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Die wilde Jagd

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Thorgils schlechte Laune folgte ihnen bis nach Hause. Sie nahm Mutters Essen mürrisch entgegen und wollte wortlos anfangen, sich damit vollzustopfen.

„In diesem Dorf ist es üblich, sich für das Essen zu bedanken“, sagte Mutter.

Jack seufzte unhörbar. Der Schildmaid zumindest ein paar Manieren beizubringen – das war wohl eine Schlacht, die niemals ein Ende finden würde.

„Wieso?“, fragte Thorgil bockig.

„Um seine Dankbarkeit zu zeigen.“

„Ich bin dankbar. Ich esse diesen Fraß, oder etwa nicht? Außerdem macht das genauso viel Sinn, als würdest du mir dafür danken, dass ich Farn schneide. Wenn wir damit anfangen, dass sich jeder beim anderen für jede kleine Handreichung bedankt, werden wir nicht mehr zum Arbeiten kommen.“

„Darum geht es nicht“, widersprach Mutter geduldig. „Die Menschen hören gern ein paar nette Worte. Es ist dasselbe wie ‚Guten Morgen‘ oder ‚Wie geht es dir?‘.“

„Und wenn es ein lausiger Morgen ist oder es mich nicht die Bohne interessiert, wie es jemandem geht?“

„Ach, mach doch, was du willst!“, rief Mutter aus. „Manchmal wünschte ich, dass ein Nordmann-Schiff kommt und dich mitnimmt!“ Sie stürmte hinaus, und Jack hob die Brauen. Es passte nicht zu seiner Mutter, dass sie so die Beherrschung verlor. Aber wenn Thorgil eine ihrer Launen hatte, machte sogar der sanfte Bruder Aiden Tintenkleckse auf seine Manuskripte.

Jack hörte, wie seine Mutter mit Pega besprach, auf welche Weise sie das Vieh vor dem aufziehenden Gewitter schützen konnten. Die Kühe und Pferde würden sich in der Scheune zusammendrängen müssen. Die robusteren Schafe konnten draußen bleiben.

„Sogar Olaf Einbraue hat den Leuten einen Guten Morgen gewünscht“, bemerkte Jack und bezog sich damit auf Thorgils verstorbenen Pflegevater.

„Aber nur, wenn es auch ein guter Morgen war. Er hat nie gelogen.“ Thorgil fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Weinst du etwa?“

„Natürlich nicht. Es ist nur dieser stinkige Qualm in dieser stinkigen Hütte.“ Die Schildmaid rieb immer noch an ihren Augen herum.

„Willst du etwas von meinem Brot haben?“

„Wieso sollte ich deine wurmzerfressenen Essensreste haben wollen?“, fuhr Thorgil ihn an, doch an der Art, wie sie aß, war deutlich zu erkennen, wie viel Hunger sie hatte.

Mitgefühl war bei ihr total verschwendet, dachte Jack. Sie betrachtete es als Schwäche. Ihre Wutausbrüche waren mit Sommergewittern zu vergleichen, die Blitze flogen in alle Richtungen, aber wenn man geduldig war – und die Beleidigungen einfach ignorierte –, verzogen sich die schwarzen Wolken irgendwann wieder. Jack war nicht sicher, was ihm lieber war, Thorgils schlechte Laune oder ihre gelegentlichen Anfälle von Freude. Manchmal bekam sie eine Art Rappel und geriet über Farben, Gerüche oder Geräusche vollkommen aus dem Häuschen. Dann packte sie seinen Arm und zwang ihn, sich auf das zu konzentrieren, was es gerade war.

Der Barde sagte, dass das passierte, weil Thorgil als Berserkerin aufgezogen und damit dem Tod geweiht war. Aber seit sie die Schutzrune trug, stand sie unter dem Schutz der Erdmagie. Da war es nur verständlich, dass diese beiden Instinkte einander bekämpften.

Pega kam mit einem Huhn im Korb an die Tür, und Jacks Laune besserte sich schlagartig. Bei Pega fühlte man sich nie schlecht. Sie war immer vernünftig und stets bemüht, andere Leute glücklich zu machen. Sie half Mutter beim Kochen, jätete Unkraut im Kräutergarten des Barden und wachte darüber, dass Bruder Aiden das Essen nicht vergaß. Sie war als Sklavin geboren worden und für jedes nette Wort rührend dankbar. Jack fand, dass sie beinahe hübsch war, wenn man nicht auf das entstellende Muttermal achtete, das die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Der Barde sagte, dass es an ihrer Seele lag, die durchschimmerte, so wie Thorgils ewiges Grollen ihre tatsächliche Schönheit verbarg.

„Wir müssen die Hühner hier unterbringen“, erklärte Pega und stellte den Korb an der Wand ab. „Du solltest den Himmel im Süden sehen! Er ist ganz komisch und dunkel, aber es sind keine Wolken zu erkennen.“

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Jack hoffnungsvoll.

„Ich brauche dich, um den Arbeitern ihr Essen aufs Feld zu bringen“, sagte Mutter, die mit einem weiteren Huhn unter dem Arm die Tür aufstieß. „So wie der Himmel aussieht, schafft ihr es nicht, noch mehr Farn zu schneiden. Sieh auf dem Rückweg noch einmal nach den Bienen.“

Sie lächelte nicht, und Jack fand es unfair, dass er zusammen mit Thorgil in Ungnade gefallen war. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass die Schildmaid nicht zu zügeln war. Sogar Olaf Einbraue hatte sie gelegentlich von einer Klippe baumeln lassen, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Leider hatte Olaf sie auch für schlechtes Benehmen belohnt, denn die Nordmänner hatten mit guten Manieren nichts im Sinn.

Jack und Thorgil beluden den Esel mit Brotkörben und Schläuchen voll Apfelmost. Die meisten Dorfbewohner ernteten Heu, so schnell sie konnten. Ein paar wie Mutter und die Frau des Ältesten sorgten für die Verpflegung, damit die Männer keine Zeit verloren. Der Himmel hatte sich in den letzten Minuten dramatisch verändert. Im Norden war er blau, aber wenn man Richtung Süden schaute, verwandelte sich seine Farbe in Schiefergrau. Doch wie Pega gesagt hatte – es waren keine Wolken zu sehen.

„Was ist das auf einmal für ein komischer Geruch?“, fragte Thorgil.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Jack. „Es riecht ein bisschen wie Kleidung, die in der Sonne trocknet.“

„Es riecht … schön. Ich habe das Gefühl, als müsste ich rennen oder singen. Vielleicht wird dieses Gewitter doch ein großer Spaß.“ Ihre finstere Miene hellte sich auf. Jack fand es typisch für sie, dass sie von etwas aufgeheitert wurde, vor dem sich alle anderen fürchteten.

„Ich habe noch nie so einen Himmel gesehen“, bemerkte er.

„Ich schon“, sagte die Schildmaid, „als ich noch sehr klein war. Meine Mutter hat mich in den Keller getragen, in dem das Gemüse gelagert wurde. Sie hat versucht, mich zu beschützen, und ich erinnere mich, dass sie auf mir lag. Ich habe die Hunde heulen gehört oder vielleicht auch den Wind –“

„Lass uns das Essen verteilen“, sagte Jack schnell, um das Thema zu wechseln. Thorgils Mutter war eine Sklavin gewesen, die man bei der Einäscherung von Thorgils richtigem Vater auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte. Alle Erinnerungen, die Thorgil an dieses Leben hatte, waren grausig. Und wenn sie wirklich einmal darüber sprach, machte sie das so wütend, dass sie geradezu unausstehlich wurde.

Sie rannten von einer Farm zur nächsten und lieferten das Essen auf Feldern und in Scheunen ab. Die Scheunen hatten Schieferböden, die mit einer Schicht Adlerfarn bedeckt waren. Die Farnwedel schützten das Heu nicht nur vor der aufsteigenden Feuchtigkeit, sie schnitten den Ratten auch in die Mäuler, was die Schädlinge vom Heu fernhielt. Das Vieh war auf das Heu als Winterfutter angewiesen. Wenn es verregnete, verdarb es und die Tiere würden verhungern. Das frische Heu verbreitete einen angenehmen Duft.

Auf jeder Wiese sah Jack, wie die Leute sich bückten und Garben banden. Wenn es möglich war, benutzten sie den Karren des Hufschmieds für den Transport. Aber es war Eile geboten, und so trugen viele der Dorfbewohner ihr Heu eigenhändig nach Hause. Wer keine Scheune hatte, schützte seine Heustapel mit einer Haube aus Riedgras und hoffte das Beste.

Vor Monaten hatte Jack versucht, Thorgils Pferde vor einen Karren zu spannen, aber sie hatten gegen das Geschirr gekämpft und waren nicht zu bändigen gewesen. Das war noch etwas, das man ihm vorwarf, obwohl es nicht seine Schuld war. Er hatte doch keine Ahnung, wie man Pferde trainierte! Es war Thorgil, der sie vertrauten, aber sie weigerte sich, die beiden Tiere zur Farmarbeit auszubilden. Es wären schließlich Kriegspferde und keine Thralls, wie sie ihm an den Kopf geworfen hatte.

Thorgil war auch sonst ein Problem. Jack sah, wie ungern die Dorfbewohner das Essen aus ihren Händen nahmen und wie sie sich danach wegdrehten und ein Kreuz schlugen.

Jack und Thorgil ließen den Esel in der letzten Scheune und machten sich auf den Weg zu den Bienenstöcken. „Wir sollten uns beeilen“, sagte Jack und schaute in den schwarzen Himmel im Süden. Waren da Wolken? Irgendetwas war da, und doch war die Luft still und wie tot. Die Blätter an den Bäumen hingen schlapp herunter.

Sogar die Bienen wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie flogen nicht mehr auf der Suche nach Nektar hin und her, und die Aufpasser summten vor dem Eingang herum, als rechneten sie mit einem Feind, der aus dem Hinterhalt angriff. Die Nester waren mit umgestülpten Körben geschützt, ähnlich den Hauben auf den Heustapeln. In einer Scheune wären die Bienen entschieden sicherer gewesen, aber es verwirrte die Tiere immer ganz furchtbar, wenn die Bienenkörbe umgestellt wurden. Sie würden also überleben müssen, wo sie waren.

Im Frühjahr hatte Vater eine Steinmauer um die Körbe gebaut, damit die Schafe ihnen beim Grasen nicht zu nahe kamen, und jetzt war Jack froh über den zusätzlichen Schutz. „Die benehmen sich, als wäre es Nacht“, stellte er verwundert fest. „Sie sind fast alle drinnen. Hör dir das Summen an!“

„Weißt du was? Ich kann beinahe verstehen, was sie sagen“ Thorgil presste ihr Ohr gegen einen der Körbe. „Es ist so ähnlich wie mit den Vogelstimmen. Ist das nicht verrückt?“

„Bienen sind doch auch Kreaturen der Lüfte. Was sagen sie?“

„Sie haben Angst. Sie spüren den nahenden Tod – au!“ Thorgil schlug sich aufs Ohr und sprang zurück.

„Geh lieber weg. Wenn eine sticht, machen die anderen es ihr nach“, rief Jack.

Aber die Bienen blieben in ihren Körben. Jack und Thorgil hockten sich ein Stück entfernt hin und beobachteten sie. Welchen Feind die Bienen auch immer ausgemacht hatten, er war offensichtlich zu gefährlich, um sich ihm entgegenzustellen.

„Sieh doch!“, rief Jack fassungslos. Im Süden türmten sich jetzt Wolken am Himmel auf. Aus der verschwommenen Schwärze hatten sich nebelartige Fetzen gebildet, die mit solchem Tempo auf sie zurasten, dass Jack sich instinktiv auf den Boden warf und Thorgil mit sich riss. Eine Sekunde später war das Gewitter da.

Aus der vollkommenen Stille war plötzlich ein Orkan geworden, der sie über den Boden schob. Einer der Bienenkörbe kippte um und fiel gegen die Steinmauer. Der Wind heulte so laut, dass Jack ihn nicht überschreien konnte. Auf dem Bauch robbten er und Thorgil auf einen Schafstall zu, der am Feldrand stand. Er konnte ihn nicht sehen, bis ein Blitz alles in weißes Licht tauchte, dicht gefolgt von einem Donnern, das den Boden beben ließ.

„Bei Thor!“, formten Thorgils Lippen im gleißenden Licht. Sie robbten, so schnell sie konnten, und erstarrten jedes Mal, wenn ein Blitz vom Himmel schoss. Bis jetzt regnete es noch nicht. Sie erreichten den Schafstall und quetschten sich zu den drei Mutterschafen, die dieselbe Idee gehabt hatten. Der Wind fauchte über die schützende Steinmauer hinweg, aber auf dem Boden, in einem Haufen feuchter Wolle, fühlte Jack sich beinahe sicher.

„Bei Thor!“, brüllte Thorgil wieder und zeigte nach draußen.

Jack schaute hinaus und sah eine röhrenförmige Wolke vom Himmel herunterhängen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Sie brüllte wie tausend wütende Bienen und Jacks Haut kribbelte, als liefen Ameisen darüber. Der Mund der Röhre klaffte auf, und er sah, wie Blitze darin herumwirbelten und Äste und etwas, das aussah wie ein Teil von einem Haus. Dann war es weg.

Die Schafe blökten entsetzt und drängten sich noch dichter zusammen. Jack vergrub sich in ihnen, aber Thorgil versuchte plötzlich, aus dem Schafstall zu kommen. Der Wind schob sie wieder hinein. Sie rappelte sich erneut auf und reckte die Arme zum Himmel. Ihre Stimme war im Heulen des Sturms kaum lauter als das Zirpen einer Grille, aber Jack konnte die Worte trotzdem verstehen: „Nimm mich mit!“

„Geh in Deckung!“, brüllte Jack und warf sich gegen ihre Beine.

„Nein! Nein!“, schrie sie. Er schaffte es, sie umzuwerfen, und sie schlug ihm dafür in den Magen. Er klappte zusammen und japste nach Luft, und sie sprang wieder auf. „Nimm mich mit!“, schrie sie noch einmal. Dann fing es an zu regnen, wahre Eimerladungen voller Wasser, die den Schafstall so schnell volllaufen ließen, dass die Schafe kaum noch Luft bekamen. Ihre Hufe trommelten auf Jack herum, und eines stand sogar auf ihm. Doch dann kippte der Wind es um, und Jack hörte das entsetzte Blöken, als der Sturm das Schaf mit sich riss.

Jack hätte nicht sagen können, wie lang der Regen auf ihn herunterprasselte. Es kam ihm vor, als wären es Stunden. Es wurde plötzlich ganz kalt, und eine Weile hagelte es – dicke Körner, die wehtaten und die Schafe zum Blöken brachten. Danach rauschte wieder der Regen herab, und die ganze Zeit zuckten Blitze vom Himmel und Donner rollte über den Horizont.

Doch irgendwann beruhigte sich der Himmel wieder. Die Blitze wurden seltener und der Donner verzog sich grummelnd nach Norden. Im Süden hatte der Himmel wieder eine wunderschöne blassblaue Farbe.

Jack rappelte sich zögernd auf und musste feststellen, dass rund um ihn herum alles verwüstet war. Jeder Busch war platt gedrückt. Äste vom weit entfernten Wald lagen überall herum, und ein Stück entfernt lag das Schaf, das auf ihm gestanden hatte – tot.

Auch Thorgil lag ausgestreckt im Matsch. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie so weit vom Schafstall weggelaufen war! „Oh, Thorgil!“, rief Jack, kletterte über die Mauer und rannte zu ihr. Er hob sie auf seine Knie. „Oh, meine Liebste!“

Ihre Augen waren weit offen, der Blick starr. Aber sie waren nicht glasig wie bei einer Toten. Jack war so erleichtert, dass er sie fest drückte und sich erst dann Sorgen machte, ob sie womöglich eine gebrochene Rippe hatte. „Er wollte mich nicht mitnehmen“, murmelte sie niedergeschlagen.

„Wer wollte dich nicht mitnehmen?“, fragte Jack, der annahm, dass sie fantasierte.

„Er hat meine nutzlose Hand gesehen und gewusst, dass ich nicht länger ein Krieger bin. Er wollte mich trotzdem, aber Odin hat es verboten. Oh, Freya, ich wünschte, ich wäre tot!“ Thorgil begann zu weinen, was Jack noch mehr beunruhigte, als wenn sie angefangen hätte zu fluchen.

„Bist du innendrin verletzt?“, fragte er besorgt.

„Wenn ja, ist es nichts, das der Tod nicht kurieren würde“, antwortete sie mit einem Hauch ihrer alten Schlagfertigkeit. „Auch wenn ich ihn dann trotzdem nie wiedersehe.“

„Wen? Von wem redest du?“ Im Süden kam die Sonne heraus, und über ihnen hatten sich weiße Wolken am Himmel verteilt.

„Olaf Einbraue“, sagte die Schildmaid und seufzte abgrundtief. „Er war in den Wolken, aber er musste mich zurücklassen.“

Nebelrache

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