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2. Heuschreckenplage oder Himmelfahrt am Bahnhof

In Wad Madani wohnten wir in einem Haus, welches ganz nah am Bahnhof lag. Die Gleise liefen am Haus vorbei und ich verbrachte viel Zeit damit, die vorbeifahrenden Züge zu beobachten. Sie hatten damals mit Kohle betriebene Dampflokomotiven und ich fand großen Gefallen am Geruch von Kohlenrauch. Auch die Rauch- und Dampfsäulen haben mich fasziniert, wie sie ihre Gestalt andauernd änderten, mal dicht und breit, mal schmal und lang gezogen und mal sich in kleine Wölkchen auflösend. Die riesengroßen Zugmaschinen mit ihrem Zischen und Ächzen sehe und höre ich noch heute. Der Klang der Geräusche, die entstehen, wenn die Lokomotive sich in Bewegung setzt und der Dampf aus den Kolben entweicht, ist in meinen Ohren sehr präsent. Zuerst langsam wuff… wuff… wuff, dann immer schneller wuff…wuff, dann wuffwuffwuff! Zwischendurch sind die Räder auf den Gleisen gerutscht, so kam zwischen den langsamen Wuffs auch manchmal ein Stoß von schnellen Wuffs. Zusätzlich zu diesen Geräuschen kamen die im Ton unterschiedlichen, manchmal sehr lang anhaltenden Klänge der Zugpfeifen dazu. Die Räder quietschten in den Kurven und die Wagons gaben Serien von metallenen Tönen von sich, wenn sie aneinanderstießen, wenn der Zug sich in Bewegung setzte. Den Takt lieferten die Räder dazu, als sie über die Nahtstellen der Schienen gefahren sind: taattatatt… taattatatt… taattatatt… taattatatt. Die Züge waren irre lang, mit sehr vielen Wagons.

Heutzutage ist eine Zugfahrt kein Erlebnis mehr, es ist nur eine bequeme Art voranzukommen. Die Züge huschen geräuschlos vorbei, kein Wuff, kein Taattatatt, kein Dampf, kein Pfeifen, keine Wagons, nur ein schlangenförmiges, sehr schnelles Etwas.

Die Geräusche am Bahnhof in Wad Madani in den 1940er Jahren waren – aus heutiger Sicht – für mich eine in einer Naturkulisse dargebotene Vorwegnahme einiger Kompositionen zeitgenössischer Musik der 1970er Jahre, eine Musik, die sich auch damals aus durch Zufall entstandene Töne zusammengesetzte. So hat es sich angehört, zumindest in meiner Erinnerung!

In der Kirche muss ich die Geschichte von Jesu Himmelfahrt gehört haben, weil ich eines Tages erzählte, dass ich eine Seele in den Himmel hinauffahren sah. Der Spott, den ich damals erntete, ließ die Geschichte bis heute in meiner Erinnerung bleiben. Natürlich bin ich heute sicher: Was ich sah, war eine Rauch- oder Dampfwolke von einem vorbeifahrenden Zug.

Das Haus in Wad Madani hatte ein Zimmer abseits vom Hauptgebäude; das war Großmutter Salomahs Zimmer. Ich kann mich erinnern, dass das Zimmer meistens sehr dunkel war und taita, Arabisch für Großmama, immer ganz in Schwarz gekleidet war und dort in einem Sessel saß. Taita saß. Sie saß vor allem.

In dieser Provinz haben viele Häuser nach außen doppelte Türen. Eine normale Tür und eine mit Moskitogitter bespannt, um Insekten herauszuhalten, weil man die normale Tür oft offen lassen musste, um eine Luftzirkulation im Zimmer zu bekommen. Damals gab es keine Airconditioner oder Aircooler, es gab nur Ventilatoren, aber man musste Türen und Fenster trotzdem offen lassen, sonst war die Hitze unerträglich.

Eines Tages kam ein gewaltiger Schwarm von Heuschrecken. Der Schwarm war so groß, dass es tatsächlich so dunkel wurde, wie wenn ein dichter Nebel uns umhüllte. Innerhalb kürzester Zeit war alles Grüne weg. Alle Bäume und Sträucher um das Haus herum waren im Nu kahl. Es war natürlich eine sehr große Aufregung, Menschen rannten herum, laut schreiend und auf allerhand Geschirr oder leere Kanister klopfend. Die Heuschrecken blieben völlig unbeeindruckt. Sie haben uns anscheinend gar nicht wahrgenommen. So kann es der Krone der Schöpfung ergehen, nicht einmal die Heuschrecken nehmen von uns Notiz!

Ich fing ein paar Heuschrecken ein und sperrte sie zwischen die beiden vorhin erwähnten Türen. Kinder sind grausam, ich war höchstens fünf Jahre alt. Ich hielt die Heuschrecken in der Hand und riss ihnen die langen Beine aus, mit denen sie sich in die Luft katapultierten. Ich weiß nicht warum. Es war sicher nicht Lust am Schmerz anderer, eher Mangel an Identifikation mit einem Lebewesen, das Kinder in diesem Alter nicht als schmerzempfindlich erkennen können.

An einer Seite des Hauses floss ein schmaler Kanal, um die Pflanzen im Garten zu bewässern. Das Wasser wurde vom Nil durchgepumpt und an die Häuser verteilt. Es gab ein einige Kilometer langes Netzwerk von Kanälen durch die Stadtviertel, wo die Häuser der Beamten lagen. Auch in Khartum gab es etwas Ähnliches.

Zu der damaligen Zeit waren alle Straßen in Wad Madani nicht asphaltiert und die Häuser waren mit Mauern aus nicht verputzten Ziegeln umgeben. Eines Tages musste ich mich besonders sorgfältig anziehen, weil ich in die Schule gehen sollte. Sie war in einem Gebäude aus gebrannten Lehmziegeln, umgeben von einer ähnlichen Mauer. Der Hof war ganz staubig, nicht ein Fleckchen Grün. Es war abschreckend. Ich weiß nicht mehr, ob ich von vorneherein die Schule ablehnte oder ob es der Anblick der Schulgebäude war, der in mir die Ablehnung heraufbeschwor. Es kann aber auch sein, dass es einen anderen Grund gegeben hat, der mich mit Händen und Füßen gegen die Schule wehren ließ. Ob Tante Rosa damit zu tun hatte? Denn sie wohnte damals bei uns, sie hatte selten gute Laune und war Lehrerin an dieser Schule.

Also, ich kam in Wad Madani nicht in die Schule. Einige Monate später in Juba angekommen, übernahm mein Vater persönlich meinen Unterricht.

Von Kopftüchern und Scheuklappen

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