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Der Haselwald

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„Wie kann sie Olaf gesehen haben?“, wollte Jack wissen. „Sie hat gesagt, Odin hätte eine wilde Jagd angeführt, aber alles, was ich gesehen habe, waren Wolken und dieses … dieses Ding, das vom Himmel herunterhing.“

„Dieses Ding ist vermutlich eine Windhose gewesen“, erklärte der Barde und warf eine Handvoll trockener Fichtennadeln ins Feuer. Ein angenehmer Duft verbreitete sich. Thorgil schlief auf einem Bett aus getrocknetem Heidekraut. Einem Schlaftrunk des Barden hatten sie es zu verdanken, dass Thorgil jetzt nicht mehr im Schlaf um sich schlug oder sich die eigenen Haare auszureißen versuchte. Es war die längste Stunde in Jacks bisherigem Leben gewesen, sie zum Haus des Barden zurückzuschleppen, ohne dass sie sich etwas antat.

Ihr Haar war im letzten Jahr deutlich gewachsen, und es war erstaunlich sauber. Es hing ihr auch nicht mehr zottelig ins Gesicht wie zu den Zeiten, als man es mit einem Fischmesser in Form gesäbelt hatte. Es war hellgolden, fast wie Sonnenschein auf Schnee. Trotz der blauen Flecken – und Thorgil kannte man eigentlich nie ohne – hatten ihre Gesichtszüge eine Feinheit, die Jack bisher nie bemerkt hatte. Erst jetzt erkannte er, dass sie sich im letzten Jahr verändert hatte, dass sie größer und hübscher geworden war.

Jack wendete sich ab, und seine Wangen glühten vor Verlegenheit. Was machte das für einen Unterschied? Sie war immer noch dieselbe ewig missgelaunte Thorgil, egal, wie sie aussah.

„Ich habe noch nie erlebt, dass eine Windhose solche Verwüstungen anrichtet“, bemerkte der alte Mann und wühlte in einer Truhe herum. „Sie hat eine Schneise in den Wald geschlagen und offenbar auch Gog und Magog mitgerissen.“

„Was?“, fragte Jack entgeistert. Nachdem er nach Hause gerannt war, um nach seinen Eltern zu sehen, hatte Jack den Rest des vergangenen Nachmittags damit verbracht, dem Barden bei der Zubereitung seiner Elixiere zu helfen. Jetzt war es Morgen, und Jack war seit dem Gewitter nicht mehr in der Nähe des Dorfs gewesen.

„Der Sohn des Schmieds hat mir erzählt, dass Gog und Magog verschwunden sind.“

„Vielleicht sind sie weggelaufen“, sagte Jack hastig. Der Gedanke, dass die beiden Männer in den Himmel gesaugt worden waren, war zu schrecklich.

„Ich fürchte, nein. Der Schmied sagt, dass sie gern bei Gewitter draußen gesessen haben. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sie lächeln gesehen hat, und da sie sonst keine Vergnügungen hatten, wollte er es ihnen nicht verbieten. Was anscheinend ein Fehler war.“

Jack hatte Gog und Magog auch schon während eines Gewitters im Schlamm hocken sehen. Damals schienen sie von einer wilden Freude erfüllt, die Jack weder verstehen konnte noch ansehen wollte, und er war weggerannt, so schnell er konnte. Er schauderte. „Wo sind sie jetzt, Herr?“

„Das hängt davon ab, wer für diese wilde Jagd verantwortlich war.“ Der Barde stellte eine Reihe von Gefäßen auf, schnupperte an jedem einzelnen und wählte eines aus. Dann nahm er einen großen Mörser von einem Bord. „Oh, ja, es hat eine Jagd stattgefunden“, versicherte er und fing an, die Kräuter zu zermahlen. „Wer sie anführt, das hängt vom Betrachter ab. Bruder Aiden war als Kind auch mal ein Gejagter, bis Pater Severus ihn gerettet hat. Aiden war damals überzeugt, dass er den Herrn des Waldes mit seinen Hunden gesehen hat. Severus dagegen glaubte, dass es Satan war, der die Seelen der Verdammten anführte.“

„Und Thorgil hat Olaf Einbraue gesehen“, fügte Jack hinzu.

„Wenn sie recht hat, sind Gog und Magog jetzt in Walhall. Das würde Thorgil schön wütend machen, meinst du nicht?“ Die blauen Augen des Barden funkelten. „Aber Thorgil wäre nicht Thorgil, wenn sie nicht immer wütend wäre.“

„Wenn Ihr es sagt.“ Wenn es nach Jack ginge, hätte die Schildmaid gern umgänglicher sein dürfen – mehr wie Pega zum Beispiel. Es war wirklich anstrengend, ständig zwischen ihr und den Feinden zu vermitteln, die sie sich überall machte. Aber dennoch, als er sie vor dem Schafstall hatte liegen sehen, so tot wie das arme Schaf …

„Es geht ihr gut“, sagte der Barde, der wieder einmal Jacks Gedanken zu lesen schien. „Und jetzt möchte ich, dass du den Inhalt dieses Mörsers mit einem Klumpen Butter von der Größe eines Hühnereis vermischst. Knete eine Handvoll Mehl mit genügend Wasser, bis eine feste Paste entsteht, vermische alles und forme daraus Pillen, so groß wie Erbsen. Dann trockne sie am Feuer.“

„In welches Gefäß soll ich sie tun?“, fragte Jack, der diese Arbeit schon öfter gemacht hatte.

„Für Kopfweh – das grüne. Du meine Güte, der Garten ist beinahe leer gepflückt. Ich werde Kräuter aus dem Wald brauchen.“

Kurze Zeit später gingen sie den Pfad hinunter. Thorgil ließen sie schlafen. Der Barde hatte seine gute Robe angezogen und mit einem Gürtel so hochgerafft, dass sie vor dem Schlamm geschützt war. Der weiße Bart wehte ihm über die Brust, und seine Füße steckten in hellen Lederstiefeln, die vorn geschnürt wurden. Obwohl er so alt war, musste er sich kaum auf seinen schwarzen Eschenstab stützen, doch er brauchte Jack, um die Elixiere und die Harfe zu tragen.

Jack spürte die Erdmagie, die die Luft rund um den Stab erfüllte. Sie weckte Sehnsucht in ihm. Auch er hatte einmal einen solchen magischen Stab besessen. Und er hatte die Schutzrune besessen, sofern man überhaupt von Besitz sprechen konnte. Die Rune wechselte von einem Menschen zum nächsten und folgte dabei ihrem eigenen Schicksal. Niemand konnte darauf Einfluss nehmen, schon gar nicht der, der sie unbedingt besitzen wollte. Einmal fortgegeben, konnte sie nie zurückkehren. Jack seufzte, als er an die eingravierte Weltesche Yggdrasil dachte. Die Rune hatte viele Jahre über den Barden gewacht, bevor Jack sie bekommen hatte, der sie dann – in einem Anfall geistiger Umnachtung, wie er verbittert dachte – an Thorgil weitergegeben hatte.

Die Felder waren merkwürdig kahl, wie gerupfte Hühner, und bei mehr als einem Haus fehlte das Dach. Wasser quoll an verschiedenen Stellen aus den Hügeln. Bäche hatten neue Furchen in die Erde geschnitten und hier und dort glitzerte das Sonnenlicht auf einem Teich.

Jack warf einen Blick zurück auf das Haus des Barden, das gefährlich nah am Rand einer Klippe stand. Es hatte den Sturm gut überstanden. Ob es nur Glück gewesen war oder etwas mit der Zauberei des alten Mannes zu tun hatte, wusste Jack nicht, aber das Haus klammerte sich immer noch an den Felsen wie eine Napfschnecke.

Sie gingen durchs Dorf, verteilten Medizin, wo sie gebraucht wurde, und erteilten gute Ratschläge. Beim Haus des Schmieds spielte der Barde auf seiner Harfe, um die Familie ein wenig aufzumuntern.

„Gog und Magog waren für mich wie meine eigenen Söhne – also, zumindest, wenn sie ein bisschen klüger und vorzeigbarer gewesen wären“, behauptete der Schmied und ließ den Blick stolz über seine gut aussehenden Söhne und Töchter schweifen. „Ich hatte mich so an sie gewöhnt. Sie haben immer zwischen den Kühen geschlafen, und wenn ein Wolf kam, haben sie so laut gemuht, dass ich nie auch nur ein einziges Kalb verloren habe. Bei Gott, ich werde sie vermissen, diese armen, einfältigen Kreaturen.“

Ja, jetzt hast du niemanden mehr, den du für ein paar Brotrinden schuften lassen kannst, dachte Jack boshaft.

Der Barde spielte auf seiner Harfe. Die Frau des Schmieds wippte im Takt der Musik mit dem Fuß, und ihr jüngster Sohn Colin fing sogar an zu tanzen.

Aber wenn Gog und Magog nicht hierhergekommen wären, überlegte Jack, wer weiß, was sie dann für ein Schicksal gehabt hätten? Vielleicht als Sklaven in einer Bleimine schuften? So hatten sie wenigstens ein paar kleine Freuden gehabt, mit den Kühen gemuht und Blitz und Donner angebetet. Was war denn eigentlich Glück? Er dachte an Thorgil, deren Hoffnung es gewesen war, in der Schlacht zu fallen, und an seinen Vater, Giles Krummbein, der sich an Enttäuschungen erfreute; und an Pater Severus, der eiskalte Bäder nahm und mit Freuden fastete. Die Elfen gingen immer nur ihrem Vergnügen nach – was ihnen nicht viel brachte, weil sie am Ende doch dazu verdammt waren, einfach zu verblassen.

Glück besteht aus unendlich vielen Einzelteilen, erkannte Jack schließlich.

Der Barde stieß ihn an, und sie machten sich wieder auf den Weg. Nebelschwaden stiegen von den unzähligen kleinen Rinnsalen auf, die das Gewitter hinterlassen hatte, und auf einem verwüsteten Feld stand eine in der Mitte geknickte Vogelscheuche. „Die hat gar nichts beschützt“, bemerkte Jack, als sie durch den aufgeweichten Boden daran vorbeistapften.

„Es braucht mehr als ein bisschen Stroh, um Odins Krähen zu vertreiben“, sagte der Barde.

Sie setzten ihren Weg fort und betrachteten die ruinierten Weizen- und Haferfelder. Die Dorfbewohner hatten berichtet, dass die Hälfte der Schafe fehlte, doch die meisten davon würden wohl wieder auftauchen. Hühner und Rinder waren rechtzeitig in die Ställe gebracht worden, und auch Thorgils Pferde hatten überlebt. Die Tanner-Mädchen hatten sie in ihre Hütte gezerrt, als sie die schwarzen Wolken heranstürmen sahen.

Das war eine beachtliche Leistung, wenn man bedachte, dass drinnen kaum genug Platz für die drei Menschen war. Die Mädchen hatten die Pferde gezwungen, sich hinzulegen, und sich dann auf sie gelegt, mit ihrer Mutter zwischen sich. Weder Mensch noch Tier hatten sich rühren können, aber sie alle hatten überlebt.

„Das bedeutet, dass wir uns jetzt das Recht verdient haben, sie zu reiten“, verkündete Ymma, das ältere der beiden Tanner-Mädchen, als Jack und der Barde bei ihnen ankamen, um nachzusehen, wie es ihnen ging.

„Besprich das mit Thorgil“, sagte der Barde.

„Pah! Sie bildet sich ein, dass ihr alles gehört. Wer ist denn ihr Vater, frage ich Euch?“, fuhr das Mädchen den Barden grob an. „Und wo ist ihre Familie?“

„Alle sagen, dass sie sich benimmt wie ein Nordmann“, fügte ihre jüngere Schwester Ythla hinzu.

Der Barde fuhr so schnell zu ihnen herum, dass die Mädchen zurückzuckten und ihre Mutter sie hastig an den Armen packte.

„Was fällt euch ein, so mit dem Barden zu sprechen?“, fuhr sie ihre Töchter an. „Auf die Knie mit euch – bittet um Verzeihung. Ehrlich, Herr, ich weiß nicht, was mit den beiden los ist, seit ihr Vater gestorben ist.“ Sie stieß die Kinder auf den Boden, und die beiden entschuldigten sich lautstark.

Jack war nicht überrascht. Ein Blick in das Gesicht des alten Mannes reichte, um zu erkennen, warum er Drachenzunge genannt wurde und warum sogar Nordmann-Könige Angst vor ihm hatten. Jack wusste aber auch, dass die Mädchen eigentlich nur ausgesprochen hatten, was alle anderen flüsterten.

Sie fanden Mutter bei ihren Bienenkörben. Nur zwei Völker hatten überlebt. Die übrigen waren an Kälte und Nässe gestorben; etliche krochen über den Boden oder zappelten schwach im Schlamm herum. Mutter hatte in der Nähe ein Feuer entzündet – nicht zu nah, weil auch Rauch den Tieren schadete – und hatte mit Honig bestrichene Brotstücke ausgelegt. Die Insekten drängten sich gierig um das Futter.

„Es sind die Letzten einer königlichen Zucht“, sagte Mutter traurig, „die die Römer mitgebracht haben. Die Frauen meiner Familie hüten sie schon seit urdenklichen Zeiten. Keine angelsächsische Biene ist so stark und fleißig, aber es grenzt an ein Wunder, wenn sie den Winter überleben.“

Der Barde spielte Harfe und Mutter sang dazu und setzte die kleine Magie ein, mit der sie nervöse Tiere beruhigte. Ihre Stimme klang so ähnlich wie das Summen zufriedener Bienen. Sie erzählte von sonnigen Tagen, die kommen würden, von neuen Blüten und warmer Luft.

„Wie steht es um deinen Vorrat an Kerzen?“, fragte der Barde sie, als er die Harfe wieder an Jack abgegeben hatte.

„Ich weiß, woran Ihr denkt“, antwortete sie. „Die Ernte ist vernichtet, und wenn wir den Winter überleben wollen, müssen wir Getreide eintauschen. Was immer ich habe, gehört Euch.“

„Auf dich kann ich immer zählen, Alditha“, sagte der Barde freudig und nahm ihre Hände in seine.

Jack und der Barde machten sich auf den Weg zum Haselwald, der im Schatten des Eichenwaldes lag. Hier war der Boden zwar überall mit abgebrochenen Ästen übersät, aber ansonsten war das Waldstück verschont geblieben. Zwischen den Bäumen und knorrigen Wurzeln führten gewundene kleine Pfade hindurch, die mit Glockenblumen bewachsen waren. Im Haselwald konnte man alles Mögliche sehen – langohrige Hasen, Dachse, einen Wolf, der durchs Zwielicht huschte, und manchmal sogar einen Bären. Es war ein geheimnisvoller Ort, den man nach Einbruch der Dunkelheit nicht ohne guten Grund aufsuchte. Aber jetzt funkelten die Blätter schon fast unheimlich hell und die Luft war frisch und angenehm.

„Hier sieht es aus, als hätte es das Gewitter nie gegeben“, stellte Jack verblüfft fest.

„Haselwälder sind geschützt“, sagte der Barde. „An der Bardenschule – wo ich übrigens ein hervorragender Schüler war – musste jeder Neuankömmling eine Nacht in einem Haselwald verbringen. Am Morgen haben ihn die Lehrer dann gefragt, was er gesehen hat. Du kannst dir nicht vorstellen, wie manche der Jungen sich in dem Versuch, das zu sagen, was die alten Barden hören wollten, förmlich verknotet haben. Aber wer log, wurde fortgeschickt und durfte nie wiederkommen.“

„Nur dafür?“, murmelte Jack und musste daran denken, wie oft er schon gelogen hatte, um den Prügeln seines Vaters zu entgehen.

„Der Erdmagie zu dienen ist eine ernste Sache“, verkündete der Barde.

„Was habt Ihr gesehen, Herr?“, fragte Jack mutig, denn der Barde beantwortete gewöhnlich keine Fragen über sich selbst.

Der alte Mann schob mit seinem Stab einen abgebrochenen Ast zur Seite. „Gerade jetzt sehe ich Steinpilze.“ Am Fuß eines Baums wuchs eine ganze Gruppe der Pilze mit den braunen Kappen. „Wir haben Glück, Junge. Die geben ein leckeres Abendessen ab.“

Jack hockte sich hin, um die Pilze zu ernten, und ihr erdiger Duft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

„Haselwälder sind voller Erdmagie“, fuhr der Barde fort und schob weitere Äste aus dem Weg. „Sie liegen dicht an den Grenzen zwischen den neun Welten, und unter ihrem Laub verbirgt sich so mancher geheime Weg. Ein wahrer Barde weiß, wie man einen solchen findet.“

Jack verspürte einen Anflug von Angst, versuchte ihn aber schnell zu unterdrücken. Seine Erfahrungen mit anderen Welten waren überwiegend unerfreulich gewesen. Es hatte allerdings auch Momente gegeben – zum Beispiel, als er und Thorgil das Tal von Yggdrasil gefunden hatten –, die so glorreich gewesen waren, dass ihm bei der Erinnerung daran auch jetzt noch die Tränen kamen. Und dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn der Barde ihn gerade jetzt auf die Probe stellte? Vielleicht würde sich jetzt erweisen, ob er das Zeug zu einem wahren Barden hatte oder ob er lieber zu seinen Rüben und den Schafen zurückkehren sollte.

Jack sah sich um, in der Hoffnung, dass sich die Blätter auflösen und ihm einen geheimen Pfad zeigen würden. Aber es tat sich nichts. Es war ein ganz normales Wäldchen voller Moos und Flechten. Die Bäume am Rand der Felder waren knapp über dem Boden abgesägt worden, damit gerade Äste nachwuchsen, die als Zaunpfähle taugten. Ein Eichhörnchen zeterte von einem Ast herunter, und er sah, wie der buschige rote Schwanz zuckte.

„Was siehst du?“, fragte der Barde halblaut.

Jack schnürte es die Kehle zu. Das Sonnenlicht schwebte über dem schützenden Blätterdach. Eine Drossel klappte den Schnabel auf und fing laut an zu singen. Ein Spinnennetz schwang in einem Windstoß hin und her. „Ich sehe … ach, Mist! Ich sehe gar nichts. Nein, das stimmt nicht. Ich sehe ein Eichhörnchen, einen Käfer, eine Drossel, ein Spinnennetz, aber nichts von Bedeutung. Ich werde nie ein wahrer Barde sein!“

„Und was könnte mehr Bedeutung haben als ein Eichhörnchen, ein Käfer, eine Drossel und ein Spinnennetz?“, fragte der alte Mann.

„Wieso …?“ Jack schaute zu ihm auf.

„Genau. Seit du mein Lehrling bist, habe ich dich gelehrt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Solange du das nicht kannst, brauchst du auch keine Hoffnung haben, darüber hinauszusehen. Ich werde schon bald von dir verlangen, dass du eine Nacht hier verbringst.“

Jack schluckte nervös. Bei Tage wirkte der Wald friedlich und sicher, aber er wusste, dass sich manche Dinge nach Einbruch der Dunkelheit änderten.

„Du hast gefragt, was ich bei meiner Prüfung an der Bardenschule gesehen habe“, sagte der alte Mann. „Beim ersten Mal sind mir dieselben Wesen begegnet wie dir – ein Igel, eine Fledermaus, eine Ricke mit ihrem Kitz. Aber beim zweiten Mal –“ Er verstummte.

Was war beim zweiten Mal?, dachte Jack panisch. Der Barde setzte sich wieder in Bewegung und an seinem energischen Schritt erkannte Jack, dass er keine weiteren Fragen beantworten würde.

Sie folgten einem der vielen Wege durch den Haselwald. Glockenblumen streiften ihre Knöchel, und sie hörten das Plätschern eines Baches.

„Sieh dorthin“, verlangte der Barde. Jack stockte der Atem. Wo noch vor Kurzem uralte Eichen dicht an dicht gestanden hatten, war jetzt eine Schneise geschlagen worden, als hätte jemand ein gigantisches Schwert geschwungen und sich einen Weg durch das Herz des Waldes gebahnt.

„Typisch für Olaf und seine Bande von Dickschädeln, dass sie so eine Verwüstung hinterlassen“, bemerkte der Barde und ließ den Blick über die Schneise schweifen.

„Hatte Thorgil recht?“, fragte Jack. „Hat Odin hier wirklich eine wilde Jagd angeführt?“

„Irgendetwas hat diese Eichen vernichtet.“

Die breite Schneise war mit Zweigen und Ästen übersät und in der Mitte, wo der Boden tiefer gefurcht war, standen Pfützen. „Wenn es eine Jagd war“, sagte Jack nachdenklich, „was war dann die Beute?“

„Nicht Gog und Magog, die armen Kerle. Sie hatten nur das Pech, den Jägern in die Quere zu kommen“, sagte der Barde. „Die wilde Jagd treibt das Unglück vor sich her. Und es folgen ihr Seuchen, Hungersnöte und Kriege. Ich denke, dass uns eine interessante Zeit bevorsteht.“

Der Himmel war so strahlend blau, als wäre nie etwas geschehen, und die Luft hatte die gewohnte Sommerwärme. Jack entdeckte Bruder Aiden, der sich einen Weg durch das Unterholz bahnte, indem er wie ein Spatz von einem Ast zum nächsten hüpfte. Der Mönch hielt ein Holzkreuz hoch und aus seinem Mund kam ein merkwürdiger Singsang auf Lateinisch. Jack konnte zwar nichts davon verstehen, aber es war klar, dass die Worte voll von christlicher Magie waren.

„Aiden, mein Freund“, rief der Barde, „seht Euch vor, damit Ihr nicht gleich bis zu den Ohren im Schlamm steckt.“

Der kleine Mönch schaute auf und wäre dabei beinahe von einem Ast gerutscht. „Ich muss diesen Ort weihen“, sagte er und suchte sich einen sicheren Stand. „Hier ist Böses geschehen.“

„Das ist wahr, und nicht nur hier – auch die Farmen hat es hart getroffen. Wir müssen Getreide eintauschen, bevor es Winter wird.“ Der Barde überquerte die Schneise – für einen alten Mann war er erstaunlich trittsicher – und half Bruder Aiden auf festen Boden.

„Ich kann Tinte anmischen. Die Leute kaufen sie gern“, bot der Mönch an. Bruder Aiden war berühmt für seine leuchtenden Farben, die dazu verwendet wurden, die heiligen Manuskripte zu bebildern.

„Hervorragend! Ich schicke Euch Pega zum Helfen. Jack und Thorgil können Kräuter für meine Elixiere sammeln. John der Böttcher hat einen ganzen Packen Hirschfelle, und ich bin sicher, dass ich den Ältesten überreden kann, ein paar Münzen aus seinem privaten Schatz herauszurücken. Meine Sterne! Diese Schneise ist so schnurgerade, als hätten die Römer hier eine Straße gebaut.“

Jack schaute die Schneise entlang bis hin zu einer weit entfernten Wiese und zu den dahinterliegenden Hügeln. Ein einsamer Vogel flog von einer Seite der Schneise zur anderen. Seine Rufe ertönten aus dem Schatten einer Eibe. „Das klingt so … traurig“, murmelte Jack.

Der Barde musterte ihn scharf. „In der Tat. Er betrauert den Verlust seiner Küken. Hast du bei Thorgil Unterricht in der Vogelsprache genommen?“

Jack verzog das Gesicht. „Nein, Herr. Thorgil würde niemals zugeben, dass sie die Vögel verstehen kann.“

„Dieses unausstehliche Kind. So viel Sturheit gibt es wirklich kein zweites Mal. Bleib hier und hilf Aiden, Junge. Ich erwarte dich zum Essen.“ Der alte Mann nahm seine Harfe und den Korb mit den Pilzen und wendete sich zum Gehen. Jack wusste nicht genau, was jetzt von ihm erwartet wurde.

„Ich würde mich freuen, wenn du für mich singen könntest“, sagte Bruder Aiden schüchtern. „Mir ist das Herz ganz schwer, weil wir diese beiden armen Männer verloren haben.“ Die Augen des kleinen Mönchs waren voller Tränen, und Jack war klar, dass er daran dachte, wie er damals entkommen war, als der Herr des Waldes oder Satan oder wer auch immer hinter ihm hergewesen war.

Und so sang Jack von der Erde, wenn sie sanft und nicht wild war, vom Wind, der durch die Blätter wehte und auf den Bäumen Harfe spielte. Er sang von grünen Wiesen, auf die die Rehe ihre Kitze brachten, weil sie wussten, dass sie dort sicher waren, und von den Rufen der Lerchen hoch oben in der Luft.

Langsam hellte sich das Gesicht von Bruder Aiden auf und er sah wieder hoffnungsvoll aus. „Ich danke dir“, sagte er. „Deine Stimme hat eine heilende Wirkung, fast so gut wie die von Pega.“ Er begann erneut, die klaffende Wunde im Wald zu weihen.

Jack starrte die Schneise an und dachte: Wenn Thorgil richtig gesehen hat, ist dies der Pfad, den Odin mit seinen Kriegern genommen hat. Sie haben Thorgil nicht geholt, sie ignoriert, obwohl sie sich ihnen anschließen wollte, und stattdessen Gog und Magog genommen, die es nicht wollten. Wieso vergleicht mich eigentlich jeder mit Pega?

Leicht gereizt verabschiedete er sich von Bruder Aiden und machte sich auf den Weg zu seinen Eltern, um nachzusehen, ob sie Hilfe bei der Reparatur der Sturmschäden brauchten.

Nebelrache

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