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Kapitel 4
ОглавлениеDonnerstag, 23. Dezember, 16.00 Uhr
Neil Sullivans Haus stand auf einem Hügel mit Blick aufs Meer. Er schloss das Handschuhfach seines Ferraris auf und nahm einen kleinen weißen Umschlag heraus. Dann klappte er die Sonnenblende herunter, zog den Schminkspiegel hervor und legte ihn auf die Mittelkonsole. Mit der Rasierklinge, die er im Aschenbecher aufbewahrte, teilte er das Pulver in zwei schmale Linien, rollte einen Hundert-Dollar-Schein zusammen, steckte das Röhrchen in sein Nasenloch, beugte sich über den Spiegel und atmete das weiße Pulver ein. Jetzt geht’s mir besser, dachte er und lehnte sich entspannt im Sitz zurück.
Erst als er das Briefchen ins Handschuhfach zurücklegen wollte, merkte er, dass es leer war. Wie kann das sein?, dachte Neil. Erst gestern habe ich doch meine übliche Dosis gekauft. Nein, es war wohl vorgestern. Dann erinnerte er sich, dass er mit seinem Van gefahren war, also musste es am Mittwoch gewesen sein. Denn seinen Ferrari hatte er erst nach dem Abendessen abgeholt. Jemand musste das im Handschuhfach versteckte Briefchen entdeckt haben. Vielleicht ein Angestellter des Restaurants, in dem er mit Laurel zu Abend gegessen hatte.
Er war nicht regelmäßig auf Koks, nur wenn etwas schief ging. Und heute war etwas komplett schief gelaufen.
Unzusammenhängende Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Er erinnerte sich, wie er aus dem Haus gerannt war. Doch alles, was davor geschehen war, erschien ihm verworren und erschreckte ihn. Niemand hat meinen Vorrat gestohlen, erkannte er jetzt. Ich habe heute nicht zum ersten Mal geschnupft. Denn die Prozedur ist mir inzwischen so vertraut, dass ich manchmal schon zweimal kokse, ohne es zu merken. Ich muss damit aufhören, dachte er. Aber jetzt schaffe ich das nicht. Im Moment brauche ich das Zeug.
Als er rückwärts aus der Zufahrt seines Hauses fuhr, klatschte Regen auf die Windschutzscheibe des Ferraris. Er schaltete die Geschwindigkeit der Scheibenwischer höher und hoffte, dass das Unwetter bald weiterziehen würde. Die Droge machte ihn nervös, und er hatte bei diesem grässlichen Wetter eine eineinhalbstündige Fahrt vor sich, weil er Melody unbedingt sehen musste. Er konnte jetzt nicht allein sein. Er war viel zu high, weil er heute schon zweimal geschnupft hatte. Und so weit durfte es nicht wieder kommen. Weder heute noch morgen noch irgendwann.
Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte doch alles so sorgfältig geplant: das Dinner mit Laurel in seinem französischen Lieblingsrestaurant Le Dome; dann hatte er sie mit dem Ferrari überrascht. Sie waren so glücklich gewesen. Aber die heutige Verabredung zum Mittagessen hatte alles verändert.
Er nahm den Verlobungsring mit dem zweikarätigen Diamanten aus seiner Jackentasche und wollte ihn aus dem Fenster werfen. Doch dann dachte er daran, wie viel er dafür im Pfandhaus bekommen würde. Und dabei ging es ihm nicht nur ums Geld, sondern um seine Glaubwürdigkeit, seinen Ruf als seriöser Kokser. Denn in Al’s Pfandhaus kaufte er sein Dope. Und nicht nur das, der Laden lag auch auf dem Weg zu Melody.
So viel zu »glücklich für immer«, dachte er bitter und steckte den Ring wieder in die Tasche. In seinem Leben hatte nie etwas geklappt. Noch eben schien das Glück zum Greifen nahe, und gleich darauf war es ihm wieder entglitten. Gott hasst mich. Alle hassen mich. Niemand kauft meine Bilder. Und Laurel hätte alles in Ordnung bringen sollen, stattdessen hat sie alles zerstört.
Neil schaltete herunter und folgte vorsichtig der kurvenreichen Straße. Vier seiner besten Bilder hatte er gegen diesen Ferrari eingetauscht. Seit sechs Monaten hatte er kein Bild mehr verkauft. Mark Orlando, sein Agent, hatte ihn zu diesem Deal überredet und ihm gesagt, er könne den Luxuswagen später immer noch verkaufen. Mark hatte geschworen, dass nur ein 550 Barchetta Pininfarina Speciale gebaut worden sei und deshalb die Frau, die sich auf diesen Handel eingelassen hatte, eine Närrin gewesen sei.
Folgendes war passiert: Ein gewisser Lou Rainey hatte mit einer Dreiundzwanzigjährigen eine Affäre angefangen. Seine Frau war dahinter gekommen und hatte ihn ein paar Tage, nachdem er den vierhunderttausend Dollar teuren Luxusschlitten gekauft hatte, vor die Tür gesetzt. Aus reiner Bosheit und ziemlich angetrunken hatte Mrs. Rainey bei einer von Neils Ausstellungen den Wagen spontan gegen vier Bilder eingetauscht. Mark hatte Neil geraten, den Wägen nicht ständig zu fahren. Dazu sei er zu wertvoll. Aber wer will schon ein Auto, das er nicht fahren darf?
Herrliche Maschine, dachte Neil und lauschte dem satten Röhren des Motors, während er ein tückisches Stück der Straße mit Gefälle hinunterfuhr. Könnte man Menschen doch auch einfach konstruieren. Dann würden sie vielleicht meine Erwartungen erfüllen. Ich bin ein schlechter Verlierer. Aber alle anderen sind noch schlimmer. Alle, außer Carolyn.
Meine Schwester ist ein Engel. Er hatte sich Sorgen gemacht, als sie ihn aus dem Gefängnis angerufen und das Gespräch so abrupt beendet hatte. Aber später hatte sie ihn wieder angerufen und ihm gesagt, alles sei okay. Carolyn war so zäh wie seine Mutter. Sie hatte immer Recht und war stets für ihn da. In seinen Kindheitserinnerungen hatte Carolyn immer an seinem Bett gewacht, bis er eingeschlafen war. Sie hatte ihm das Fahrradfahren beigebracht, für ihn gekämpft, ihm vorgelesen, ihn erzogen, ihn gepflegt, wenn er krank war. Ganz gleich, was er tat, Carolyn würde ihn nie verlassen. Sie war sein Rettungsanker.
Laurel Goodwin unterrichtete Englisch an der Ventura High School. Vor einem halben Jahr war er ihr zufällig bei Barnes & Noble wiederbegegnet. Und als ein gemeinsamer Freund ihm erzählte, dass sie geschieden sei und wieder bei ihren Eltern lebe, hatten sie sich gelegentlich verabredet und waren zum Mittagessen oder ins Kino gegangen. Schließlich hatten sie miteinander geschlafen, und da hatte Neil gewusst, dass sie die Frau seines Lebens war.
Neil kannte Laurel schon seit seiner Jugend und hätte sie von der Highschool weg geheiratet, wäre ihr Vater damals nicht dagegen gewesen. Sogar noch heute verachtete Stanley Caplin ihn. Er hatte fünfunddreißig Jahre in der Versicherungsbranche gearbeitet und keinerlei Verständnis dafür, dass sich ein Maler ein Haus für eine Million Dollar leisten konnte.
Laurel hatte nur gelacht, als sie ihm erzählte, ihr Vater hielte ihn für einen Drogendealer. Neil fand das gar nicht komisch. Er konsumierte zwar gelegentlich Drogen, dealte aber nicht damit. Er nahm am liebsten Koks. Jeder braucht heutzutage mal etwas zum Aufputschen. Seine Freunde, die Dope ablehnten, nahmen alle Antidepressiva, Tranquilizer, Muskelrelaxanzien, Schmerztabletten, Steroide, oder sie tranken übermäßig. Aber die fanatischen Gesundheitsapostel waren genauso schlimm. Sie stellten Mixturen aus Kräutern her und blickten verächtlich auf andere, die sich bekifften, während sie in ihren schicken Jogginganzügen mit ihrer künstlichen Sonnenbräune herumliefen und sich ihre Fettpolster absaugen ließen. Schönheitschirurgen ersetzen jetzt schweißtreibende Gymnastik. Für fünf Riesen wurde aus einem Bierbauch ein Sixpack. Und für ein paar Tausender mehr bekam man einen schwellenden Bizeps.
Menschen sind Idioten, dachte Neil. Woher kommt denn wohl Speed? Und was ist mit Kokain? Ich bin von einer Chemikerin großgezogen worden und könnte jederzeit in den Keller meiner Mutter gehen und mir meine eigenen Drogen herstellen.
Speed hatte es ihm ermöglicht, Tage und Nächte durchzuarbeiten und eine Leinwand nach der anderen zu bemalen. So waren einige seiner besten Bilder unter dem Einfluss von Drogen entstanden.
Neil hatte an den berühmtesten Kunstakademien der Welt studiert – in Rom, Florenz und Paris. Und er hatte sogar Gemälde von unschätzbarem Wert im Vatikan restauriert. Wie vielen Künstlern ist schon die Ehre zuteil geworden, ein Werk von Michelangelo auch nur mit der Spitze ihres Pinsels zu berühren? Bei dem Gedanken, dass die Sixtinische Kapelle hätte innerhalb weniger Monate vollendet sein können, wenn sich Michelangelo aufgeputscht hätte, musste er schmunzeln.
Im Gegensatz zu der konservativen Laurel war Melody Asher ein verführerisches Partygirl von hinreißender Schönheit, die sich als reiche Erbin jeden Luxus leisten konnte. Die Boulevardpresse hatte einmal verkündet, Melody habe einer Schickimicki-Tussie fünfzig Riesen für deren Ehering geboten. Wenn Melody einen Raum betrat, verstummten die Gespräche, und alle Blicke richteten sich auf sie. Melody liebte es, derart im Mittelpunkt zu stehen, dass sie mit einem Mann allein nie glücklich werden könnte.
Inzwischen bog Neil in die Zufahrt von Melodys dreistöckigem Brentwood-Haus ein. Da es noch immer regnete, hielt er sich eine Zeitung über den Kopf und lief zum Haus. Als er an die Tür klopfte, schwang sie nach innen auf. Offensichtlich hatte sie ihn bereits erwartet.
»Melody«, rief er. »Ich bin’s. Neil.« In der Eingangshalle wandte er sich nach links und ging durch den Rundbogen in den langen Flur. Er hörte das Wasser in ihrem Badezimmer plätschern. »Melody, ich bin da!«, rief er wieder und musterte die verstreut auf dem Boden liegenden Tüten mit den Designernamen. Melody nahm kein Rauschgift. Ihre Medizin sei Scotch, hatte sie ihm gesagt. Melody war eine robuste, große, schlanke, blonde Frau, die in einen Müllsack gekleidet aussehen würde, als stamme ihr Outfit von Saks Fifth Avenue.
Er betrat das mit Marmor getäfelte Bad.
»Hi, Baby«, rief Melody und winkte ihm aus der Dusche zu.
Er drehte sich um und sagte über die Schulter: »Ich warte im Wohnzimmer auf dich.«
»Nein, bleib hier«, hallte ihre Stimme aus der Kabine. »Komm her … Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«
Als Neil ins Bad zurückging, konnte er den Blick nicht von ihrem nackten Körper hinter der durchsichtigen Trennwand abwenden. Ohne Make-up sah Melody anders aus, weicher und reizvoller. Schweigend stand er eine Weile da und betrachtete ihre hoch gewachsene, schlanke Gestalt. Er sah, wie das Wasser über ihre weiße Haut perlte. Sein Blick blieb an ihrem herzförmig rasierten Schamhaar hängen.
Jetzt shampoonierte sie ihr hellblondes Haar. Der Schaum glitt über ihre perfekten Formen. Vanilleduft breitete sich im Bad aus. Neil spürte ein prickelndes Gefühl. Die Droge machte ihn geil. Er war sofort erregt.
»Was starrst du mich so an?«, fragte Melody, presste ihre Knie zusammen und bedeckte mit gespielter Schamhaftigkeit ihren Venushügel. »Tu nicht so, als hättest du noch nie eine nackte Frau gesehen.«
»Es ist nur … ich bin hergekommen, um …«, stammelte Neil und fuhr sich nervös mit der Hand übers Gesicht.
»…zu ficken«, beendete Melody den Satz für ihn. »Du brauchst nur weniger Zeit zu vergeuden, diese Bilder zu malen, die niemand kaufen will, und mehr Zeit mit mir zu verbringen. Dann wäre dein Schwanz nicht so einsam, Süßer. Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin.«
»Ich muss malen«, widersprach Neil laut, in dem vergeblichen Versuch, das Unvermeidbare zu verhindern. Ihre Bemerkung über seine Arbeit hatte ihn gekränkt, aber das sollte sie nicht merken. Diese Genugtuung gönnte er ihr nicht. »Ich bin Künstler, okay? Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.«
»Verflixt, ich habe meinen Waschlappen vergessen«, sagte Melody und tat, als hätte sie ihm nicht zugehört. »Holst du mir bitte einen?«
Neil seufzte und fragte sich, ob sie alle ihre Liebhaber wie Laufburschen behandelte. Als er ins Bad zurückkam, öffnete Melody die Kabinentür. Als er ihr den Waschlappen reichte, packte sie seine Hand und zog ihn unter die Dusche.
»Jetzt bist du auch nass«, sagte sie und kicherte. »Wie wär’s mit ein bisschen Spaß?«
»Nein, verdammt noch mal!«, protestierte Neil. »Ich habe keine Sachen zum Wechseln dabei. Außerdem bin ich nicht gekommen, um mich mit dir zu amüsieren. Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«
»Beruhige dich. Ich helfe dir, dich zu entspannen«, sagte Melody, ging in die Knie, knöpfte seine Hose auf und öffnete den Reißverschluss. Dann zerrte sie mit beiden Händen an den Jeans und enthüllte seinen eng anliegenden Calvin-Klein-Slip, unter dem sich sein erigierter Penis wölbte, den gleich darauf ihr warmer Mund umschloss. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, aber es war zu spät. Da gab er sich der Lust hin. Außerdem war es emotional sehr befriedigend, diese Prinzessin auf Knien vor ihm zu sehen, weil Melody Asher in dieser Hinsicht äußerst wählerisch war.
Dann stand sie auf, rieb ihren Busen an seinem Körper und sah ihm lange in die Augen. Als sie sein durchnässtes Hemd hochschob und seine muskulöse Brust entblößte, entledigte er sich schnell seiner restlichen Kleidung.
Die Lippen auf seine gepresst, legte Melody ihre Hände auf seinen Hintern und drückte fest zu. Sein ganzer Körper bebte vor Erregung.
»Lass uns doch im Schlafzimmer weitermachen«, sagte sie, griff hinter ihn und schob die Duschtür auf. Vorsichtig trat er rückwärts auf den Plüschteppich und wunderte sich, dass sie ihr rechtes Bein hinter ihn stellte, bis sie an ihm lehnte und ihn ins Taumeln brachte. Mit der rechten Hand fing sie ihn auf, und beide fielen ineinander verschlungen auf den Teppich.
Als Nächstes kämpfte Neil mit Melody um die Position. Sie war knapp einsachtzig groß und war sexuell so aktiv wie ein Mann. Sie zwang ihn, sich auf den Rücken zu drehen, und ritt auf ihm wie auf einem Pferd. Es überraschte ihn immer wieder, dass eine so schlanke Frau so viel Kraft hatte.
Mit offenem Mund und laut stöhnend erreichte Melody den Höhepunkt.
»Ich habe eine Idee«, flüsterte sie ihm ein paar Minuten später ins Ohr. »Komm mit.«
Neil folgte ihr ins Schlafzimmer.
»Beweg dich jetzt nicht. Ich muss die Kamera einstellen«, sagte sie, ging ans andere Ende des Raums und öffnete einen deckenhohen Wandschrank, in dem zwei Digitalkameras installiert waren.
»Melody, ich will nicht…«
»Halt den Mund und fick mich«, sagte sie und legte sich mit weit gespreizten Beinen aufs Bett.
Neil wollte gehen, aber sein Körper ließ das nicht zu. Seit er zu ihr ins Badezimmer gekommen war, hatte sie ihn provoziert. Von der Droge angetrieben, lebte er nur für den Moment und verspürte gleichzeitig eine seltsame Leere im Kopf. Mit dem Rücken zur Kamera warf er sich auf sie.
»Härter … härter, Richard«, rief Melody.
Neil riss den Kopf hoch. Plötzlich kehrte er in die Wirklichkeit zurück und sah sich mit den Ereignissen des Tages konfrontiert. Sein Magen krampfte sich vor Wut zusammen. Wer, zum Teufel, war Richard? Er rollte sich von ihr und ging ins Bad, um seine durchnässten Sachen zu holen. Als er ins Schlafzimmer zurückkam, schrie er sie an: »Du bist nichts als eine Schlampe. Und wärst du die reichste Frau der Welt, wärst du doch nur Abschaum. Warum habe ich das nur nicht früher erkannt!«
Melody drehte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellbogen und sah ihn lächelnd an. »Gute Nacht, gute Nacht, Süßer«, hauchte sie mit Kleinmädchenstimme. »Ach, was ich dich noch fragen wollte: Ist deine Schwester noch immer mit diesem Physikprofessor zusammen?«
»Das geht dich nichts an!«, schrie Neil, starrte sie eine Weile böse an und ging.