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Kapitel 7
ОглавлениеDonnerstag, 23. Dezember, 22.30 Uhr
Neil wohnte in einem Stadtteil Venturas, der ständig von Schlammlawinen bedroht war. Wenn das Unwetter auch morgen noch andauerte, musste er wohl sein Haus räumen. Letztes Jahr war ein Haus in seiner Straße samt Besitzer über die Klippen ins Meer gerutscht.
Mit Melody hätte ich schon vor Monaten Schluss machen müssen, dachte er. Ich wollte es ihr am Telefon sagen, aber das wäre feige gewesen. Hätte ich es nur getan.
Er bog in seine Zufahrt ein, betätigte die Fernbedienung für das Garagentor und parkte den Ferrari neben seinem schwarz verkleideten Lieferwagen. Carolyn hatte ihn mit diesem Wagen immer aufgezogen und behauptet, Serienmörder würden diesen Fahrzeugtyp bevorzugen. Und als sie erfahren hatte, dass er einen Ferrari besaß, hatte sie geunkt, er würde bald seinen Führerschein verlieren.
Neil öffnete das Handschuhfach und nahm das neue weiße Tütchen heraus, das er auf dem Weg zu Melody gekauft hatte. Statt das Pulver in Linien aufzuteilen, tauchte er den kleinen Finger hinein und rieb sich etwas davon in die Nase. So kann ich nicht weitermachen, dachte er. Ich muss damit aufhören, ehe Carolyn dahinterkommt. Wäre ich nicht auf Drogen gewesen, wäre ich nicht durchgedreht und hätte Laurel nicht verletzt. Ich fühle mich gut, wenn ich Drogen nehme, aber sie bewirken auch, dass ich mich manchmal wie ein Irrer aufführe.
Neil stieg aus und schüttete das restliche Pulver ins nasse Gras neben der Garage. Dann ging er zum Nachbargrundstück und warf das Tütchen dort in die Mülltonne. In dem Haus hatte ursprünglich ein Ehepaar gelebt. Doch seit der Mann letztes Jahr gestorben war, spielte die Witwe den ganzen Tag in ohrenbetäubender Lautstärke Countrymusic, so dass er nicht schlafen konnte, wenn er nachts gemalt hatte. Und wenn er irgendwas, das mit Drogen zu tun hatte, entsorgen musste, landete das in Samantha Garners Mülltonne. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass seine Haushälterin Addy zufällig etwas entdeckte, das sie nicht sehen durfte. Zum geheimnisvollen Nimbus des Drogensüchtigen gehörte es auch, sich nicht erwischen zu lassen.
Neil ging ins Haus. Sein Herz pumpte wie eine Dampfmaschine. Als er den Code für die Alarmanlage eingeben wollte, merkte er, dass das System nicht aktiviert war. Er drückte die entsprechende Taste, bis er mehrere Pieptöne hörte, die signalisierten, dass der Alarm eingeschaltet war.
Seine teuren Lederschuhe quietschten auf dem Marmorfußboden des Eingangsbereichs. Er zog sie aus und stellte sie auf die Matte neben der Tür. Wahrscheinlich musste er sie wegwerfen.
Auf der Gästetoilette erleichterte er sich, zog seine nasse Kleidung aus und wusch sich flüchtig am Waschbecken. Manchmal schlief er im Gästezimmer, weil es näher an der Garage lag. Wenn er zu viel Speed nahm, bekam er paranoide Schübe und wähnte sich einem Herzanfall nahe. Dann fuhr er ziellos durch die Gegend, um sich zu beruhigen.
Im Wäscheraum auf der anderen Seite der Diele steckte er seine Kleidung in einen Plastiksack. Hätte ich mich doch ausgezogen, ehe dieses blöde Weib mich unter die Dusche gezerrt hat, dachte er wütend. Der Reichtum hat aus ihr ein echtes Miststück gemacht.
Melodys Familie gehörte die Firma APC Pharmaceuticals. Im Wall Street Journal hatte er gelesen, dass ihr Nettovermögen auf fünfzig Millionen Dollar geschätzt wurde. Zwar hatten sie nie darüber gesprochen, aber er vermutete, dass Melody wegen ihres Reichtums davor zurückscheute, eine feste Beziehung einzugehen. Sie war nicht nur ein egoistisches Miststück, sondern auch noch habgierig und hatte Angst, ihr Geld mit jemandem teilen zu müssen.
Neil ging durch sein dunkles Haus ins Schlafzimmer, zog Jockey Shorts an und wollte sich aus der Küche eine Flasche Wasser holen. Als er an der Kühlschranktür einen Fleck entdeckte, holte er aus dem Schrank unter der Spüle einen Korb mit Putzmitteln und machte sich an die Arbeit. Er gab sich erst zufrieden, als er auf Händen und Knien auch den gefliesten Boden gewischt hatte.
An der Tür blieb er dann stehen und vergewisserte sich, dass die Küche blitzsauber war. Dann machte er das Licht aus, ohne den Schalter mit der Hand zu berühren.
Anschließend ging er durchs ganze Haus, schaltete in jedem Zimmer kurz das Licht an und überprüfte die Räume. Bis auf die Schlafzimmer, die Küche und die Bäder ähnelte das Haus einer Kunstgalerie. Überall hingen große, von Neil im Stil alter Meister gemalte Ölbilder. Die Empfangsräume, in denen er regelmäßig Cocktailpartys für potenzielle Käufer und Stammkunden gab, waren nur spärlich möbliert. Als Atelier diente ihm ein neunzig Quadratmeter großes Gästehaus hinter dem Swimmingpool.
Nachdem sich Neil vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, kehrte er ins Schlafzimmer zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Glücklicherweise hatte er die größte Dosis bereits am frühen Abend genommen, denn diese Droge hielt ihn manchmal tagelang wach. Gegen seine Schlaflosigkeit schluckte er Depakote, ein Medikament zur Kontrolle der Phasen bipolarer Störungen. Um diese Tabletten zu bekommen, musste er jedoch einen Psychiater aufsuchen. Und diese sadistischen Freaks saßen dann mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck da und warteten darauf, dass er etwas sagte, damit sie ihn in die Psychiatrie einweisen konnten.
Es ging ihm nicht gut. Er geriet in Panik und fragte sich, ob ihm der Typ in Al’s Pfandhaus Heroin statt Speed verkauft hatte. Der Stoff war heutzutage so rein, dass Junkies ihn schnupften, statt ihn zu spritzen. Da Al nicht da gewesen war, hatte ihm ein Schwarzer namens Leroy den Stoff gegeben. Und statt Heroin hätte es auch Ajax oder Rattengift sein können. Seine Nase brannte wie Feuer. Er prüfte, ob sie blutete. Im Gästebadezimmer stand immer eine Flasche mit Salzlösung, und er spülte sich damit gewöhnlich die Nase aus, ehe er zu Bett ging. Er fragte sich, ob Menschen einfach nur aus Langeweile zu Drogen griffen. Das damit verbundene Ritual allein war schon anstrengend, aber auch irgendwie beruhigend.
Unter Menschen hatte sich Neil nie wohl gefühlt. Als Künstler war es ihm möglich, sich in seine eigene Welt zurückzuziehen, was ihn jedoch auch einsam machte. Er hatte immer Freundinnen gehabt, die wie Melody schöne, unabhängige Frauen waren, mit denen er sich treffen konnte, wann er Lust dazu hatte. Der Gedanke an eine feste Beziehung hatte ihm immer Angst gemacht. Außerdem hatte er viel zu verbergen, nicht nur seinen Drogenkonsum.
Doch mit Laurel war alles anders gewesen. Vielleicht, weil sie sich schon als Teenager gekannt hatten. Damals war alles so einfach gewesen. Aber er hatte sich wohl einer Illusion hingegeben, denn das Zusammenleben mit ihr hätte nicht funktioniert. Wäre sie erst einmal dahintergekommen, wer er wirklich war, hätte sie ihn verlassen.
Er lehnte sich entspannt in die Kissen zurück. So früh ging er nie ins Bett, aber er hatte das Gefühl, ein ganzes Leben an einem Tag gelebt zu haben. Kommt Addy morgen?, überlegte er. Was ist heute für ein Tag? Normalerweise kam sie freitags, wechselte aber manchmal die Tage. Er drehte sich auf die Seite und schaute durch die Glasschiebetür nach draußen. Er war so durcheinander, dass er sogar vergessen hatte, dass morgen Weihnachten war. Addy hatte Urlaub. Da er ihr keine Krankenversicherung zahlen konnte, gab er ihr jedes Jahr zwei Wochen bezahlten Urlaub.
Ein Blitzstrahl erhellte den Garten. Als er etwas Weißes im Pool schwimmen sah, sprang er aus dem Bett. Zuerst dachte er, einer der Liegestühle wäre vom Sturm hineingeweht worden. Als er jedoch sah, dass alle vier Stühle auf der Terrasse standen, lief er in den Regen hinaus. Im Hintergrund schrillten die Alarmsirenen.
Am Pool angekommen, sah er, dass es ein Mensch war. Ohne zu zögern, sprang er ins Wasser, schwamm auf den Körper zu und packte ihn bei den Schultern. Nach Luft ringend schwamm er zum Rand zurück und hievte den Körper auf den nassen Zement. Da erkannte er das Gesicht.
Es war Laurel!
Während im Haus noch immer der Alarm schrillte und ihm der Regen in die Augen lief, versuchte er, Laurel wiederzubeleben. Nach zwanzig Minuten gab er jedoch auf, da Laurel schon einige Zeit tot sein musste. Neben ihrem leblosen Körper kniend, schluchzte er vor Kummer und Verwirrung. Verzerrte Bilder tauchten vor ihm auf. Laurel, weinend und verzweifelt war sie vor ihm geflohen, nach draußen gelaufen. Noch nie hatte sie ihn so außer sich erlebt. Er hatte ihr Angst gemacht.
Neil bettete Laurels Kopf auf seinen Schoß und strich ihr die feuchten Haarsträhnen aus ihrem einst so schönen Gesicht, als er einen Mann in Uniform auf sich zulaufen sah. Aus der Ferne sah Laurel wie nackt aus. Der BH war ihr zu den Achselhöhlen hochgerutscht, und ihr weißer seidener Slip bedeckte kaum ihre Schamhaare.
»Gehen Sie da weg oder ich schieße!«, rief der Officer und zielte mit seiner Waffe auf ihn.
Neil beachtete ihn nicht, sondern schaute sich nach Laurels Kleidung oder irgendetwas um, womit er sie zudecken konnte. Der Officer forderte jetzt von der Zentrale einen Streifenwagen und die Ambulanz an. Als Neil ihm einen Blick zuwarf, sah er auf seinem weißen Hemd die Aufschrift: 21st CENTURY SECURITY. Sanft legte er Laurels Kopf auf den Boden, stand auf und hob die Arme. Der Sicherheitsbeamte schob ihn beiseite, kniete sich neben Laurel und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung.
Neil lief taumelnd ins Haus, um Carolyn anzurufen. Seine Hände zitterten so heftig, dass er zweimal die Codenummer eingeben musste, die das Alarmsystem ausschaltete.
Laurel ist tot, und das ist meine Schuld, dachte er verzweifelt.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Carolyn schlaftrunken und starrte in das dunkle Zimmer. »Du kennst die Regeln, Neil. Kein Anruf nach zehn Uhr abends, es sei denn, es geht um Leben und Tod. Ich habe einen grauenvollen Tag hinter mir und schon eine Schlaftablette genommen. Jetzt hast du mich geweckt, und dann kann ich nicht mehr einschlafen.«
Da Neil Angst hatte, seine Schwester könne einfach auflegen, schrie er ins Telefon: »Laurel ist tot. Ich glaube, sie ist in meinem Pool ertrunken.«
Da Carolyn Neils Hang zu makabren Scherzen kannte und er vor nichts zurückschreckte, um Aufmerksamkeit zu erregen, sagte sie drohend: »Neil, wenn das ein Witz sein soll, dann finde ich ihn sehr geschmacklos.«
»Bitte«, schluchzte Neil. »Ich mein’s ernst. Die Polizei kann jeden Augenblick da sein.«
Oh Gott, nein!, dachte Carolyn und fuhr im Bett hoch. »Hast du den Notarzt verständigt?«
»Das hat der Typ vom Sicherheitsdienst getan … Warum sollte Laurel bei Regen im Pool schwimmen?«, sagte Neil mit sich überschlagender Stimme. »Herrgott, das darf doch nicht wahr sein.«
Carolyn drückte die Taste für die Freisprechfunktion, damit sie weiter telefonieren und sich gleichzeitig anziehen konnte. »Warst du zu Hause, als es passiert ist?«
»Nein«, sagte Neil. »Ich glaube es zumindest nicht. Ich war schon im Bett, als ich sie im Pool treiben sah. Ich habe sie durch die Schiebetür in meinem Schlafzimmer gesehen.«
Ich muss Isobel, Pauls Haushälterin, anrufen, damit sie auf die Kinder aufpasst, dachte Carolyn, während sie Jeans und einen Rollkragenpullover anzog und dann in ein Paar Sneakers schlüpfte. »Ich bin schon unterwegs, Neil. Bleib ganz ruhig. Tu und sag nichts, bis ich da bin.«
»Ich habe wieder mal alles vermasselt«, sagte Neil seltsam ruhig. »Ich habe Laurel geliebt. Ich wollte doch nicht, dass ihr was Schlimmes passiert.«
»Was sagst du da?«, fragte Carolyn beklommen. »Was hast du getan, Neil?« Als er nicht antwortete, schrie sie: »Heilige Muttergottes, rede mit mir! Was hast du Laurel angetan?«
Doch sie hörte nur noch das Freizeichen. Sofort lief sie aus dem Haus und stieg in ihr Auto. Sie würde Paul von unterwegs anrufen. Ich muss bei Neil sein, ehe die Polizei kommt, dachte sie verzweifelt.
Melody Asher saß im Dunkeln vor ihrem Computer. Der Bildschirm erhellte ihr Gesicht, als sie den Löffel in den Eiscremebecher tauchte. Der rote Morgenmantel aus Seide war ihr von der Schulter gerutscht und entblößte ihre nackte Haut. Wegen ihrer schlanken Figur und ihrer Größe war sie schon im Alter von fünfzehn Jahren von einer Modelagentur entdeckt worden. Den Genuss von Eiscreme leistete sie sich nur selten, obwohl sie nicht mehr als Model arbeitete. Jetzt war sie Schauspielerin, musste jedoch genauso auf ihr Gewicht achten, denn füllige Aktricen waren nicht gefragt.
Diese Belohnung habe ich mir verdient, dachte Melody und ließ genüsslich Schokolade, Mandeln und kleine Marshmallows in ihrem Mund schmelzen. Heute Abend habe ich Neil an mich gefesselt. Dieses Erlebnis wird er nie vergessen. Jetzt gehört er mir, so wie mir alle Männer gehört haben, die eine flüchtige Rolle in meinem Leben gespielt haben.
Melodys Philosophie, was Männer betraf, war simpel: Mache sie sexuell von dir abhängig, dann kommen sie immer wieder zu dir zurück. Das war Teil ihres Spiels – die totale Herrschaft oder gar nichts.
Wie konnte Neil mich nur Schlampe nennen?, dachte sie. Ich habe ihm zu einem großartigen Erlebnis verholfen. Nur, weil ich die Videokamera eingeschaltet und in höchster Ekstase den Namen eines anderen Mannes gesagt habe? Ich habe uns doch schon öfter beim Sex gefilmt, und er hatte nie etwas dagegen.
Einen Monat nachdem Melody Neil kennen gelernt hatte, hatte sie sein privates Sicherheitssystem angezapft. Zum Schutz vor Einbrechern hatte er in jedem Zimmer sowie über der Haus- und der Hintertür Kameras installieren lassen. Ohne sein Wissen hatte sie einen drahtlosen Sender an sein Hauptsystem angeschlossen und konnte über den Empfänger in ihrem Haus alle seine Videoaufnahmen in ihrem Computer abspielen und speichern.
Melody liebte es, sich Aufnahmen von ihren Sexspielen anzusehen. Dabei hatte sie die stärksten Orgasmen. Auch sexuelle Affären mit früheren Liebhabern verschafften ihr immer wieder einen Lustgewinn.
Melody überwachte alle ihre Liebhaber.
Erfreulicherweise lieferte die moderne Technik den Adepten des Voyeurismus’ völlig neue Möglichkeiten und verlieh ihm somit eine ungeahnte Dimension. Ihrer Meinung nach sollte jede Frau ihren Mann genau im Auge behalten. Der Chef ihres Sicherheitsdienstes hatte sie gewarnt, nie jemandem den Schlüssel zu ihrem Haus zu geben. Melody musste kichern, als sie an ihre Antwort darauf dachte.
»Oh, ich verstehe, Keith«, hatte sie gesagt und sich vorgebeugt, damit er ihre Brüste sehen konnte. »In meinen Körper dürfen die Männer eindringen, aber nicht in mein Haus? Also ist mein Haus wertvoller als meine Vagina?« Der Mann war puterrot geworden, und da sie unter ihrem Kleid keinen Slip getragen hatte, war sie um den Schreibtisch herumgegangen, hatte den Rock hochgehoben und gefragt: »Gibt es ein System, womit ich das hier sichern kann? Dann müssten Sie jedes Mal, wenn ich Lust auf Sex habe, zu mir ins Haus kommen.«
Der arme Mann hatte sich so aufgeregt, dass sie befürchtete, er würde einen Herzanfall bekommen. Sie hatte den Rock wieder fallen lassen und hinzugefügt: »Ich lasse lieber die Türschlösser auswechseln. Ihrer Frau würde es wohl nicht gefallen, wenn Sie drei- oder viermal am Tag zu mir kommen müssten.«
Männer waren Abschaum. Sie dachten nur mit ihren Schwänzen. Es war ihr gutes Recht, sie zu überwachen, um herauszufinden, ob sie auch mit anderen Frauen schliefen. Schließlich wollte sie weder mit dem HIV-Virus noch mit einer anderen Geschlechtskrankheit angesteckt werden. Die Überwachung war ihre Versicherungspolice.
Da Melody ein Technik-Freak war, hatte sie sich die nötigen Kenntnisse mit Leichtigkeit angeeignet. Sie erweckte jedoch den Eindruck, nicht einmal einen Mixer einschalten zu können. Denn schon als Kind war sie eine gute Schauspielerin gewesen und hatte stets das Dummchen gespielt, weil sie es äußerst unterhaltsam fand, ihre Mitmenschen zu täuschen. Darum geht’s doch im Leben, dachte sie. Vertreibe dir die Zeit so angenehm wie möglich, bis du verreckst.
Melody glaubte nicht an Gott. Nach dem Tod verrottet der Körper. Sie hatte noch nie einen Toten wiederauferstehen sehen. Ob etwas richtig oder falsch war, spielte nur eine Rolle, wenn man dabei erwischt wurde. Die meisten religiösen Menschen waren einfach charakterschwach, sodass sie einen Führer brauchten. Und sich gängeln ließen wie Marionetten. Und die Bibel war nur ein schlecht geschriebener Sciencefiction-Longseller. Ich hätte gern die Rechte daran, dachte sie.
Männer faszinierte an Melody ihre weibliche Fassade der Hilflosigkeit. Bitte, stell mir die Uhr oder zeig mir, wie mein neues Handy funktioniert – und schon bist du die stereotype dumme Blondine. Diese Trottel, dachte Melody. Warum sollte ich mich mit derartigen Lappalien abgeben und meine Zeit vergeuden, wenn ich jemanden finde, der das für mich tut?
Sogar ihre Freundinnen waren schockiert gewesen, als sie gelogen und behauptet hatte, sie könne keinen Computer bedienen. Dabei hatte sie sich in ihrem Penthouse ein Studio eingerichtet, das mit drei Monitoren, drei Dell-Computern, einem Atlas 8 EQ Reflektor-Teleskop mit Kamera und zahllosen Digitalfilmkameras samt professionellem Schneidetisch ausgestattet war. Das Studio war gleichzeitig Vorführraum.
Während Melodys Freundinnen ihre Zeit mit Einkaufen, Tratschen oder Surfen im Internet vergeudeten, bespitzelte sie jemanden oder erweiterte ihr Wissen. Sie verbrachte Stunden mit Fachbüchern über das Strafrecht, denn sie fand Verbrechen und Verbrecher faszinierend. Sie hatte sogar kurz am John Jay College für Strafrecht in Manhattan studiert und am Agententrainingsprogramm an der FBI Academy teilgenommen, bis die Behörde auf Widersprüche in ihrem Lebenslauf gestoßen war und sie vom Dienst suspendiert hatte. Zwar hatte Melody ihre Rehabilitation einklagen wollen, doch ihr Anwalt hatte ihr abgeraten.
Melody hatte noch zahllose andere geistige Interessen. Außer ihrer Vorliebe für Technologie interessierte sie sich ebenfalls für Mathematik und Psychologie und hatte vor ein paar Jahren Vorlesungen in Physik an der Caltech belegt. Wie erstaunt die anderen Studenten gewesen waren, als diese langbeinige Blondine in Designerklamotten zur Klassenbesten wurde. Wissen war Melodys Geheimwaffe.
Vor einigen Monaten hatte Melody überrascht festgestellt, dass eine Frau, etwa Mitte dreißig, häufig in Neils Haus auftauchte. Er hatte sie also nicht nur betrogen, sondern ihr auch in die Augen geschaut und es geleugnet. Typisch Mann.
Männer sollten wie Hunde behandelt werden, die ihren Herren zu gehorchen hatten. Befehle wie »sitz« oder »bring« ausführen. Wenn sie den Gehorsam verweigern, werden sie mit einer zusammengerollten Zeitung geschlagen oder in die kalte Nacht hinausgescheucht. Werden sie krank oder untreu, lässt man sie einschläfern. Vielleicht wird er dann als Frau wiedergeboren.
Melody hatte Neil und diese andere Frau nackt im Garten herumspringen sehen und ihnen beim Sex zugeschaut. Wie viele Nächte hatte sie zusammen mit Neil bei ebensolchen Spielen verbracht?
Während Melody den Videofilm, der sie und Neil beim Sex am Abend zeigte, ablaufen ließ, glitt ihre Hand zwischen ihre Oberschenkel, und sie warf den Kopf in den Nacken, als Neil und sie in Ekstase gerieten. Sie roch den Duft des Glenlivet Scotch und hörte die Eiswürfel im Glas klirren. Die Erinnerung an Neils Gesicht zwischen ihren Beinen versetzte sie in höchste Erregung.
Melody hatte vermutet, dass Neil an diesem Abend mit ihr hatte Schluss machen wollen. An der Art, wie er diese andere Frau berührte, erkannte sie, dass er sie liebte. Unscheinbare kleine Maus, dachte Melody. Was, zum Teufel, sieht er in ihr? Ihre Kleidung sieht aus, als käme sie aus einem Secondhandshop. Sogar mein Dienstmädchen hat einen besseren Geschmack.
Unsere Affäre endet, wann und wie ich es will! Niemand gibt Melody Asher den Laufpass.
Jetzt schweifte ihr Blick zu einem anderen Monitor, und sie sah Gestalten in Neils Garten umhergehen. In dem Moment fiel ihr der Eislöffel aus der Hand auf den kostbaren Teppich. Die Blinklichter einer Ambulanz reflektierten auf dem feuchten Bürgersteig. Auf einem anderen Monitor sah sie Neils in panischer Angst verzerrtes Gesicht inmitten mehrerer Polizisten.
Die Unterlippe vorgeschoben, sagte Melody laut: »Du wirst mich nicht mehr betrügen, Neil. Denn nur ich kann dich auf Kaution aus dem Gefängnis holen.«
Melody fand, dass die Zeit für ein bisschen Action reif war. Das Spiel macht mehr Spaß, wenn man die Akteure kennt, dachte sie. Dann hob sie den Löffel auf und aß ihr Eis genussvoll zu Ende.