, Häftlinge zum Reden zu bringen. Es war ihr schon gelungen, Moreno aus der Reserve zu locken. Er hatte mit ihr geredet und ihre Gedanken in eine neue Richtung gelenkt, aber er hatte sich nicht zu den Morden geäußert. Ihr ging eine Frage nicht aus dem Kopf, auf die auch die Polizei keine Antwort bekommen hatte, nur mit dem Unterschied, dass Moreno jetzt wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, ein Geständnis abzulegen.
Carolyn stand auf, drehte sich wortlos um und drückte auf den Summer, damit die Tür geöffnet wurde. Davor standen mehrere uniformierte Beamte. Sie blickte über die Schulter und sah Morenos schockierten Gesichtsausdruck. Er begriff nicht, warum sie ihn einfach hier sitzen ließ. Er öffnete den Mund, machte ihn aber gleich wieder zu.
»Gab’s Probleme?«, fragte Bobby Kirsh, als er neben ihr an den Zellen vorbeiging.
»Nein. Raphael und ich sind gut miteinander ausgekommen«, log Carolyn und sah, wie die Häftlinge die Ohren spitzten, um etwas von ihrer Unterhaltung aufzuschnappen. »Wirklich, Bobby«, fügte sie hinzu. »Ich weiß nicht, was der ganze Wirbel um Moreno eigentlich soll.«
»Reynolds hat mir gesagt, er habe Blut auf Morenos Overall gesehen«, entgegnete der Sergeant. »War das vorher schon da, oder ist etwas passiert, während Sie bei ihm waren?«
»Ich glaube, er hat sich die Gelenke an den Handschellen aufgeschürft«, sagte Carolyn. Und dann fiel ihr ein, dass Moreno bei seiner Verhaftung eine nicht behandelte Schusswunde an der Schulter gehabt hatte. Der Polizei hatte er aber nicht gesagt, wer auf ihn geschossen hatte. Gangster haben vernarbte Schusswunden wie andere Leute Sommersprossen. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich habe gesehen, wie er sich die Schulterwunde gekratzt hat.«
Bobby Kirsh warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, sagte aber nichts.
Vor den Schließfächern angekommen, wandte sich Carolyn noch einmal an den Sergeant. »Lassen Sie Moreno in dem kleinen Raum. Ganz gleich, was er tut, holen Sie ihn da nicht raus. Nach dem Mittagessen komme ich wieder. Sollte etwas passieren, dann rufen Sie mich bitte an. Wenn ich nicht im Büro bin, kann ich über den Pager verständigt werden.«
»Hat er geredet?«, fragte Bobby Kirsh neugierig.
»Ja«, antwortete Carolyn, leerte das Schließfach und legte die Waffe in ihre Handtasche.
»Was hat er gesagt? Warum hat er diese Leute getötet? Ist er ein Psychopath? Hat er Ihnen erzählt, was gestern Abend hier los war? Die meisten Häftlinge haben eine Scheißangst vor ihm. Die sind völlig ausgeflippt. So was ist hier noch nie passiert. Klar wird manchmal einer der Häftlinge überfallen, aber bei uns geht es nicht so schlimm zu wie in den Gefängnissen. Ein Großteil unserer Insassen verbüßt hier Strafen wegen kleinerer Delikte … sie haben Strafzettel nicht bezahlt, wurden wegen Diebstahls, Einbruchs oder versäumter Unterhaltszahlungen verurteilt. Der Captain glaubt, dass die drei Männer, die beinahe hätten dran glauben müssen, Moreno überfallen haben. Sie schwören aber, Moreno habe sie angegriffen.«
»Ich hab’s eilig«, erklärte Carolyn. »Moreno hat nicht über die Morde gesprochen, aber ich glaube, er hat mir einen Hinweis gegeben, wie ich an weitere Informationen kommen kann. Lassen Sie mich meinen Job tun, Bobby, und ich mische mich nicht in Ihre Arbeit ein. Sollte sich etwas Neues ergeben, sind Sie der Erste, der es erfährt«, versprach Carolyn und klappte ihren Aktenkoffer zu.
Bobby deutete auf ihre Handtasche und sagte: »Wäre es nicht besser, Sie würden Ihre Waffe jederzeit griffbereit tragen? Die meisten Officer benutzen Schulterfutterale. Ich weiß, dass Sie nebenbei Jura studieren. Eine tote Anwältin wäre keine gute Anwältin.«
Carolyn warf dem Sergeant einen tadelnden Blick zu, ehe sie sagte: »Halten Sie diese Formulierung nicht für etwas melodramatisch?«
»Ich möchte nur nicht, dass Ihnen etwas passiert«, verteidigte sich Bobby. »Weil Sie ein guter Officer und eine tapfere Frau sind.«
»Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen«, entgegnete Carolyn. »Und werde daran denken, meine Waffe stets bei mir zu tragen. Und es wäre ein Fehler gewesen, meine Strumpfhose mit da reinzunehmen.« Schon auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal um. »Als Vorsichtsmaßnahme sollten Sie ein paar Beamte vor dem Verhörraum postieren. Da drin ist Moreno doch so sicher aufgehoben wie in einer Zelle, oder?«
»Tja«, meinte der Sergeant achselzuckend. »Wir sind kein Hochsicherheitsgefängnis. Die Fenster sind doppelt verglast und vergittert. Es kann nicht schaden, wenn er eine Weile da drin schmort. Außerdem ist er an Händen und Füßen gefesselt.«
»Lassen Sie sich von diesem Kerl nicht reinlegen«, warnte Carolyn den Officer und fragte sich, ob Moreno Metallteile des zerbrochenen Handys an sich genommen hatte. Wenn sie mit ihm fertig war, musste er gründlich durchsucht werden, ehe er in die Zelle zurückgebracht wurde. »Er könnte sich verletzen oder irgendeinen Trick anwenden, um jemanden in den Raum zu locken. Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen unter keinen Umständen die Tür öffnen. Moreno ist eine tödliche Gefahr für jeden. Er bekommt weder Wasser noch Essen und darf nicht zur Toilette gehen. Es ist mir egal, wie die Vorschriften lauten. Werden Ihre Officer meine Anweisungen befolgen?«
»Ja«, bestätigte Bobby Kirsh. »Ich erlebe zum ersten Mal, dass Sie Angst vor einem Häftling haben, Carolyn. Ich habe Sie vor einer direkten Konfrontation mit ihm gewarnt. Herrgott, nicht einmal ich würde mich allein mit Moreno in einen Raum einsperren lassen.«
»Ich habe mein Ziel noch nicht erreicht«, entgegnete Carolyn entschlossen. »Ich versuche, gegen Mittag wieder hier zu sein. Der Kerl macht mir zwar Angst, aber ich denke nicht daran aufzugeben. Vielleicht hat Moreno die Morde nicht allein begangen, und sein Komplize läuft noch frei rum. Die Hartfield-Familie wurde mit einem AR-15 Sturmgewehr erschossen, seiner Mutter mit einem Skalpell der Kopf vom Rumpf getrennt und seiner Schwester mit einem Hammer der Schädel eingeschlagen. Ich glaube nicht, dass Moreno eine Schusswaffe benutzen würde. Er hat empfindliche Ohren. Der Lärm würde ihn stören.«
»Und Sie wollen ihn dazu bringen, Ihnen zu sagen, wer sein Komplize ist?«, fragte Bobby Kirsh und sah Carolyn ungläubig an.
Sie lächelte. »Schaffe ich das nicht immer?«