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Ein Schrei in der Nacht

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Thorgil hatte am nächsten Morgen tatsächlich einen blauen Fleck im Gesicht, aber mehr als das ärgerte es sie, dass sie sich nicht an den Schlafzauber erinnern konnte.

„Manche Leute beherrschen ihn und andere sind nicht in der Lage, ihm zu widerstehen.“

„Ich kann allem widerstehen“, protestierte die Schildmaid.

„Das wissen wir, aber gegen den Schlafzauber bist du machtlos. Das ist eben so. Du kannst auch nicht fliegen, egal, wie heftig du mit den Armen wedelst.“

„Das hat Olaf auch immer gesagt, wenn ich mich im Dichten versucht habe“, sagte Thorgil. „Aber seit ich aus Mimirs Brunnen getrunken habe, bin ich genauso gut wie Jack.“

„Das glaubst du“, widersprach Jack, den Thorgils Niederlage diebisch freute. Er konnte sich noch perfekt an die Musik des Zaubers erinnern und brannte darauf, ihn an einem der schwarzgesichtigen Schafe auszuprobieren.

„Ich werde jedenfalls nicht aufgeben“, verkündete sie. „Überleg mal, wie nützlich es wäre, seine Feinde in den Schlaf zu versetzen – wenn es auch nicht sehr ehrenvoll ist, einen Schlafenden zu töten.“

Der Barde schüttelte den Kopf. „Deine Motive sind wie üblich abstoßend. Sei so nett und sag Seefahrer, dass er in den nächsten Tagen nicht fliegen darf.“ Der Vogel hatte sich in seine Ecke zurückgezogen, nachdem sie ihn geweckt hatten, und er grummelte missmutig vor sich hin.

Thorgil kniete sich hin und sprach mit ihm. „Er ist nicht glücklich damit, hierbleiben zu müssen. Er sagt, dass er sich auf die Suche nach einem Weibchen machen muss.“

„Wo will er das tun?“, fragte der Barde.

Thorgil übersetzte. „Er sagt, dass er südlich von hier einige Weibchen gesehen hat, die fast die richtige Größe hatten.“

„Fast? Wölfe sind fast so groß wie Lämmer. Hat er irgendwelchen Erfolg gehabt?“

„Nein, aber er gibt die Hoffnung nicht auf.“

„Erkläre ihm, dass sein Flügel noch sehr schwach ist und dass er warten muss. Und dann möchte ich, dass ihr Wiesenpflanzen für mich sammelt. Ich brauche Beinwell, Mutterkraut, Minze und Baldrian. Und falls ihr Bilsenkraut findet, bringt es auch mit. Denkt aber daran, es von den übrigen Kräutern getrennt zu halten. Beifuß kann ich auch gut brauchen. Sucht auf sandigem Boden danach.“

Jack holte die Beutel, die sie immer für die Kräutersuche verwendeten, und kurz darauf waren sie auf dem Weg in das wilde Land, das jenseits der Felder rund um das Dorf lag. Es war warm, und die Dorfbewohner pflanzten bereits Erbsen und Bohnen für den Winter. Thorgil fand ein paar Büschel Lattich und Jack sammelte Beinwell. Inzwischen waren sie am Rand des Haselwalds angekommen.

„Puh, ist das heiß“, rief Thorgil aus und warf ihre Beutel in die Glockenblumen. Dann legte sie sich am Bach auf den Bauch und spritzte sich Wasser in den Mund. „Aaaah! Das schmeckt so gut wie Met!“

Jack gab ihr die Häfte der Haferfladen, die beim Frühstück übrig geblieben waren. „Der Barde sagt, dass wir in ein paar Wochen nach Bebbas Town gehen werden.“

„Ich weiß. Wir müssen Getreide kaufen. Sieht das Licht, das durch die Blätter scheint, nicht wunderschön aus? Und diese Schmetterlinge sind wie weiße Blütenblätter, die durch die Luft wirbeln.“

Jack wappnete sich gegen einen von Thorgils Gute-Laune-Anfällen. „Ich frage mich nur, wie wir das Getreide nach Hause bringen sollen. Die Straße ist so voller Löcher, dass dort unmöglich ein Karren fahren kann.“

„Der Barde sagt, dass wir ein Boot nehmen“, berichtete die Schildmaid und setzte sich auf. „Stell dir nur vor, endlich wieder Planken unter den Füßen zu haben! Wellen, die gegen den Bug krachen, der Wind, der in den Ohren heult! Erinnerst du dich an die Farbe, die das Meer bei Sturm annimmt – so grau und grün, und der Wind bläst den Schaum von den Wellen? Dann kann man fast in das Reich von Ägir und Ran sehen“, sagte sie voller Verehrung für die Meeresgötter der Nordmänner. „Weißt du noch?“

„Ja“, sagte Jack.

„Sehr glücklich scheinst du bei dem Gedanken aber nicht zu sein.“

„Wer ist denn schon scharf aufs Ertrinken? Das ist doch die einzige Möglichkeit, um Ran und Ägir zu begegnen.“

„Darum geht es doch gar nicht!“, rief sie erbost. „Es geht um die Schönheit dieser Farben! Und um die kalte Gischt, die dir ins Gesicht spritzt. Und das Schwappen des Wassers um deine Stiefel. Und das Gefühl, wenn sich das Boot in den Wind legt. Olaf hat immer Münzen verteilt, wenn wir zu kentern drohten, damit wir ein Geschenk für Ran haben, wenn wir ihre Hallen betreten. Das Seekönigreich ist nicht so glorreich wie Walhall, aber es ist nicht schlecht –“

„Thorgil“, sagte Jack.

„Ja?“

„Hör auf zu plappern.“

„Ich plappere nicht“, sagte sie zu glücklich, um beleidigt zu sein. „Vielleicht mieten wir in Bebbas Town eine knorr. Die sehen zwar nicht besonders gut aus, aber sie können Unmengen Vorräte befördern und machen die ganze Nacht das wundervollste Geräusch – knorr, knorr, knorr. Ein drekar wäre natürlich noch besser.“

„Wenn die Dorfbewohner einen drekar sähen, würden sie fluchtartig in die Hügel rennen“, sagte Jack.

„Das sollten sie auch besser. Ein Drachenboot voller Berserker – gibt es einen schöneren Anblick?“ Thorgil lächelte hinauf ins Sonnenlicht, das grün durchs Blätterdach fiel.

„Allerdings. Einen Lastkahn voller Getreide.“

„Du bist so langweilig wie eine Wegschnecke. Sag mal, Jack, ich muss dauernd über etwas nachdenken, das während des Gewitters geschehen ist. Ich weiß noch, dass ich über die Mauer des Schafstalls gestiegen bin und dass mich die Hagelkörner getroffen haben. Und dann lag ich dort draußen neben dem toten Schaf. Du hast mich hochgehoben –“

„In Ausnahmesituationen kann einem der Geist schon mal einen Streich spielen“, sagte Jack hastig und hoffte nur, dass sie sich nicht mehr daran erinnern würde, was er gesagt hatte.

„Ich weiß, aber mir ist, als hätte ich – ganz klar und deutlich – die Worte ‚Oh, meine Liebste‘ gehört. Ist das nicht komisch? Ich muss es mir eingebildet haben.“

„Das hast du ganz bestimmt. Der Sturm war viel zu laut, um etwas zu hören.“

„Die Worte waren aber sehr deutlich.“

„Wir sollten wieder anfangen zu sammeln“, sagte Jack.

Thorgil schnitt ihm eine Grimasse. „Von mir aus. Aber zuerst will ich im Bach ein Bad nehmen.“ Sie verschwand hinter ein paar Büschen, und einen Moment später hörte Jack sie herumplanschen.

Er wendete sich ab und vertrieb sich die Zeit damit, an einem y-förmigen Stock herumzuschnitzen. Ein paar Minuten später kam Thorgil zurück.

„Das ist eine Wünschelrute“, erklärte Jack und reichte sie ihr. „Sie muss aus Haselnussholz sein, weil die Haselbäume in der Erdmagie wurzeln. Du hältst die Wünschelrute an beiden Enden, und wenn du in der Nähe eines unterirdischen Stroms bist, zuckt die Spitze nach unten.“

„Hier kann man doch keine fünf Schritte machen, ohne auf einen Strom zu treffen“, sagte Thorgil lachend, „aber trotzdem danke. Ich hebe mir deine Wünschelrute für später auf.“ Sie steckte sich den Zweig in den Gürtel. „Würdest du gern die Vogelsprache lernen?“

„Wieso – ja!“, antwortete Jack verblüfft. Thorgil hatte ihm tatsächlich gedankt! Und sie hatte angeboten, ihr Wissen mit ihm zu teilen. Und gebadet, ohne dass man sie mit Drohungen dazu zwingen musste. Sie hatte wirklich ungewöhnlich gute Laune.

„Also gut: So begrüßt du Seefahrer. Als Erstes musst du ihm ein Kompliment zu seinen Flügeln machen.“ Thorgil krächzte – es klang wie eine Mischung aus Stöhnen und Kreischen.

Jack versuchte, es ihr nachzumachen, und sie verbesserte ihn, bis er es richtig hinbekam. „Wieso muss man ihm Komplimente machen?“, fragte er.

„Albatrosse sind stolz auf ihre Flügel, und wenn man sie nicht lobt, greifen sie sofort an. Mit Komplimenten jedoch bringst du ihn dazu, in seine Ecke zu gehen. Du bietest an, ihm das Gefieder zu putzen, aber du brauchst es nicht wirklich zu tun. Es ist nur ein Ausdruck für ‚bitte beruhige dich‘.“ Sie gab ein leises Brummeln von sich, gefolgt von einem Seufzer.

Diesen Ausdruck lernte Jack schnell, weil er wie Musik klang. „Woher weißt du das alles? Selbst der Barde hat noch nie einen Albatros gesehen.“

„Es ist einfach … ein Teil von mir“, versuchte Thorgil zu erklären. „Seit ich das Drachenblut geschluckt habe, fühle ich mich mit den Wesen der Luft verbunden. Als wir nach Mittelerde zurückkamen, musste ich mich anfangs sehr konzentrieren, um die Vögel zu verstehen, aber im Laufe der Zeit sind ihre Stimmen immer deutlicher geworden.“

„Das ist eine wundervolle Gabe“, stellte Jack voller Neid fest und fügte hinzu: „Ich wünschte, ich würde sie ebenfalls besitzen.“

„Nein, ist es nicht.“ Thorgil ließ sich ins Gras fallen. Ein paar Drosseln zwitscherten sich in den Bäumen etwas zu und Jack fragte sich, was sie wohl sagten. Plötzlich bekam er ein Gefühl für das miteinander verwobene Leben im Haselwald – für die Maulwürfe, die blind die Erde vor sich herschoben, die Fische auf ihrer Wanderung den Bach hinauf, die Libellen, die in den Sonnenflecken herumsurrten, die durch die Baumkronen fielen. Der ganze Wald war wie ein großes Lebewesen, das nach etwas strebte – aber nach was?

Thorgil unterbrach seine Gedanken. „Anfangs war es lustig, etwas zu können, was kein anderer konnte. Aber dann wurde ein Fluch daraus. Du musst wissen, dass Vögel nie den Schnabel halten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie grässlich es ist, jeden Morgen nach dem Aufwachen als Erstes Gejammer über Regenwürmer und juckende Federn hören zu müssen.“

Sie ließ den Kopf hängen. Dabei sah sie so verzagt aus, dass Jack nicht mehr daran dachte, wie sehr sie Mitgefühl verabscheute, und ihr aus einem Impuls heraus den Arm um die Schultern legte.

„Bemitleide mich gefälligst nicht!“, fauchte Thorgil ihn an und schubste ihn grob zur Seite.

„Was ist los mit dir? Ich wollte doch nur nett sein!“, fuhr Jack sie an.

„Du behandelst mich wie ein dummes Mädchen.“

„Du bist ein Mädchen“, erwiderte Jack.

„Ich bin eine Schildmaid, keine rotznäsige angelsächsische Kuh!“

„Wann hörst du endlich auf, meine Leute zu beleidigen, und siehst dich mal selbst an?“, rief Jack empört aus. „Du zeigst weniger Dankbarkeit als eine Sumpfratte. Musst du jeden beleidigen, der dir über den Weg läuft?“

„Ich werde meine Ansprüche bestimmt nicht herunterschrauben, nur weil ich in einem Schweinestall leben muss“, konterte Thorgil hochnäsig.

„Schweinestall? Wie kannst du es wagen, so etwas zum Haus meiner Eltern zu sagen? Ich weiß noch gut, dass du im Nordland bei den Hunden geschlafen hast, weil das die Einzigen waren, die dich geduldet haben.“

„Selbst ein Nordmann-Hund hat mehr Ehre als ein winselnder Angelsachse.“

„Tatsächlich? Nun, jeder winselnde Angelsachsen-Hund hat mehr Ehre als ein Thrall, der außerdem nur ein halber Nordmann ist!“, brüllte Jack ihr ins Gesicht.

„Ich bin kein Thrall!“, kreischte Thorgil und schnappte nach ihren Sammelbeuteln. „Und ich werde das Haus deiner Eltern nie wieder betreten!“ Bevor er etwas dazu sagen konnte, war sie schon davongestürmt.

So viel zu Thorgils guter Laune, dachte Jack und rieb sich die Beule an seinem Kopf. Dann ging er in die andere Richtung davon.

Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt und bedauerte ihren Streit. Aber Thorgil konnte einen auch zur Weißglut treiben! Sogar Olaf Einbraue hatte sie regelmäßig umgehauen, wenn sie einen ihrer Wutanfälle hatte. Natürlich hatte Olaf jeden regelmäßig umgehauen, auch Jack. Das war bei den rauen Nordmännern eben so üblich.

Jack setzte sich in den Schatten eines Baums, horchte in sich hinein und versuchte, das merkwürdige Gefühl wiederzufinden, das er zuvor gehabt hatte; dass der Wald ein Wesen mit einem einzigen Streben war. Vielleicht lag es an der starken Konzentration der Erdmagie oder vielleicht – ein eisiger Finger schien plötzlich Jacks Herz anzutippen – herrschte hier der Herr des Waldes; vielleicht war ja der Haselwald ein Ausläufer seines Reiches. Jack erinnerte sich noch gut an das gedämpfte Wispern der Blätter in diesem Reich und daran, wie die Wurzeln plötzlich hochgekommen waren, um nach seinen Knöcheln zu schnappen.

Das hier ist nicht das Land der silbernen Äpfel. Ich mache mich nur selbst verrückt, sagte er sich. Der Herr des Waldes hätte nie erlaubt, dass seine Bäume so stark zurückgeschnitten wurden, wie es hier gemacht worden war. Dies war Jacks Land, wo die Leute vernünftig waren. Hier geisterten keine piktischen Götter herum.

Er vertrieb alle Gedanken, um die Erdmagie zu rufen. Komm zu mir. Zeig dich. Zeig mir die Pfade, auf denen du reist. Aber der Wald blieb unverändert, die Vögel flatterten von Ast zu Ast, Frösche quakten, und in den Zweigen arbeiteten Spinnen an ihren Radnetzen.

Im Westen neigte sich die Sonne, und Jack fiel ein, dass er die Kräuter noch nicht gesammelt hatte, die der Barde brauchte. Er suchte die Grenze zwischen dem Eichen- und dem Haselwald ab. Dort fand er ein paar Büschel Minze und kaute eine Handvoll der Blätter, um seinen Hunger zu betäuben. Er sammelte Alant gegen Husten, Fenchel gegen Bauchweh und Baldrian gegen unruhigen Schlaf. Er pflückte auch Beifuß gegen das Fliegende Gift, das von Haus zu Haus zog und Fieber mitbrachte.

Unter einer Birke entdeckte Jack Fliegenpilze, die zwar sehr hübsch, aber auch sehr gefährlich waren. Ihr leuchtend roter Hut war mit weißen Tupfen übersät, und der Barde hatte gesagt, dass die Nordmänner diese Pilze manchmal benutzten, um zu Berserkern zu werden. „Sie bekommen davon Visionen und gelegentlich bringt es sie auch um“, hatte der Barde erzählt. „Zu schade, dass das nicht häufiger passiert.“ Jack fragte sich, ob Thorgil jemals davon gegessen hatte.

Wo steckte sie? Sie würde ihre Drohung wahr machen, sich von Jacks Elternhaus fernzuhalten. Wenn sie so etwas sagte, war das bei ihr stets gleichbedeutend mit einem Schwur. Er würde Mutter und Vater erklären müssen, warum sie nicht mehr kam, aber die beiden würden erleichtert sein. Mittlerweile hatten alle Thorgils ewige Streitereien mit den Tanner-Mädchen satt. Wohin würde sie gehen? Vielleicht würde John der Böttcher sie in seiner Scheune schlafen lassen. Er hatte ihr Geschick im Umgang mit Pferden bewundert. Und wenn es Winter wurde, konnte sie beim Barden einziehen.

Jack sammelte ein paar der Fliegenpilze ein und achtete darauf, dass sie keinen Kontakt zu den anderen Kräutern bekamen. Ein Eichhörnchen flitzte an einem Stamm hoch, und es hatte einen Fliegenpilz im Maul. Jack warf einen Stock nach ihm, damit es den giftigen Pilz fallen ließ, aber das Eichhörnchen kletterte so hoch, dass er es nicht mehr erreichen konnte, und knabberte an der giftigen Beute. Vielleicht haben Eichhörnchen gern Visionen, dachte Jack und hoffte nur, dass das Tierchen nicht tot vom Baum fallen würde.

Die Sonne versank hinter den Hügeln. Die Dämmerung verbreitete sich über dem Wald, und Dunst stieg aus dem feuchten Boden auf, sodass es aussah, als trieben die Bäume in einem weißen Meer. Und plötzlich verstummten die Vögel. Das ausgelassene Gezwitscher, das sonst immer den Sonnenuntergang begleitete, war auf einmal weg, als wäre zwischen den Bäumen ein unsichtbarer Feind aufgetaucht. Die Dämmerung wurde dunkler, die Kühle kälter, die Erde feuchter.

Jack rührte sich nicht.

War es ein Wolf? Oder, Gott behüte, ein Bär? Merkwürdigerweise konnte er Seetang riechen, obwohl es vollkommen windstill war. Hat sich einer der Pfade zwischen den Welten geöffnet?, dachte Jack aufgeregt und ein wenig ängstlich zugleich. Wenn ja, was war hindurchgegangen?

Eine kalte Erscheinung verbreitete sich im Nebel. Sie umhüllte ihn mit solcher Bosheit, dass er nach Luft schnappte und beinahe seine Beutel fallen ließ. Eine solche Kälte hatte er seit seiner Begegnung mit Frith Halbtroll nicht mehr gespürt. Es war wie eine Tür ins Herz des Winters. Sein Körper wurde eiskalt, und sein Kopf war wie leer gefegt.

In weiter Ferne läutete Bruder Aiden zum Gebet. Es war ein zartes Klingen, kaum lauter als das Zwitschern eines Nestlings, aber so klar, dass es die hereinbrechende Düsternis durchdrang. Der Zauber war verflogen. Jack drückte sich die Sammelbeutel an die Brust und rannte den langen, von Glockenblumen gesäumten Pfad entlang, der im Zwielicht hellgrau schimmerte. Nebel waberte um seine Beine. Der Herzschlag pochte ihm in den Ohren. Seine Füße versanken in einem Schlammloch, was ihn beinahe zu Fall gebracht hätte, aber er hetzte weiter, bis er offenes Feld erreichte.

Er rannte, bis der Haselwald sich gegen den Eichenwald nur noch als Schatten abzeichnete. Hier draußen war der Himmel noch blau, und das Sonnenlicht, das hinter dem Hügel hervorstrahlte, beleuchtete die kleinen weißen Wolkenfetzen. Obwohl das Feld stark unter dem Sturm gelitten hatte, sah es für Jack ganz normal und freundlich aus. Er beugte sich nach vorn, um wieder zu Atem zu kommen.

Bruder Aiden läutete die Glocke zum zweiten Mal, und aus dem Wald ertönte ein Schrei. Er hielt länger an, als jedes Lebewesen schreien konnte, und endete mit einem tiefen, bebenden Stöhnen. Doch da war Jack schon am anderen Ende des Feldes. Neben ihm rannte ein Reh, das so in Panik war, dass es den Menschen, der nur eine Armeslänge von ihm entfernt ebenfalls floh, überhaupt nicht wahrnahm.

Sie brachen gleichzeitig zusammen. Das Reh sah ihn mit seinen schönen dunklen Augen an, und er legte die Hand auf die warme Flanke des Tieres. „Keine Angst“, flüsterte er. „Es wird nicht ins Licht kommen.“ Er hoffte nur, dass das stimmte. Das Reh starrte ihn an, und seine Seiten hoben und senkten sich wie ein Blasebalg. Bruder Aidens Glocke ertönte erneut, und Junge und Reh sahen sich hektisch zum Wald um.

Aber es passierte nichts mehr. Nach einer Weile erhob sich das Reh und wanderte davon. Auch Jack stand auf und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er dachte an den Barden. Der alte Mann wartete auf seine Kräuter, und vielleicht war auch Thorgil dort.

Jack sah zurück zum Wald. Als er die Schildmaid zuletzt gesehen hatte, war sie auf dem Weg in die Felder gewesen. Sie hatte sicher das Bestreben gehabt, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und ihn zu legen, was bedeutete, dass sie ans Meer gelaufen war. Dort ging sie immer hin, wenn sie etwas bedrückte. Sobald sie sich beruhigt hatte, würde sie vermutlich beim Barden aufkreuzen.

Der Gedanke an das römische Haus und an den alten Mann, der dort wartete, hatte etwas sehr Verlockendes. Aber – der Schrei war durch Bruder Aidens Glocke ausgelöst worden. Am vergangenen Abend war die Kreatur am Strand gewesen, und diesen Abend war sie schon im Wald, viel dichter an Bruder Aidens Hütte. Und was immer es war, es hatte eindeutig böse Absichten. Der Schrei im Wald war voller Hass gewesen. Es war nicht der Hungerschrei eines Jägers gewesen, sondern eher die Stimme von etwas, dem alle irdischen Freuden versagt worden waren.

Seufzend schlug Jack den Weg ins Dorf ein. Er rannte über die dämmrigen Wiesen, vorbei an Schuppen und Hütten, bis er den kleinen Mönch vor seiner Hütte am Feuer knien sah.

Nebelrache

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