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Heitere Wehklage

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Jack kniete sich ebenfalls hin, weil er Bruder Aiden nicht stören wollte. Er konnte die Gebete zwar nicht verstehen, aber die Worte beruhigten ihn. Pega sagte oft, dass es sich rund um die Hütte des Mönchs immer anfühlte, als wäre Sommer, egal wie kalt der Wind blies. Bruder Aiden hatte etwas so Engelhaftes an sich, dass sogar die Frostriesen einen Bogen um sein Haus machten.

Jack spürte, wie sich eine Gelassenheit in ihm ausbreitete, als hätte die Kreatur im Haselwald gar nichts so Schreckliches an sich gehabt. Bestimmt war es nur ein versprengter Wolf gewesen, der nach seinem Rudel geheult hatte oder eine Robbe, die zu weit von der Küste weggewandert war. Schließlich hatte es nach Seetang gerochen.

„Ich sollte dir Latein beibringen“, sagte Bruder Aiden. „Dann würdest du beim Gebet nicht mehr einschlafen.“

Jack fuhr hoch. „Es tut mir leid, Herr. Es waren die Wärme und die Stille hier. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet.“

„So schlimm ist das nicht“, sagte der Mönch fröhlich. „Ich würde dich hereinbitten, aber drinnen ist kein Platz.“ Er deutete auf die Tür seines Häuschens in der Form eines Bienenkorbs. Jack war ein- oder zweimal darin gewesen und wusste, dass es kaum mehr als eine von Menschen gemachte Höhle war. Der Platz reichte gerade für einen winzigen Altar, einen kleinen Vorrat an Pergament und Tinte und einen Haufen getrocknetes Heidekraut als Bett. Wer größer war als der Mönch, konnte nicht einmal aufrecht stehen.

Draußen, wo Bruder Aiden an seinen Manuskripten arbeitete, standen ein Tisch und ein Stuhl. In einer stabilen Kiste unter dem Tisch waren Geschirr und Lebensmittel untergebracht. Die Glocke hing in der Nähe des Feuers an einem Holzgestell.

„Aber ich kann dir etwas von Pegas ausgezeichnetem Rüben-und-Aal-Eintopf anbieten“, sagte der Mönch und deckte den Tisch mit Schalen, Löffeln und einem Messer für sich. Wie die meisten Dorfbewohner hatte Jack sein eigenes Messer bei sich. Seines war etwas Besonderes, denn er hatte es von der Bergkönigin geschenkt bekommen. „Ich will nur eben ein letztes Mal läuten – meine Güte! Was ist in dich gefahren?“, rief Bruder Aiden aus, als Jack seinen Arm packte.

„Entschuldigt, Herr“, sagte Jack hastig, „aber das dürft Ihr nicht. Zumindest nicht heute Abend.“

„Und wieso nicht?“, fragte der Mönch und rieb sich den Arm.

„Ich – ich bin nicht sicher. Aber da ist etwas im Wald, das furchtbar schreit, wenn Ihr die Glocke läutet. Gestern Abend war es am Strand und jetzt ist es näher gekommen. Wir sollten lieber den Barden fragen, was zu tun ist.“

„Iss erst mal, Junge. Mit vollem Magen erklärt es sich besser.“ Bruder Aiden löffelte Eintopf aus einem Kessel am Feuer und wickelte einen kleinen Laib Brot aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Glocke jemanden zum Schreien veranlasst. Sie hat einen so schönen Klang, der ihr den Namen gab: Heitere Wehklage.“

„Heitere Wehklage?“, wiederholte Jack undeutlich durch einen Mund voll Brot. „Das klingt gar nicht gut.“

„Das hängt davon ab, was man beklagt“, sagte Bruder Aiden. Er nahm sich weniger Eintopf als Jack und nur eine hauchdünne Scheibe Brot. „Es gibt eine Sehnsucht, die einen überkommt, wenn man etwas sieht, das so perfekt ist, dass es nur göttlich sein kann – zum Beispiel ein Lamm, das zum ersten Mal auf eigenen Beinen steht, oder eine Schwalbe, die aus einer Wolke heraussegelt. Diese Momente sind so wundervoll, dass man sie am liebsten in alle Ewigkeit festhalten würde, was natürlich nicht geht. Und so kann man wehklagen und gleichzeitig Freude empfinden.“

Jack bemühte sich, diesem Gedankengang zu folgen. Anscheinend war dies ein weiteres Rätsel rund ums Glücklichsein. Er bezweifelte allerdings, dass Gog und Magog beim Muhen mit den Kühen viel Anlass zur „heiteren Wehklage“ gehabt hatten. Die Kühe wiederum schienen recht glücklich zu sein. Sie machten sich keine Sorgen darüber, ob das Muhen jemals aufhörte.

„Was man in solchen Momenten wirklich sieht, ist ein Stück vom Himmel, denn im Himmel endet dieses Gefühl niemals“, erklärte der Mönch. „Der Klang der Heiteren Wehklage erinnert uns an die Freuden, die jenseits der Mühsal dieser Welt liegen. Wusstest du, dass dies die Glocke ist, die der heilige Kolumban aus Irland mitgebracht hat?“ Ehrfürchtig nahm Bruder Aiden die Glocke vom Haken und stellte sie auf den Tisch. „Sie war es, die die Pikten von den Hügeln heruntergelockt hat.“

„Ich habe gehört, dass sie herbeigeströmt sind, um den heiligen Kolumban zu töten, aber er hat sie mit der Drohung, sie alle in den Wahnsinn zu treiben, zu Tode erschreckt“, sagte Jack, der diese Geschichte von den Hobgoblins gehört hatte.

Bruder Aiden runzelte die Stirn. „Das kann nicht stimmen. Das klingt gar nicht nach einem Heiligen.“

„Vielleicht ist es nur ein Gerücht“, sagte Jack, der den sanftmütigen Mönch nicht unnötig aufregen wollte. Um abzulenken, berichtete er schnell von dem Ungeheuer im Haselwald, aber Bruder Aiden schien davon wenig beeindruckt.

„Durch den Sturm wurden viele Tiere in alle Winde verstreut. Mich hat erst heute eine Kuh furchtbar erschreckt, die nach ihrem Kalb gebrüllt hat. Man täuscht sich leicht, wenn es dunkel und man allein ist. Als ich mal nachts unterwegs war, sah ich plötzlich am Wegrand ein Paar riesiger blau glühender Augen aufleuchten.“

„Wirklich? Was habt Ihr dann getan?“

„Es gab kaum etwas, das ich hätte tun können. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden, und ich konnte kaum erkennen, wohin ich meine Füße setzte. Ich schickte ein stummes Gebet zum heiligen Kolumban und ging langsam weiter, das Kreuz um meinen Hals fest umklammert. Und dann – keine fünf Schritte entfernt – tauchte auf der anderen Straßenseite ein zweites leuchtendes Augenpaar auf.“ Bruder Aiden biss von seinem Brot ab und kaute bedächtig. Er konnte fast genauso gut Geschichten erzählen wie der Barde und wusste genau, wann er eine Pause machen musste, um die Spannung zu erhöhen.

Jack wartete ungeduldig, dass der Mönch endlich schluckte.

„Ich ging ein paar Schritte weiter“, fuhr Bruder Aiden fort, „und das Nächste, was ich sah, war ein drittes Augenpaar direkt vor mir auf der Straße. Möchtest du etwas Most? Deine Mutter hat mir heute Morgen einen Schlauch voll bringen lassen.“

„Nein! Ich meine, nein, vielen Dank. Bitte erzählt weiter“, drängte Jack. Der Mönch lächelte zufrieden.

„Also gut. Ich stand bewegungslos und wagte keinen Schritt mehr zu machen. Wenn ich mich umgedreht hätte, wären mir die Bestien in den Rücken gesprungen. Ich schickte ein Gebet zum heiligen Christophorus, der die Reisenden beschützt. Dann habe ich Jesus meine Seele anempfohlen, für den Fall, dass Christophorus gerade anderweitig beschäftigt war. Jemand muss aber zugehört haben, denn plötzlich kam der Mond hinter den Wolken hervor und die Straße war von wundervollem Licht erfüllt. Und ob du es glaubst oder nicht – die Augen waren verschwunden. An ihrer Stelle waren nun Schafe – ganz normale Schafe. Du siehst also, welche Streiche uns der Verstand spielt, wenn wir Angst haben. Ich bin sicher, dass dein Ungeheuer etwas ebenso Normales ist.“

Jack unterdrückte den Drang, ihm zu widersprechen. Er hatte ein außergewöhnlich gutes Gespür für die Dinge, die jenseits des Alltags lagen. Manchmal wurde ihm vom Zaubern richtig schlecht, und der Barde sagte, das läge daran, dass seine Abwehr zu schwach war. Es brauchte Jahre, bis man gewisse Kenntnisse ertragen konnte, und Jack hatte viele davon erlangt, bevor er reif dafür gewesen war. Der unglaubliche Hass, den das Ungeheuer ausgestrahlt hatte, war real gewesen. Er brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, dass es ein Feind war.

Jack legte die Glocke auf die Seite und achtete sehr darauf, den Klöppel festzuhalten. Die Glocke war eckig mit abgerundeten Ecken, und im Feuerschein schimmerte sie rötlich. Trotz ihrer schlichten Machart hatte sie eine edle Ausstrahlung, die Jack an Paläste und Könige denken ließ. „Die ist schön“, stellte er fest.

„Mit Gold überzogene Bronze“, sagte Bruder Aiden stolz. „Das gibt ihr diesen tiefen, musikalischen Ton.“

„Der Klöppel sieht aber aus wie Eisen“, bemerkte Jack.

„Gut beobachtet. Bronze wäre zu hart und würde die Glocke beschädigen.“

„Warum ist er geformt wie ein Fisch?“, fragte Jack. Tatsächlich war der Klöppel ein richtiges Kunstwerk mit Flossen und Schuppen und zwei runden Fischaugen, die über den unteren Rand der Glocke hinausragten. Der Fischklöppel war etwas mitgenommen vom Gebrauch.

„Pater Severus sagt, dass der Fisch die Kirche symbolisiert. Möchtest du noch Eintopf?“

„Nein, danke“, sagte Jack höflich, obwohl er ohne Mühe den Topf hätte leer essen können. Aber er wusste, dass der Eintopf eigentlich das morgige Frühstück des Mönchs war. So räumten sie ab, Jack scheuerte ihre Schalen mit Sand aus, und Bruder Aiden verstaute die Essensreste in seiner Truhe.

Der Halbmond am Himmel schickte gerade genügend blasses Licht zur Erde, dass Jack sich auf den Rückweg zum Haus des Barden machen konnte. Er sammelte seine Beutel ein und steckte das Messer wieder in die Scheide am Gürtel. „Warum begleitet Ihr mich nicht?“, schlug er vor. „Der Barde schätzt Eure Gesellschaft.“

„Ich komme morgen früh“, sagte Bruder Aiden. „Heute Abend muss ich über vieles nachdenken. Ich will wissen, was es mit dem Schrei auf sich hat, den du gehört hast.“

Jack schaute erschrocken auf. Also ahnte der Mönch doch etwas, von dem er nicht erzählen wollte. „Seid Ihr hier sicher?“, fragte Jack besorgt, denn gerade waren ihm die ums Haus lauernden Schatten und die große Entfernung zu den nächsten Nachbarn bewusst geworden.

„Niemand ist in dieser Welt vollkommen sicher“, antwortete Bruder Aiden. „Wenn es Gott gefällt, mich heute Nacht zu sich zu rufen, hoffe ich, tapfer zu gehorchen. Ich werde ausharren. Es gibt allerdings keinen Grund, Was-immer-es-ist in Versuchung zu führen. Ich werde die Glocke zu mir ins Haus nehmen, wenn auch nur der Herr allein weiß, wo ich dann noch Platz für meinen Kopf finden soll.“

Auf dem Heimweg über die Felder sah Jack sich immer wieder um, weil er sehen wollte, ob der Mönch noch draußen saß. Er glaubte zu erkennen, wie die Tür der Hütte geschlossen wurde und das Feuer plötzlich verblasste, als wäre etwas daran vorbeigelaufen. Riesige blau glühende Augen, dachte er und suchte die Dunkelheit ab. Wieso blau? Irgendwie war die Farbe der gruseligste Teil der Geschichte.

Rechts vom Weg lag das Meer, dessen graue Wellen an den Strand schwappten und sich dann wieder zurückzogen. Auf der linken Seite schlängelte sich ein schwarzer Bach entlang. Es roch nach Seetang und Mädesüß und in der Luft hing ein feiner, salziger Dunst. Auf dem letzten Stück des Weges konnte Jack das Meer nicht mehr sehen, aber er hörte, wie es rauschte und den Kies überspülte. Endlich erreichte er das Haus des Barden und war dankbar, wie schön warm es war.

„Das wird auch Zeit“, schimpfte der Barde, der mit Seefahrer zu seinen Füßen am Feuer saß. „Ich wollte schon eine Fledermaus nach dir ausschicken. Wo ist Thorgil? Erzähl mir nicht, dass sie jetzt auch noch Mondstrahlen sammelt.“

„Ich habe dir gesagt, du sollst keinen Streit anfangen“, sagte der alte Mann und spannte Schnüre quer durch den Raum. „Sie ist wie ein Schiff ohne Ballast, dem Wind hilflos ausgeliefert.“

„Ich habe den Streit nicht angefangen“, widersprach Jack missmutig und hängte die Kräuter zum Trocknen auf die Leinen. Er hatte berichtet, was am Tag vorgefallen war, und seinen Bericht mit dem Schrei und seinem Besuch bei Bruder Aiden beendet.

„Nein, aber du hast deinen Teil dazu beigetragen. Nur Freya weiß, wo Thorgil sich verkrochen hat.“ Der Barde öffnete den Beutel mit den Fliegenpilzen und schnupperte daran. „Hervorragend! Ich wollte dich schon bitten, nach diesen Pilzen Ausschau zu halten.“ Er fädelte die Pilze auf eine Schnur.

„Ihr wollt die aber … nicht essen, oder?“, fragte Jack zögernd. Er erinnerte sich daran, wie die Nordmänner die Pilze dazu benutzt hatten, zu Berserkern zu werden.

„Meine Sterne, Junge. Ich bin doch nicht verrückt. Sobald diese Pilze getrocknet und zu Pulver zerrieben sind, kommen sie in eine meiner besten Mixturen: Beelzebubs Wunderwaffe gegen Fliegen. Ich habe das Rezept entdeckt, damals, als ich Hrothgars Thronsaal ausräucherte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie widerwärtig ein Raum sein kann, nachdem sich ein Monster dort ausgetobt hat. Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich Beowulf das Leben gerettet habe?“

„Ja, Herr“, sagte Jack. Er mochte diese Geschichte, aber jetzt wollte er lieber erfahren, was es mit den Fliegenpilzen auf sich hatte.

„Hrothgar nagelte den Arm des Monsters an die Wand wie eine Trophäe. Dieser Dummkopf! Du machst dir keine Vorstellung, wie viele Fliegen das Ding angezogen hat. Um etwas frische Luft zu schnappen, bin ich in den Wald gegangen, und worauf stoße ich? Auf ein Fleckchen voller Fliegenpilze. Während ich es betrachtete, landete eine Fliege auf einem der Pilzhüte. Eine Minute später fiel sie tot zu Boden. Das war alles, was ich wissen musste. Ich zerdrückte die Pilze in Milch, tauchte Wolleklumpen in die Mixtur und hängte sie an der Decke von Hrothgars Halle auf. Du weißt ja, dass Fliegen gern in der Mitte des Raums kreisen. Wenn sie müde werden, ist es ganz normal für sie, dass sie den nächstbesten Landeplatz anfliegen. Auf Beelzebubs Wunderwaffe landen sie allerdings nur einmal.“

„Das ist genial“, staunte Jack.

„Das ist es. Ursprünglich habe ich das Gift als Drachenzunges Rache verkauft, bis Bruder Aiden den anderen Namen vorgeschlagen hat. Er meinte, Beelzebub würde den Christen besser gefallen.“

Jack nahm sich eine Schale voll Eintopf aus dem Kochtopf des Barden, der immer wieder aufgefüllt wurde. Nach einer zweiten (noch größeren) Portion fegte er den Boden und machte sich sein Bett an der Tür und lockerte das Stroh im Korbbett des Barden auf, das am anderen Ende des Hauses stand. Das Bett war oval, und der alte Mann lag darin so gemütlich wie eine Katze in ihrem Korb.

Aber der Barde wollte noch nicht schlafen gehen. „Scheuch Seefahrer in seine Ecke. Wir haben noch etwas zu tun.“

Jack brachte den Blubber-Zischlaut hervor, den Thorgil ihm beigebracht hatte. Er musste den Ton richtig getroffen haben, denn der große Vogel grummelte zufrieden, bevor er sich an seinen Schlafplatz verzog.

„Anscheinend hast du dich nicht den ganzen Tag mit Thorgil gestritten“, bemerkte der Barde.

„Das war wahrscheinlich das Letzte, was sie mir beigebracht hat, für immer und ewig“, seufzte Jack.

„Zähl deine Drachen nicht, bevor sie geschlüpft sind. Vielleicht ist sie gar nicht so wütend auf dich, wie du glaubst.“ Der Barde holte eine Flöte aus Metall aus einer seiner Truhen. Jack kannte Flöten, die aus Holz geschnitzt waren, aber diese hier sah wesentlich kunstvoller aus.

„Die sieht aus wie der Klöppel von Bruder Aidens Glocke“, stellte er überrascht fest. Die gleichen Flossen und Schuppen zierten die Seiten, und die gleichen runden Augen starrten über einem breiten Fischmaul in die Welt.

„Ah! Dann hast du sie dir also angesehen“, sagte der Barde. „Ich nehme an, dass Aiden dir gesagt hat, es wäre ein Symbol seiner Kirche. Nun, da irrt er sich. Es ist der Lachs, der die Hälfte des Jahres bei den Inseln der Seligen verbringt und im Herbst in die Gewässer seiner Jugend zurückkehrt. Manche nennen ihn den Lachs der Erkenntnis, weil er die Pfade zwischen dieser Welt und der nächsten kennt.“

„Bruder Aiden hat gesagt, dass die Glocke Heitere Wehklage heißt. Wenn die Leute sie hören, werden sie an den Himmel erinnert“, berichtete Jack.

„Sie zeigt den Menschen, was jenseits der untergehenden Sonne liegt. Nenn es Himmel, wenn du willst.“ Der Barde polierte die Flöte mit dem Saum seiner Robe. „Die Glocke hieß schon Heitere Wehklage, lange bevor ein Mönch seinen Fuß auf irischen Boden setzte. Sie wurde für Amergin gemacht, den Begründer meines Ordens. Im Laufe der Zeit kam sie dann in die Hände des heiligen Kolumban, der in jenem Jahr übrigens der Klassenbeste war.“

„Der heilige Kolumban war ein Barde?“, fragte Jack.

„Einer der besten. Er war es, der meine Schule ins Tal der Lieder verlegt hat, um sie vor den Christen zu schützen. Er selbst wurde auch Christ, doch er vergaß nie, was er gelernt hatte. Er konnte Wind herbeirufen und Sturm vertreiben, Wasser aus der Erde locken und mit Tieren sprechen. Als er alt war, kam ein weißes Pferd auf ihn zu und legte den Kopf an seine Brust. Da wusste er, dass der Wind nach Westen wehte und es an der Zeit war zu gehen. Es heißt, dass der heilige Steuermann Brendan ihn auf die Inseln der Seligen gebracht hat.“

Einen Moment lang wusste Jack nicht, was er sagen sollte. Die Vorstellung, wie das Pferd dem alten Barden die letzte Ehre erwies, rührte ihn irgendwie. Vor seinem inneren Auge sah er das Boot, mit dem Kolumban fortgebracht wurde. Es musste ein bescheidenes Boot gewesen sein, wie es sich für einen christlichen Heiligen gehörte, aber sein Platz im Meer war ihm sicher.

„Ich dachte immer … Heilige kämen in den Himmel“, sagte er schließlich.

„Vielleicht tun sie das. Aber die Inseln sind eine Zwischenstation für alle, die ihre Angelegenheiten in dieser Welt noch nicht geregelt haben. Die alten Götter leben dort, aber auch die großen Helden und Heldinnen. Amergin ist dort, es sei denn, er hat sich für eine Wiedergeburt entschieden. Aber es wird spät, und wir haben noch Arbeit zu erledigen.“

Sie gingen nach draußen. „Lass deinen Geist mit dem Wind treiben“, wies der alte Mann Jack an. „Spüre die Lebewesen der Lüfte.“

Der Junge hatte oft den Flug der Vögel verfolgt, das stetige Schlagen ihrer Flügel gespürt. Er hatte sie nur zum Spaß Wendungen und Sturzflüge machen lassen. Er hätte auch eine fette Ente in den Tod stürzen lassen können, obwohl das natürlich streng verboten war. Und jetzt suchte er wiederum den Himmel nach etwas ab, das dort flog. Sehr hoch oben entdeckte er einen Schwarm Gänse. Weiter unten segelte eine Eule auf der Suche nach Mäusen mit dem Wind. Und noch tiefer –

Jack hörte einen feinen, piependen Ton und seine Aufmerksamkeit ließ so weit nach, dass er mitbekam, wie der Barde auf seiner Flöte spielte.

Iiii iii iii, machte die Flöte. Ein schlichter Ton, aber dennoch nicht eintönig. Er hatte Schicht um Schicht eine tiefere Bedeutung, ähnlich einem von Blättern übersäten Teich, bei dem man zuerst auch nur die Oberfläche sieht und bei genauerem Hinschauen die Tiefe. Iiii iii iii machte die Luft an hundert Stellen gleichzeitig.

Und plötzlich wirbelten Unmengen von Fledermäusen um den alten Mann herum. Der Barde spielte auf seiner Flöte, und die Fledermäuse antworteten. Jack konnte Unterschiede in Lautstärke und Eindringlichkeit der Schreie heraushören, aber er hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten.

Der Barde setzte die Flöte ab. Mit einem trockenen Rascheln verzogen sich die Fledermäuse, und einen Moment später waren sie verschwunden. „Sie machen sich auf die Suche nach Thorgil“, erklärte der Barde. „Ich werde die Tür einen Spaltbreit offen lassen für den Fall, dass eine von ihnen zurückkommt.“

„Ist die Flöte dafür? Um Fledermäuse zu rufen?“, wisperte Jack. Er hätte nicht sagen können, wieso er die Frage flüsterte.

„Man kann viele Dinge mit ihr herbeirufen, und es sind ein paar dabei, die du bestimmt nicht sehen willst. Auf dem Weg nach Bebbas Town werde ich dir zeigen, was sie noch kann.“ Mehr sagte der alte Mann nicht. Jack war trotzdem begeistert. Er würde einen neuen Zauber lernen. Er hatte bereits ein wenig Vogelsprache gelernt und den Schlafzauber. Das Leben war schön.

Jack machte sein Bett am anderen Ende des Hauses. Er hatte keine Lust, die Nacht neben einer offenen Tür zu verbringen, durch die Fledermäuse hereinkamen – ganz zu schweigen von dem Ungeheuer, das im Haselwald herumgeisterte. Er behielt sein Messer in Reichweite und den Blick auf einen dicken Knüppel gerichtet, der im Feuer glimmte, nur für alle Fälle.

Der Barde schlief wie ein Murmeltier und wachte erfrischt auf, als es Jack gerade erst gelungen war, die Augen zu schließen.

Nebelrache

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