Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 10
ОглавлениеIII. Meine Geschichte – Ontogenese und Metamorphose
1. Die fliegende Faluka oder Not am Nil
Meine Eltern haben im März 1938 in Ägypten geheiratet und kamen dann nach Südsudan, wo mein Vater ein paar Jahre als Arzt in verschiedenen Städten gearbeitet hat. Er war ein verbeamteter Arzt im Dienste der Gesundheitsbehörde. Sie schickte Beamte immer wieder in verschiedene Gegenden Sudans, um die medizinische Versorgung des ganzen Staatsgebietes zu garantieren. Danach wurde er nach Sennar am Blauen Nil, nunmehr im Südosten des Landes, versetzt. Als ich geboren wurde, war die Stadt noch im Norden, die geografische Zuordnung hat sich nach der Unabhängigkeit Südsudans geändert. Also in Sennar wurde ich am Donnerstag, den 4. Juli 1940, im chinesischen Jahre des Metall-Drachens geboren. An dieses Ereignis habe ich absolut keine Erinnerung! Das tut mir sehr leid, denn es muss ja sehr spannend gewesen sein, „das Licht der Welt“ zum ersten Mal zu erblicken!
Die Sache mit dem Metall-Drachen habe ich nur durch Zufall erfahren. Drachen hatten und haben für mich keine besondere Bedeutung. Aber Lesern oder Leserinnen, die sehr tiefgründige Schlussfolgerungen daraus ziehen können, will ich diese Gelegenheit nicht vorenthalten.
Mein Name „Nasr“ bedeutet „Sieg“, und es kann sein, dass ich diesen Namen im Andenken oder in der Hoffnung auf einen Sieg bekam. Es war ja ein Weltkrieg im Gange! Fragt mich bitte nicht an welchen Sieg. Der einzige Sieg, den ich ausfindig machen konnte mit dem Datum 4. Juli 1940 war ein Sieg der Engländer. An diesem Tag hatten sie die französische Flotte vernichtet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Sieg für meine Eltern eine besondere Bedeutung hatte.
Der Zweite Weltkrieg war voll im Gange und streckte sich bis an die sudanesisch-eritreisch-äthiopische Grenze, wo es Gefechte zwischen Mussolinis Truppen und britischen und sudanesischen Einheiten gab. Die Italiener, die sich seit 1935 in Äthiopien und Eritrea breitgemacht hatten, besetzten 1940 einen Landstreifen in Ostsudan inklusive der Stadt Kassala. Anfang 1941 wurden sie von der Armee aus britischen und sudanesischen Einheiten vertrieben. Also, es wird hie und da sicher irgendeinen kleinen Sieg gegeben haben.
Dass der Zweite Weltkrieg sich bis nach Nordafrika erstreckt hat, wissen wir Österreicher alle, schließlich war unser Held Wüstenfuchs Rommel (für die Wenigen, denen es einfällt hier zu protestieren, sage ich: Hört doch auf zu leugnen, wir gehören noch immer irgendwie dazu, oder? Seid bitte ehrlich! Er war und ist noch immer unser Held.). Ja, wo war ich? Ach ja, bei unserem Helden, also der deutsche Feldmarschall Erwin Rommel war die Hauptfigur in dieser Heldensaga, die bis heute wieder und immer wieder in den Kinos und im TV wiedergekäut wird. Auch wenn der Krieg ein Verbrechen war, der Millionen das Leben gekostet hat, auch wenn wir ihn verloren haben, auch wenn wir nachträglich uns (Österreicher) als Opfer hingestellt haben: Trotz alldem, auf die Helden dieses Krieges dürfen wir doch stolz sein, wir dürfen sie noch feiern und in Ehren halten. Oder?
Für mich als neutralem Beobachter ist es sehr interessant – trotz meiner Loyalität zu meiner freiwillig erwählten Heimat – festzustellen, wie „Tatsachen“ anders bewertet werden. Die Relativitätstheorie Einsteins bewies die unterschiedliche Bewertung physikalisch-astronomischer Vorgänge, je nach Standort des Beobachters. Diese Theorie, zumindest dieses Postulat, scheint auch für politische Ereignisse zu gelten. In England zum Beispiel ist Rommel natürlich kein Held, sondern ein Nazi, ein Verbrecher, der angesichts einer drohenden Niederlage versucht hat, sich aus der Affäre zu ziehen. Der wahre Held ist natürlich der, der ihn besiegt hat: General Bernard Montgomery, in England besser bekannt als First Viscount Montgomery of Alamein.
Apropos Sieg: Ja, ich bekam den Namen Nasr, vielleicht nur auf die Erwartung oder Hoffnung auf einen Sieg. Eine andere Version betreffend meiner Namensgebung, für mich die glaubwürdigere, besagt, dass unsere Eltern mir und meinen drei Geschwistern Namen gaben, die abgeleitet wurden von Verben, die in einem arabischen Sprichwort vorkommen, also Nasr, Rida, Huda und Saad. Das Sprichwort geht ungefähr so: „Man nassarahul-lah (Nasr), radiya (Rida) anhu wa hadah (Huda) wa asa’adahu (Saad) fil haya.“ „Wen Gott zum Sieg (Nasr) erkoren hat, dem gibt er seine Zustimmung (Rida) und führt ihn auf den richtigen Weg (Huda) und schenkt ihm Glück (Saad) im Leben.“ Meine Eltern waren entweder Propheten und haben genau die Reihenfolge vorausgesehen, in der wir geboren werden, oder hatten sie die Sache so im Griff, dass sie bestimmen konnten, ob Bub oder Mädchen kommen soll! Aber Huda hat eine andere Erklärung: Das „Sprichwort“ wurde nachträglich von unseren Eltern erfunden! Danke Huda. Gefällt mir.
Ich kann meine frühesten Erinnerungen nicht chronologisch ordnen. Ist das so wichtig?
Ich erinnere mich an eine Bootsfahrt am Blauen Nil in einer Faluka, wahrscheinlich eine Reise von Sennar nach Singa oder umgekehrt. Vermutlich war irgendein Verwandter oder Freund meiner Eltern in Singa stationiert und wir haben ihn besucht. Ich kann mich an ein großes Haus erinnern, aber am besten an einen riesigen Baum, zumindest damals schien er riesig zu sein, eine Adansonia digitata, ein Boabab, der auf Deutsch, warum auch immer, Affenbrotbaum genannt wird, mit großen gefingerten Blättern und großen Früchten voll mit steinharten Samenkernen, die mit einen pulverartigen, schneeweißen säuerlich schmeckenden Belag überzogen sind. Ob dieser Baum in Singa, in Sennar oder in Kaduqli stand, kann ich heute nicht eindeutig feststellen, aber es geht hier eigentlich nur um die Bootsfahrt, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann.
Die Bootsfahrt am Blauen Nil, die sehr aufregend anfing mit so vielen Menschen in ihren Gallabiyas, dem Frachtgut, den Segeln, den Tieren, Ziegen, glaube ich, endete fast ekelerregend. Die Menschen sprachen ununterbrochen sehr laut und gestikulierten, als ob sie Jongleure beim Zirkus wären, die Ziegen meckerten unentwegt. Es war heiß und stickig und nicht nur die Ziegen lieferten für die Geruchsnerven sehr anstrengende Reize …
Bald fing es für mich an, besonders unangenehm zu werden, weil ein gewisses Organ sich mit der Zeit auffüllte und plötzlich überfüllt war und zu bersten drohte. Auf dem kleinen Boot haben die Annehmlichkeiten zum Lindern solcher Unannehmlichkeiten gefehlt. Ich musste am Rand des Bootes stehend in den Nil pinkeln und das in voller Sicht aller Anwesenden. Sehr wahrscheinlich hat kein Mensch hingeschaut, es war mir aber sehr peinlich. Später im Leben gab es unzählige solcher peinlichen Situationen, wo ich am liebsten auf der Stelle sehr gern im Boden versunken wäre, sich davon zu erholen, dauerte immer ziemlich lang.
Die Reise muss viele Stunden gedauert haben, die Entfernung zwischen Sennar und Singa beträgt circa sechzig Kilometer, stromabwärts mit einem guten Wind wird sie fünf bis sechs Stunden gedauert haben.
Sennar, mein Geburtsort, liegt am Westufer des Blauen Nils, 280 km südlich von Khartum und circa hundert Kilometer südlich von Wad Madani, damals zweitgrößte, nunmehr die drittgrößte Stadt in Sudan. Bei Sennar befindet sich der Sennardamm, der den Blauen Nil zu einem See staut, aus dem die Bewässerungskanäle für das große Gezira-Projekt gespeist werden.
Sennar ist nicht irgendein unbedeutender Ort im östlichen Zentralsudan, nicht nur weil ich dort geboren wurde oder wegen des Dammes … Sennar war für über drei Jahrhunderte, von 1504 bis 1821, die Hauptstadt eines Reichs, des Funj-Reiches (ausgesprochen: Fundsch), das einmal bis zum dritten Katarakt (Stromschnelle) des Nils im Norden, zum Roten Meer im Osten, Fazoghli im Süden und Darfur im Westen reichte und das auch unter dem Namen Sultanat von Sennar bekannt ist. Die Geschichte von Sennar und den Funj ist sehr gut dokumentiert in der Funj-Chronik, die von einem gewissen Katib al-Shuna verfasst wurde.
Der Damm bei Sennar wurde in den 1930er Jahren gebaut, um eine große Baumwollproduktion für die Fabriken in Manchester zu etablieren, das einzige, woran die Engländer in Sudan wirklich interessiert waren. Das hatte weitreichende Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung Sudans, die Nachwirkungen sind bis heute noch spürbar. Der erste Effekt war ein wirtschaftlicher Aufschwung, viele Menschen bekamen zum ersten Mal in ihrem Leben bezahlte Arbeit, nicht nur als Feldarbeiter. Man brauchte viele Bewässerungsingenieure, sehr viele Verwaltungsbeamte, und es entstanden sehr viele Nebenjobs und ergänzende Gewerbebetriebe.
Man muss sich erinnern, dass der Mahdi-Aufstand von 1881, den ich bereits erwähnt habe, die erste islamische Erhebung in neuerer Zeit und die erste Erhebung eines afrikanischen Volkes gegen Kolonialisten war.
Die Ursachen für den Aufstand waren mannigfaltig. Die wichtigsten waren aber der Sklavenhandel, die hohen Steuern und die schwache Wirtschaft. Die große Unzufriedenheit führte dazu, dass die Bevölkerung sich gern um den Prediger Muhammad Ahmad al-Mahdi scharte. Er stellte eine Armee auf und konnte die türkisch-ägyptischen Besatzer besiegen und das Kalifat ausrufen. Was ich aber hier klar machen will, ist, dass der Aufstand, der durch einen Prediger mit dem Ziel, einen islamischen Staat zu gründen, nicht deswegen entfacht wurde, weil al-Mahdi predigte und die Menschen überzeugte, sondern es waren die wirtschaftliche Not und die Willkür der Besatzer, die die Unzufriedenheit verursachten.
Mit dem Bau des Sennar-Damms hat sich die wirtschaftliche Situation in Zentralsudan sehr deutlich verbessert und die Menschen waren vorerst einmal froh, ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Stabilität genießen zu dürfen. Prediger, die es immer gab und gibt, verloren jetzt plötzlich ihre Überzeugungskraft. Das Gehirn funktioniert auch etwas besser, wenn man nicht ununterbrochen ans Essen denken muss. Heutzutage haben wir den islamistischen Terror, ein Kalifat wurde ausgerufen und viele im Westen glauben, die Ursache liege im Islam und einigen Hasspredigern. Was für ein Schwachsinn.
Die Menschen würden von Hasspredigern verführt. Ja schon, aber … Die Menschen haben sich wegen ihrer düsteren wirtschaftlich-sozialen Lage verführen lassen. Hassprediger zu verbieten, ändert daher nichts an dieser Lage.
Anfang der 1960er Jahre kam der wirtschaftliche Aufschwung, hervorgerufen durch die ausgedehnten Baumwollplantagen des Gezira-Projekts zum Erliegen. Denn Baumwolle wurde durch Nylonfaser verdrängt und hatte plötzlich keine Abnehmer mehr. Das führte zu einer ernsthaften wirtschaftlichen Krise, von der Sudan sich bis zur Entdeckung des Erdöls in den späten 1990er Jahren nicht erholen konnte. In dieser Krisenzeit hatten die Prediger wieder Hochkonjunktur und es kam erneut zu einer Hinwendung zum Islam. Die Scharia wurde im September 1983 eingeführt.
Aber zurück zu meiner Familie. Als verbeamteter Arzt im Dienste des Staates musste mein Vater dorthin fahren, wo die Gesundheitsverwaltung ihn hin beorderte. Es war ihre Strategie, die Ärzte in alle Regionen Sudans zu schicken. Anders wäre die Gesundheitsversorgung auch nicht zu gewährleisten gewesen. Da Ärzte, nicht nur in Sudan, lieber in den Städten bleiben, wurden sie zwangsweise herumgeschickt, um für eine ausreichende Versorgung der Landbevölkerung zu sorgen. Das bedeutet, dass ich als Kind mit meinen Eltern sehr viel herumgereist bin. Von Sennar ging es, ohne dass ich für die Reihenfolge bürgen kann, nach Wad Madani, Kapoeta, Maridi und Juba, wo wir am längsten blieben. Dort hatte Vater eine verantwortungsvolle Position, er musste auch die Gesundheitseinrichtungen in Yei, Maridi, Torit, Wau, Kajokaji und vielen anderen Orte rundherum kontrollieren. Ich bin sehr oft mitgefahren, sodass es sicher kaum eine Stadt oder ein Dorf in der Provinz Equatoria gibt, wo ich nicht schon war. Aber ich greife vor.