Читать книгу Nebelrache - Nancy Farmer - Страница 13
Die Meerjungfrau
ОглавлениеEs war Bruder Aiden, der Jack etwas später weckte. Der kleine Mönch trat gegen die Tür, weil er mit beiden Händen die Glocke festhielt. „Da ist ein Ungeheuer“, schnaufte er und setzte die Glocke auf dem Boden ab. „Etwas hat den Kampfhahn von John dem Böttcher getötet und all seine Hühner. Und der Älteste hat ein totes Lamm vor seiner Haustür gefunden.“
„Setzt Euch und kommt zu Atem“, befahl der Barde. „Jack, hol unserem Gast etwas Most.“
Jack setzte sich auf und schüttelte sich das Stroh aus den Haaren. Er griff nach dem Schlauch mit dem Most und schenkte einen Becher voll.
Der Mönch stürzte den Most hinunter und hielt Jack den Becher zum Nachschenken hin. „Ich bin so verschwitzt, ich könnte darin baden. Jack hatte recht damit, dass sich irgendein Wesen von der Heiteren Weklage angezogen fühlt. Es hat im Dorf danach gesucht.“
„Vielleicht war der Angriff ein Zufall. Auch ein Bär oder ein anderes wildes Tier könnte die Tiere getötet haben“, gab der Barde zu bedenken.
„Ein Bär tötet, um zu fressen. Aber diese Bestie hat die Tiere in Fetzen gerissen und liegen gelassen. Ich danke Gott, dass sie kein Kind erwischt hat.“ Bruder Aiden setzte den Becher ab. „Der Älteste hat befohlen, dass die Frauen und Kinder in den Häusern bleiben, und John der Böttcher hat einen Suchtrupp aufgestellt.“
„Die werden nichts finden“, bemerkte der Barde ruhig. Er und der Mönch tauschten einen bedeutungsvollen Blick.
„Thorgil!“, rief Jack plötzlich. „Sie war die ganze Nacht draußen!“
„Es geht ihr gut“, versicherte ihm der Barde. „Eine Krähe hat heute Morgen beobachtet, wie sie am Strand saß.“
„Ich werde nach ihr sehen.“
„Sie wird kommen, wenn sie so weit ist“, widersprach der Barde energisch. „Und nun, Aiden, lasst uns über diese Bestie sprechen.“
Jack war hin- und hergerissen. Natürlich wollte er alles über die Bestie hören, aber er machte sich auch Sorgen um Thorgil. Sie fror bestimmt und hatte Hunger. Mit ihrer gelähmten Hand konnte sie nicht einmal ein Feuer machen.
„Hör auf, herumzuzappeln, Junge. Sie trägt doch die Schutzrune“, sagte der alte Mann. „Und nun von Anfang an –“
Die Rune hilft einem nur, Leiden zu ertragen. Sie schützt einen nicht davor, dachte Jack verbittert und erinnerte sich nur zu gut an die Schläge, die er von Olaf Einbraue hatte einstecken müssen.
„… etwas ist von der Heiteren Wehklage geweckt worden, das besser weitergeschlafen hätte.“
„Ich weiß nicht, wie es die Glocke aus dieser Entfernung hat hören können oder wieso es gerade jetzt aufgetaucht ist“, bemerkte Bruder Aiden.
Es?, dachte Jack. Wovon redet der eigentlich?
„Die Glocke von Amergin ist in allen Welten zu hören, und dazu kommt, dass sie lange Zeit nicht mehr benutzt wurde“, sagte der Barde. Er stellte die Glocke aufrecht hin und ein leises Klingen ertönte. Alle drei Zuhörer zuckten zusammen. „Ich werde sie in Wolle wickeln müssen.“
„Pater Severus hat einiges zu verantworten“, sagte Bruder Aiden betrübt.
„Allerdings. Vor allem hätte er die Glocke auf Grims Insel lassen sollen.“
Grims Insel? Wo ist denn das?, fragte sich Jack.
Der Mönch seufzte und fuhr mit einer Hand über das strahlende Gold der Heiteren Wehklage. „Es war der Abt, der die Glocke unbedingt mitnehmen wollte. Vergesst nicht, dass sie einst dem heiligen Kolumban gehört hat.“
„Der sie auch versteckt hat“, fügte der Barde hinzu.
„Und doch war die Heitere Wehklage eines der wenigen Dinge, die die Zerstörung der Heiligen Insel überstanden haben“, sagte Bruder Aiden. „Das kann doch nur bedeuten, dass die Glocke heilig ist. Und es konnte ja keiner ahnen, dass es eine so weite Strecke zurücklegt.“
„Man sagt, solche Wesen können selbst durch Fels schwimmen“, sagte der Barde.
Jetzt hielt Jack es nicht länger aus. „Wovon redet Ihr? Was ist es? Wo ist Grims Insel? Wie kann etwas durch Fels schwimmen?“ Mit hochrotem Kopf starrte er auf den Boden. Der Barde hatte schon öfter mit ihm geschimpft, wenn er so ungeduldig auf schnelle Antworten drängte. Die meisten Dinge, die es zu wissen lohnt, brauchen ihre Zeit, sagte er dann immer. Man musste warten, bis sich einem die Antwort zeigte. Eine Erklärung zu erzwingen, bevor die Zeit reif war, war so, als würde man eine Apfelblüte pflücken und erwarten, dass sie schmeckte wie ein Apfel.
„Ich bin erstaunt, dass du so lange gewartet hast“, bemerkte der Barde. „Ich konnte sehen, wie sich in deinem Kopf die Fragen auftürmten, aber in diesem Fall kann ich das gut verstehen. Dies ist ein Geheimnis, das wir schon viel zu lange gehütet haben, und jetzt müssen wir schnell handeln, um den Schaden zu begrenzen.“ Der alte Mann setzte sich auf die Truhe, in der er die silberne Flöte aufbewahrte. „Fangt Ihr an, Aiden. Ihr seid es, dem diese Geschichte zuerst anvertraut wurde.“
„Du musst wissen, dass Pater Severus der selbstloseste Mensch ist, den man sich vorstellen kann“, begann Bruder Aiden. „Er hat seine Güte immer wieder unter Beweis gestellt.“
Jack nickte. Er erinnerte sich noch gut an den trübsinnigen Mönch, der auf dem Schiff von Olaf Einbraue dauernd von der Sünde gepredigt hatte und später den Elfen glühende Predigten hielt, worüber sich diese prächtig amüsiert hatten. Aber dieser Mann hatte auch Mitgefühl für drei eingekerkerte Kinder gezeigt. Ohne ihn wären sie jetzt nicht mehr am Leben.
„Unter anderen Umständen hätte Pater Severus ein großer König werden können“, fuhr der Mönch fort. „Er hat die Gabe, Menschen dazu zu bringen, ihm bedingungslos zu gehorchen.“
Jack musste wieder daran denken, wie die verrohten Mönche im Kloster des heiligen Filian vor Pater Severus gekuscht hatten wie geprügelte Hunde. Die Bürger von Bebbas Town hatten seinen Führungsanspruch sofort anerkannt und auch gehorcht, als er ihnen befahl, Brutus zu ihrem König zu machen. Ohne die Hilfe von Pater Severus hätte Brutus in seinem Leben sicher nichts anderes erreicht, als gut auszusehen.
„Lasst uns nicht vergessen, dass Euer Held auch die eine oder andere Schwäche hat“, warf der Barde ein.
Bruder Aiden lächelte verlegen und erzählte weiter. „Grims Insel ist ein kalter, unwirtlicher Ort, so weit im Norden, dass die Sonne dort den ganzen Winter nicht scheint. Im Sommer herrschen entweder Nebel oder arktische Stürme. Aber für Pater Severus war es ein Paradies der Seele. Er war des gemütlichen Lebens auf der Heiligen Insel überdrüssig geworden.“
„Ich dachte, die Mönche hätten dort hart gearbeitet“, sagte Jack.
„Oh, das haben wir. Wenn wir keine Steinbrocken aus den Feldern gegraben haben, haben wir Dächer repariert, Zäune geflickt und Schafe gejagt. Wir haben siebenmal am Tag gebetet und zweimal in der Nacht. Wir haben auf dem Boden geschlafen und im Winter in Schneewehen meditiert. Aber wir hatten auch unsere Freuden.“ Der kleine Mönch lächelte bei der Erinnerung daran.
„Ich weiß noch, wie wir in der Kapelle gesungen haben, und erinnere mich an das wunderschöne Buntglasfenster. Ich habe viele glückliche Stunden in der Bibliothek verbracht und Tinte gemischt – solch wundervolle Farben! Ich habe Blattgold ausgewalzt, um damit meine Manuskripte zu schmücken. Und das Essen! Sonntags gab es Huhn und jeden Tag Brot und Bier. An Festtagen haben wir wundervollen Joghurt gemacht. Und erst der Flammeri …“
„Die beste Art mit Muskat und Sahne“, murmelte Jack. „Vater hat mir davon erzählt.“
„Ich verstehe, wieso Severus es dort nicht mehr ausgehalten hat“, bemerkte der Barde trocken.
„Nun, er ist ein sehr religiöser Mensch“, verteidigte ihn Bruder Aiden. „Grims Insel war wie geschaffen für Helden wie ihn. Es ist das unwirtlichste Stück Fels, das man sich vorstellen kann, und sogar Pater Severus war entsetzt von der Kargheit dieser Insel. Er landete dort in einem winzigen Boot mit nichts außer einem Sack Saatgut und ein paar Werkzeugen. Er musste sich die Steine für den Bau einer Hütte auf der ganzen Insel zusammensuchen. Die einzigen Bäume wuchsen in der Mitte der Insel auf einem Berg, der zu hoch und steil war, um ihn zu besteigen.
Nachts rollte sich Pater Severus in einer Höhle aus Sandstein zusammen, die kaum groß genug war für eine Fuchsfamilie. Am Tag arbeitete er unablässig und schuf Saatbeete. Er lebte von Seetang und Schnecken und trank das Regenwasser, das sich in den Felsen sammelte.
Der Winter kam früh. Es waren keine Schnecken mehr da, und seine Ernte war erfroren. Die Hütte war noch nicht fertig, also zog Pater Severus in die Höhle. Er rechnete nicht damit, am Leben zu bleiben. Jeden anderen hätte diese Aussicht bedrückt, aber er sah es nur als Chance, früher in den Himmel zu kommen.“
„Ich erinnere mich“, sagte Jack. „Er sagte immer, je länger man lebt, desto mehr Gelegenheit hat man zu sündigen.“
„Ich werde diese Christen nie verstehen“, murmelte der Barde kopfschüttelnd.
„Es gab eine Pflicht, die Pater Severus nie vernachlässigte, auch wenn es ihm noch so schlecht ging“, berichtete Bruder Aiden. „Er sprach immer seine Gebete – siebenmal an jedem Tag, auch wenn die Uhrzeit in der immerwährenden Dunkelheit schwer zu bestimmen war. Zwischen den Gebeten bearbeitete er den Sandstein der Höhle, um sie zu vergrößern. Eines Tages rutschte sein Messer in einen Spalt, und als er es wieder befreite, fiel ein Steinbrocken aus der Wand. Dahinter war eine kleine Kammer.
Pater Severus konnte etwas darin fühlen, das in mehrere Schichten Wolle gewickelt war. Er zog es heraus und trug es an den Strand. Es war eine der seltenen Nächte, in denen die Sterne nicht von Wolken verdeckt waren und in der der Vollmond schien. Die Wolle war von feinster Qualität, weiß im Mondlicht und mit Goldfäden durchwirkt. Pater Severus wickelte sie ab und fand –“
„Die Heitere Wehklage“, sagte Jack.
„Ganz recht. Sie war in einen Umhang gewickelt, der viel zu edel war, um der eines Mönchs zu sein.“
„Es war die Robe von Kolumban, als er noch meinem Orden vorstand“, sagte der Barde. „Er ließ seine Magie an einem Ort zurück, von dem er dachte, dass sie dort keinen Schaden anrichten würde. Er konnte ja nicht ahnen, dass ein hergelaufener Dummkopf sein Vermächtnis finden würde.“
„Ich würde es eher ehrliche Unwissenheit nennen“, protestierte Bruder Aiden mild, „und etwas in der Art kann jedem von uns passieren. Aber um weiterzuerzählen – Pater Severus läutete die Glocke. Ihr Klang trug hinaus aufs Meer und sofort wurde seine Oberfläche glatt wie Glas. Der Wind legte sich, und eine Wärme wie im Sommer breitete sich am Strand aus. Diesen Ton zu hören, war schöner als ein Festessen, hat mir Pater Severus später berichtet. Hunger, Kälte und Angst waren wie weggeblasen. Trotz seiner Schwäche betete er lange Zeit voller Freude, und in dieser Nacht schlief er wie ein Baby. Als er erwachte, lag vor dem Eingang seiner Höhle ein fetter Lachs neben einem Haufen Treibholz.“
„Das war seine erste Begegnung mit einer Meerjungfrau“, fügte der Barde hinzu.
Jack war sofort hellwach. Er hatte schon Gerüchte über Pater Severus und eine Meerjungfrau gehört, aber niemand hatte ihm Genaueres sagen wollen. Pega war überzeugt, dass die beiden eine Liebesbeziehung gehabt hatten. Sie glaubte, dass es an irgendeinem Strand eine kleine Familie aus Halbmönchen gab.
„Diesen aberwitzigen Gedanken kannst du dir sofort wieder aus dem Kopf schlagen“, sagte der Barde, der Jacks Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. „Die Wahrheit ist wesentlich weniger aufregend.“
„Mehrere Wochen lang fand Pater Severus beim Aufwachen Nahrung und Feuerholz am Eingang seiner Höhle“, berichtete Bruder Aiden. „Seine Kraft kehrte zurück, und allmählich kam auch das Sonnenlicht wieder. Er ging hinaus, um an seiner Hütte zu arbeiten, und stellte zu seiner großen Verblüffung fest, dass sie bereits fertig war. Sie hatte nicht die Form eines Bienenkorbs – es war eher eine Art Spirale wie das Haus einer Seeschnecke –, aber sie war groß genug, um darin leben zu können.
Pater Severus nahm an, dass Engel über ihn wachten. Er baute einen Altar aus Treibholz und dankte Gott für seine Gnade. Dann errichtete er einen Rahmen für die Glocke. Als er sie läutete, hörte er weit entfernt einen liebreizenden Schrei und nahm erneut an, dass es sich um einen Engel handeln musste. Dies ging weiter bis zum Frühjahr, als es Zeit zum Pflanzen wurde.
Eines Nachmittags wendete er sich nach stundenlanger schwerer Arbeit voller Dankbarkeit seinen Gebeten zu. Er läutete die Glocke. Wie üblich kam von See die Antwort. Er läutete ein zweites Mal, und diesmal erhob sich eine Kreatur aus den Wellen, hinter der Seetanggrenze, dort, wo das Wasser tief wird. Da die Sonne hinter dem Wesen stand, war es schwer zu erkennen, aber es hatte eine menschliche Form. Es hob grüßend einen Arm.
Dann glitt es über den Seetang, und als es den Strand erreichte, robbte es voran wie ein Seehund. Pater Severus wich zurück. Dies war kein Engel, und es war auch kein Seehund, denn seine Haut war weiß wie die eines Kindes, und es hatte langes, goldenes Haar. Vom Bauch an verwandelte sich die weiße Haut in silberne Schuppen und der Rest des Körpers endete in einem Fischschwanz. Erst da begriff Pater Severus, dass er es mit einer Meerjungfrau zu tun hatte.
Die Meerjungfrau robbte dichter an ihn heran und streifte schnell wie der Blitz ihre Schuppen ab. Sie fielen an ihr herab wie der Rock einer Frau, und sie stand auf zwei normalen Beinen vor ihm – allerdings auf dünnen und schwachen Beinen, weil sie normalerweise nicht mit ihnen lief. Ich habe mich all diese Monate um dich gekümmert, sagte sie. Ich liebe dich. Komm mit mir ins Königreich meines Vaters und lass uns Mann und Frau werden.
‚Retro, Satanas! Hinweg, Satan!‘, schrie Pater Severus und machte das Zeichen für die Teufelsaustreibung.
Aber sie kam auf ihn zu, nackt wie ein Aal. Ich wurde von der Heiteren Wehklage angezogen, denn sie ruft das Herz aller Dinge. Aber als ich dich hilflos in der Höhle liegen sah, wusste ich, dass mein Schicksal mit deinem verbunden ist. Und nun komm mit mir. Jenseits der Wellen erwartet dich ein Königreich von unübertroffener Schönheit, in dem das reine Glück herrscht.
‚Retro! Retro!‘, schrie Pater Severus immer wieder und versuchte, sie abzuwehren.
Sie verfolgte ihn, so gut sie konnte, aber ihre Füße waren zart und sie konnte sich nicht schnell bewegen. Pater Severus kletterte in die Felsen, wohin sie ihm nicht folgen konnte.
Ich werde wiederkommen, sagte sie schließlich. Sieben Tage lang werde ich wiederkommen, und am achten Tag nehme ich dich mit, ob du willst oder nicht. Dann schlüpfte sie wieder in ihre Schuppen und schwamm flink wie ein Otter davon.“