Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 8
Оглавление2. Paulas Geburtstag oder Hast du deine Bibel aufmerksam gelesen?
Es war Anfang Februar. Schnee lag im Hof und es war eiskalt.
Der Stellplatz für das Auto, zwischen Haus und Garten, ist freigeschaufelt.
Alle Erzählungen, fast alle, sagen wir doch viele, fangen mit einem Wetterbericht an. Der Erzähler muss eine Stimmung ausmalen, eine Atmosphäre heraufbeschwören. Der Leser muss in eine bestimmte Stimmung versetzt werden. Und er muss wissen, wohin er sich begibt oder wo er sich schon befindet. Eine Szene muss beschrieben werden, weil Menschen Zeit und Ort wissen müssen, um sich orientieren zu können. Oder man kann eine Erzählung auch mit einer Beschreibung der handelnden Personen beginnen.
Irgendwie, mit irgendetwas muss ein Erzähler auf jeden Fall anfangen. Also, es war eiskalt. Eine Schneedecke von ungefähr fünfunddreißig Zentimetern lag über dem Boden und bedeckte alle Dächer und die Pflanzen im Garten. Es war glücklicherweise windstill und die Sonne beglückte uns mit viel Licht, aber wenig Wärme.
Ich dachte mit Unwillen ans Schneeschaufeln. Wir standen im Hof, Schneeschaufeln in der Hand, als ob wir auf den Befehl eines Regisseurs warteten:
„Action!“
Der Befehl kam nicht, aber Rosemaries Mobiltelefon klingelte. Es war Karin, Paulas Tochter.
Ich dachte: Das wird lange dauern. Und ich hatte recht. So stand ich weiterhin untätig, lauschte dem Gespräch zu und versuchte zu verstehen, worüber sich Rosemarie lautstark Gedanken machte.
Rosemarie machte sich hörbar darüber Gedanken, wie sie Paulas Geburtstag feiern möchte. Diese Gedanken teilte sie Karin mit, die aber anscheinend von der Idee, die Feier bei uns abzuhalten, nicht sehr begeistert war. Daraufhin wurde extensiv von den Errungenschaften moderner Technik Gebrauch gemacht. Wie hätten alle diese Unklarheiten beseitigt werden können, wenn wir den Segen des Mobiltelefons nicht hätten? Zum Schluss stand fest: Paulas sechzigster Geburtstag wird doch bei uns in Fernitz gefeiert.
Aber das war nicht die einzige Entscheidung, die getroffen werden musste. Von nun an und bis zur Feier war Rosemarie weiterhin ausschließlich, sagen wir ständig, mit dem Thema beschäftigt. Paulas runder Geburtstag musste ein besonderes Fest werden.
Was ist ein Fest ohne Festessen? Das war für Rosemarie die erste und die größte Sorge. Sie war sehr bemüht, ein Menü fürs Festessen zusammenzustellen. Zuerst war die Frage, welches Fleisch, dem Anlass angemessen, aufzuwarten wäre, Gegenstand intensiver Nachdenk- und Diskussionsprozesse. Alle Möglichkeiten wurden aufgezählt: von Hühnerfleisch über Rindfleisch bis Wildfleisch. Hätte Rosemarie vielleicht auch an Gemüse gedacht, wenn es Sommer gewesen wäre, heiß und sonnig statt kalt und verschneit? Gemüse für ein Festessen? Kommt gar nicht in Frage!
Feierlichkeiten sind doch rituelle Handlungen mit einem mystisch-religiösen Hauch. Und Feierlichkeiten sind wie Gemälde, sie kommen nur dann voll zur Geltung, wenn sie in einem würdigen Rahmen präsentiert werden. Es wird dekoriert, es wird gesungen (mindestens „Happy Birthday to You“ oder „Stille Nacht“, je nach Anlass), es wird „Fest“ gegessen und getrunken. Kurz, es findet eine Zeremonie statt.
Irgendwie erinnert mich das Ganze an eine katholische Messe, obwohl man bei der Messe wenig zum Essen und nichts zum Trinken bekommt. Aber das bloße „Essen“ hatte an sich schon immer einen religiös-mystischen Bezug, besonders wenn mehrere Menschen zusammenkommen. Und da beim Festessen Fleisch immer dabei sein muss, ist das Essen mit „Opfer“ verbunden.
Erinnern wir uns doch, schon Abel und Kain wollten dem allmächtigen Schöpfer als Opfergabe etwas zum Essen schenken. Es wird zwar nicht ausdrücklich von Feierlichkeiten berichtet, auch nicht davon, ob die beiden mit am Tisch des Herrn saßen und mitgegessen haben, aber wie, wenn nicht feierlich, bietet man sonst dem Schöpfer eine Mahlzeit an? Er, der Allmächtige, war aber sehr wählerisch und nahm das Vegetarische, welches Kain ihm anbot, nicht an, mit tragischen Konsequenzen für Abel. Nachzulesen im 1. Buch Mose, Kapitel 4, Verse 1–160.
Nebenbei, es tauchen da viele Fragen auf, die eigentlich dringend beantwortet werden wollen, weil sonst vieles von dem, was uns Moses erzählt hat, unklar bleiben würde. Also: Erstens braucht der Schöpfer wirklich etwas „Festes“ zum Essen?
Zweitens erkannte Moses die Ursachen des vorliegenden Konflikts nicht? Und das, obwohl die erste Konsequenz dieses Kampfes, der Mord an Abel, klar darauf hindeutete, dass es sich hier um einen Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Wirtschaftssystemen handelte, einem Konflikt zwischen ansässigen Bauern mit Kain als Stellvertreter und umherziehenden Viehhütern, wie es der Abel war. Wich Moses der Auseinandersetzung einfach nur aus und suchte eine Rechtfertigung für ihren Ausgang in vermeintlich göttlichen Essgewohnheiten?
Drittens, was wäre, wenn die ersten Menschen, die geboren wurden, die Kinder Adams und Evas, nicht Männer, sondern Frauen gewesen wären?
Viele andere Fragen kommen uns in den Sinn, mindestens mir sind sie in den Sinn gekommen, aber ich denke, ich muss einige Antworten eurer Vorstellungskraft überlassen. Es liegt mir bestimmt sehr, sehr fern, irgendjemanden beleidigen zu wollen, die Fragen, die ich hier gestellt habe, sind ernsthafte Fragen. Das sind die Fragen, die mir damals in den Sinn kamen, als ich in meinen Jugendjahren diese Geschichte in der Bibel las. Diejenigen meiner Leser, die mich für zynisch halten, sind entweder nicht ehrlich zu sich selbst oder glauben nicht an die Weisheit ihres Schöpfers, der sicherlich eine gewisse Absicht gehabt haben muss, als er uns mit einem Gehirn ausstattete. Aber ihr, liebe Leser und Leserinnen gehört sicher nicht dazu! Und übrigens, unter den Zehn Geboten gibt es kein Gebot, das so lautet: „Du sollst deinen Verstand nicht gebrauchen.“
Aber Gläubige erschrecken sehr, wenn ihnen solche Fragen gestellt werden oder sie ihnen selber einfallen, weil diese Fragen die Absurditäten des blinden Glaubens an alles, was geschrieben ist, aufdecken,. Dies könnte ihre gemütlichen Gewissheiten erschüttern oder sogar zerstören, und sie so zu einer sehr unangenehmen Tätigkeit zwingen, nämlich, ihr Gehirn zu benutzen.
Damals, als die Fragen mir als Kind einfielen, hatte ich keine Zweifel, ich wollte einfach nur verstehen. Es ging mir nicht darum, den Glauben an einen Schöpfer in Frage zu stellen. Heute als erwachsenem Mann geht es mir auch nicht darum, sondern nur darum, den blinden wortwörtlichen Glauben an Schriften zu hinterfragen, die vor mehreren Tausend Jahren geschrieben wurden, und mehrmals kopiert, von und in mehrere Sprachen übersetzt und dabei sicherlich wissentlich oder unwissentlich interpretiert und den jeweiligen Ansichten und Bedürfnissen des Übersetzers angepasst wurden. Wir alle wissen, wie der Gebrauch und die Bedeutung von Wörtern sich von Ort zu Ort oder von Zeit zu Zeit ändern können.
Wikipedia listet 18 unvollständige, 35 teilweise, und wenn ich mich nicht verzählt habe, 107 vollständige Bibelübersetzungen in englischer Sprache auf. Ich konnte keine ähnlich konkrete Angabe über die Anzahl der deutschen Übersetzungen finden, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, die Übersetzungen ins Deutsche seien weniger zahlreich. Nun, welche ist die richtige Übersetzung? Kann es überhaupt eine richtige Übersetzung geben? Und was ist mit den heiligen Schriften anderer Religionen? Warum sollten die weniger glaubwürdig sein? Nur weil meine Eltern mir dies sagten?
Denn der Zufall bestimmt meine Religion. Wäre ich in Indien geboren, wäre ich einer der über eine Milliarde Anhänger des „Sanatana Dharma“ (Hinduismus). Welcher Religion wir anhängen, ist sehr selten eine bewusste rationale Entscheidung. Es sind die Eltern, die uns ihren Glauben weitergeben.
Lasst uns also versuchen, Antworten für einige Fragen, zumindest für meine dritte Frage, „Was wäre, wenn die ersten Menschen die geboren wurden, die Kinder Adams und Evas, nicht Männer, sondern Frauen gewesen wären?“ zu finden.
Ich vermute, die „Ur-Frauen“, die „Ur-Mütter“ wären fast sicher mit einem gemeinsamen Geschenk vor den Herrn getreten. Frauen wird nachgesagt, sie seien kooperativer, aber auch zielstrebiger als Männer. Mit so einem Auftreten hätten sie den Schöpfer in große Verlegenheit gebracht. Aber mit Frauen hatte Gott ein Problem von noch weitreichenderen Bedeutung, dem Er seine ungeteilte Aufmerksamkeit sofort widmen musste, mehr Aufmerksamkeit, als er später jemals dem Hunger, Krankheiten und jeglichem Elend auf der Erde widmete.
Gottes göttlicher Plan war, den Menschen, sein „Ebenbild“, im Paradies einzusperren und ihm, nicht ohne Bedingung, die Möglichkeit offen zu lassen, ebendort das Leben paradiesisch zu genießen. Paradiesisch heißt hier: unwissend, also sich seiner selbst nicht bewusst, so wie alle anderen Lebewesen, die sich auch im Paradies befanden.
Von dem, was wir wissen, legte Gott aber von Anfang an den größten Wert auf Gehorsam. Die Bedingung war also, ein Verbot zu befolgen. Um deren Gehorsam zu prüfen, sollten Adam und Eva die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten treffen. Sie hatten die Wahl zwischen zwei Alternativen, gehorchen oder nicht gehorchen.
Und was tat Eva? Sie war schlicht und einfach ungehorsam. Und sie hat den armen unschuldigen Mann Adam verführt! Damit hat sie die „Sünde“ in die Welt gebracht. Daraufhin hat Gott in seinem natürlich sehr berechtigten heiligen Zorn seine ganze Schöpfung ohne Unterschied aus dem Paradies vertrieben.
In dem Moment, in dem sie vom Baum der Erkenntnis aßen, sind sie sich ihrer Nacktheit (sic) bewusst geworden, also ich würde sagen, sich selbst bewusst geworden. Im Lichte unserer heutigen Kenntnisse über die Evolution verstehe ich diese Geschichte als eine Allegorie über den Moment, in dem Adam und Eva sich ihrer selbst bewusst wurden, also den Moment, in dem aus zwei Affen zwei Menschen wurden.
Ja, schon, natürlich war es von Anfang an Gottes Wille und sein Plan, dass seine Geschöpfe sich auch im Paradies vermehren sollten. Dabei sollten sie auch Spaß haben, sie waren ja im Paradies. Um diese beabsichtigte Vermehrung unausweichlich sicherzustellen, erfand Er etwas sehr Raffiniertes, Lustvolles, wir nennen es Sex. Aber nach der Vertreibung wurde diese wirksame lustvolle Falle zu einem Problem. Die Menschen denken seither an nichts anderes. Mit der Vertreibung sollte es aber eigentlich auch Schluss mit lustig sein. Da erkannte Gott die große Gefahr, dass diese seine weiblichen Geschöpfe, ungehorsam, wie sie nun einmal waren, seine Absichten missverstehen oder bewusst missachten könnten und denken, dass Sex zum Vergnügen da sei und nicht nur eine Sicherung für den weiteren Bestand der Schöpfung. Nein, dem musste ein Riegel vorgeschoben werden, es mussten sehr strenge Regeln, Einschränkungen und explizite Gesetze erlassen werden, alles musste peinlichst genau beobachtet werden. Seit dem Obstgenuss Evas kannte der Schöpfer keinen Spaß mehr, ganz klar, Spaß und Vergnügen waren nie seine Absicht. Und uns Männern hat Er klar verkündet, und alle Religionen sind sich auch darüber einig: Das Weib ist immer die hinterlistige Verführerin.
Und da Er, der Allwissende gewusst, zumindest geahnt haben muss, was von Frauen zu erwarten ist, wundert es nicht, dass Er, der Allmächtige, dafür gesorgt hat, dass Frauen im Allgemeinen, außer niederen Diensten, nichts werden zu schaffen haben dürfen, und besonders nicht in Kirchen, Tempeln und ähnlichen heiligen Orten, in denen Er sich angeblich so gerne aufhält. Sie hätten sonst seine großen Pläne vereitelt. Resümee: Gott hatte also ein großes Problem mit Frauen. Das jedenfalls ist meine Interpretation der Lage. Andere behaupten, Gott hätte das Weib nur deswegen erschaffen, um uns Männer unentwegt zu prüfen. So etwas Gott zu unterstellen, ist aber sehr gemein, meine ich.
Und die vierte und letzte und wichtigste Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe: Woher nahm Kain eine Frau? Er muss eine genommen haben, sonst gäbe es uns nicht. „Heiratete“ er zum Schluss seine eigene Schwester? Und wenn ja, woher kam denn die daher? Warum berichtet Moses nie von weiblichen Nachkommen von Adam und Eva?
Bitte missversteht mich nicht, ich will nicht zynisch sein, ich will nicht oder nicht nur provozieren, das sind Fragen, die mich in meiner Jugend brennend interessierten. Unter den Zehn Geboten gibt es keines, das lautet: „Du sollst dein Gehirn nicht gebrauchen.“ Wenn der Allmächtige uns schon mit einem Gehirn ausgestattet hat, muss er doch sich etwas dabei gedacht haben. Oder?
Weiter.
Entweder fehlten dem Moses weitere Informationen zu diesem Thema oder er zweifelte selbst an der Echtheit der ihm überlieferten Sagen. Jedenfalls fällt sein Bericht dazu auffällig knapp aus, in nur einem einzigen Satz berichtet er im 1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 17: „Kain erkannte seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Henoch.“ Na prima, wenn das die Konsequenz ist, werde ich in Zukunft mich peinlichst hüten, irgendeine Frau zu erkennen!
Im Ernst, wenn Kain seine Frau, die wahrscheinlich seine Schwester war, solcherart erkannt hat, dass sie schwanger wurde, dann war das Inzest, noch dazu direkt unter Gottes Auge und in seiner Hörweite. Dass das so war, ist klar, denn aus dem, was Moses uns berichtet hat, müssen wir annehmen, dass Gott und Kain im direkten Kontakt miteinander standen. Aber Moses verliert kein Wort über weibliche Geschwister Abels und Kains, obwohl die Menschen sofort anfingen, sich wie die Kaninchen zu vermehren. Ein Rätsel. Ein Geheimnis des Glaubens. Nach der Schöpfungsgeschichte beruht unsere Existenz also auf Inzest.
Aber es wird noch rätselhafter. Irgendwo anders berichtet Moses im 1. Buch, Kapitel 6, Verse 1 und 2: „1 Da sich aber die Menschen begannen zu mehren auf Erden und ihnen Töchter geboren wurden, 2 da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten.“
Ein Mysterium jagt das nächste. Die Töchter der Menschen? Welche Menschen? Woher zum Teuf … ah … ah … zum Ku … u … uck, … äh … äh … um Himmelswillen kamen diese Menschen?
Es gibt Menschen, die uns unermüdlich erklären, Inzest führe unweigerlich zu Degeneration. Das würde allerdings den heutigen Zustand der Menschheit ausreichend erklären. Aber das war auch nicht das einzige Mal, dass die Menschen sich in inzestuöse Beziehungen verwickelten. Wie war das mit Noah und seinen Nachkommen?
Wie auch immer, es ist klar, dass unzählige Fragen auftauchen müssen bei so einer mangelhaften Berichterstattung. Der oberste Hirte der katholischen Kirche, Papst genannt, wusste genau, warum er seiner Herde jahrhundertelang das Lesen der Bibel verbieten musste, wusste er doch, es würden sich ein paar schwarze Schafe unter seiner Herde befinden, die ihm mit ihren Fragen, für die sogar sein Herr, der Allwissende, keine Antworten wusste, das Leben schwer machen könnten.
Der Hirte und seine Schafe. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass diese Bezeichnungen nur zufällig entstanden sind. Es ist schwer, sich vorzustellen, sie seien nur im übertragenen Sinn gemeint. Treffender könnten keine anderen Worte gewählt werden für die Umschreibung der wahren Verhältnisse, so, wie sie vor zweitausend Jahren herrschten, und so, wie sie heute noch herrschen. Der Hirte und seine Schafe.
Aber kommen wir zurück auf die Geschichte von Abel und Kain. Sie ist, wie ich schon angedeutet habe, eher eine Allegorie auf die ewige Feindschaft zwischen nomadisierenden Herdenhütern und sesshaften Bauern. Abel war ein Schäfer, Kain ein Bauer. Und da fällt auf, dass Moses, der die Geschichte nur vom Hörensagen erfahren haben kann, offensichtlich etwas verwechselt haben muss, denn es waren mit Sicherheit die Hirten, die auf unserer Erde als erste in Erscheinung traten und nicht die Ackerbauern. Und wo bleiben die Jäger und Sammler, fragt ihr? Die Sammler waren ja noch früher da, aber die Hirten waren definitiv vor den Bauern da, und es ist sehr wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass sie sich mit ihren Herden ungehindert im ganzen Land herumtreiben konnten.
Irgendwann in der Urgeschichte der Menschheit gab es eine kluge Frau, die die Landwirtschaft erfand. Es muss eine Frau gewesen sein, denn mit heutigen Zuständen verglichen ist zu vermuten, dass Männern nichts anderes einfallen würde, als Tiere und/oder ihre eigenen Artgenossen zu jagen und zu töten. Letzteres nennt sich nicht einfach töten, das nennt man Krieg führen. Das ist heldenhaft. Im Gegensatz zum Töten ist das kein Verbrechen, auch wenn dabei viel mehr Menschen sterben.
Die Männer waren bekanntlich Jäger und Sammler und streiften herum von in der Früh bis am Abend. Es war wahrscheinlich nicht leicht, Tiere mit ihren primitiven Waffen Keulen und Speeren und später Pfeil und Bogen zu erlegen. Die Frauen waren der Kinder wegen ortsgebundener. Sie hatten die Gelegenheit zu beobachten, wie aus den Körnern aus den weggeworfenen Essensresten neue Pflanzen wuchsen, und sie kamen auf die Idee, Samen gezielt zu setzen, um bestimmte Pflanzen zu vermehren. Und da „gebar“ Evas Tochter die Landwirtschaft, zugleich die Geburtsstunde der Zivilisation.
Erst als die Landwirtschaft sich allmählich zu Landbesitz entwickelte, nahmen die Männer die Sache dann sehr wohl in die Hand. Dadurch entstand eine neue Art zu wirtschaften, betrieben von einer neuen Gruppe, von sesshaft gewordenen Menschen, den Bauern. Bauern wollen keine sich herumtreibenden Tiere auf ihren Äckern, Tiere, die die Frucht ihrer mühevollen Arbeit einfach vertilgen. Sie umzäunten ihre Äcker. Das wiederum nahm den Hirten die besten Weideflächen weg und verhinderte die freie Bewegung ihrer Herden. Ein unlösbarer Konflikt.
Aber schauen wir uns die Lage von einer anderen Seite näher an. Bedingt durch die Natur ihrer Arbeit, säen, jäten und ernten, guckten die Bauern immer zu Boden und hatten keine Zeit, sich über irgendetwas anderes Gedanken zu machen. Und Bauern halten Schweine, weil diese nicht weit zu wandern brauchen. Schäfer dagegen, die die weit umher wandernden Schafe hüteten, hatten sehr viel Zeit, die Vielfalt der Natur und die Weite des Himmels zu beobachten und sich über dies und das und sonst was Gedanken zu machen. Zeit und Muße, Himmel und Sterne, das beruhigende Blöken der Schafe dazu, das ist der Stoff, aus dem Religionen entstehen können. Besonders das Blöken der Schafe muss sehr inspirierend gewirkt haben. Es sind in dieser Umgebung sogar drei „Weltreligionen“ entstanden. Das gab den Hirten, die die inspirierenden Schafe hüteten einen entscheidenden Vorteil. Die Hirten erfanden die Religion mit ihren Geboten und Verboten. Die Religion gab ihnen einen klaren Vorteil im wirtschaftlichen Kampf gegen die Bauern.
Da konnten sie den Konsum von Schweinefleisch, ein bäuerliches Produkt, kurzerhand „per Gotteswille“ verbieten. Aber auch Alkohol ist ein Produkt der Landwirtschaft. Alles klar?
Ich bin ein friedlicher Mensch und mag keinen Streit anfangen, schon gar nicht mit Moses. Vielleicht hat er recht gehabt und die Ackerbauern kamen vor den Hirten. Aber das ändert gar nichts am Wesentlichen, der Wirtschaftskrieg zwischen unterschiedlichen Wirtschaftssystemen tobte erbarmungslos und in aller Heftigkeit schon seit den ersten Tagen der Menschheit und tobt bis heute immer weiter. Aber eins ist klar, auch wenn es die Hirten waren, die die Religion erfanden, Moses hat den Bauern doch zu einem späteren Sieg verholfen, er schenkte ihnen die Zehn Gebote.
Die Zehn Gebote sind eindeutig die Grundlage für die Errichtung einer noch neueren politischen Wirtschaftsordnung und sie haben zwei ganz klare Ziele. Sie rufen zur Unterwerfung unter eine einzige Autorität auf und sie verfestigen Eigentumsrechte, sogar inklusive Weib und Sklave. Eigentum ist ein Merkmal der Sesshaftigkeit. Diese neue Ordnung kann also nur zum Sieg der Bauern über die Hirten führen.
Und so geschah es auch. Heutzutage sind Hirten, und nicht nur die, die die echten Schafe hüten, sondern auch die von der gläubigen christlichen Herde immer seltener anzutreffen.
Seit Abel und Kain wissen wir, welches „Opfer“ angenommen wird, auch auf die Gefahr hin, Neid zu erwecken. Opfern heißt doch, auf etwas zu verzichten. In diesem Fall verzichten die Tiere auf ihr Leben zu unseren Gunsten, um die Götter oder den einen Gott zu besänftigen. Seit jeher waren die Götter rachsüchtig und blutrünstig. Um sie zu besänftigen, muss Blut fließen, daher auch das Schächten von Tieren bei denen, die glauben, ihre Götter seien Karnivoren, das heißt fleischfressende Tiere. Abraham ist sogar so weit gegangen, dass er bereit war, seinen eigenen Sohn zu schlachten …, zu opfern. Blut, das ist die einzige wirksame beruhigende Droge für das gereizte göttliche Nervengeflecht.
Tiere schlachten, das hat seit Menschengedenken eine feierliche mystische und heilige Seite. Das nennt man Tradition. Und obwohl wir heute die Tiere, die wir „opfern“, nicht selbst schlachten, was uns nebenbei auch das bisschen an schlechtem Gewissen erspart, das wir fallweise hätten haben können, ist das feierliche „Heilige“ trotzdem irgendwo, ja irgendwo erhalten geblieben. Ich nehme an, dass die ganze Opfergeschichte nur deswegen erfunden wurde, um das schlechte Gewissen, das die Menschen schon immer beim Umbringen von anderen Lebewesen hatten, zu beschwichtigen.
Dabei hat Fleisch den Menschen nie richtig geschmeckt. Man muss den Geschmack von Fleisch total beseitigen oder verdecken, um es essbar zu machen. Die europäischen Menschen haben in vergangenen Jahrhunderten die äußerst mühevollen und gefährlichen jahrelangen Reisen mit primitiven Segelschiffen riskiert, nur um aus Indien Gewürze zu holen, mit denen sie ihre Fleischgerichte genießbar machen konnten. Die ganze Entwicklung der „Zivilisation“ seit dem vierzehnten Jahrhundert hat also damit angefangen, dass einigen „Fürsten“ in Europa der Braten ohne Pfeffer nicht schmeckte! Was wäre wohl passiert, wenn deren Köche etwas kreativer gewesen wären? Der Lauf der Geschichte wurde durch ein Fleischgericht, nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, entscheidend beeinflusst, wie wir bei der Erzählung von Abel und Kain schon gesehen haben.
Wie wichtig ein Gericht sein kann, zeigt uns auch die Geschichte von Esau und Jakob. Da geht es allerdings erstaunlicherweise einmal rein vegetarisch zu. Jakob bereitete ein Linsengericht zu. Esau, der Erstgeborene, stürmte mit Heißhunger herein und wollte sofort etwas zum Essen haben. Höchstwahrscheinlich war er Diabetiker und hatte gerade zu wenig Zucker im Blut, daher die Ungeduld. Jakob witterte seine Chance und verlangte dafür Esaus Erstgeburtsrecht. Was immer das gewesen sein mag, er bekam es. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wieso diese Geschichte in der Bibel im Alten Testament erwähnt wird, aber sie muss wichtig sein, sonst hätte Moses sich nicht die Mühe gemacht, uns davon zu berichten. Wenn es euch interessiert, könnt ihr weiterlesen im 1. Buch Mose (Genesis), Kapitel 25, Vers 28.
Wie wir sehen, ist das Alte Testament voller rätselhafter Geschichten. Mich haben als Jugendlicher sehr viele Fragen gequält, unter anderem auch solche, ob es im Paradies auch Moskitos gegeben hat und wovon sie sich ernährt haben. Und haben andere Tiere sich auch mit Adam und Eva unterhalten oder war es nur die Schlange? Das Alte Testament ist sonst auch eine unerschöpfliche Quelle für abstruse Kriminalgeschichten, manche darunter ziemlich gruselig.
Falls die Kreationisten recht haben sollten, dann existieren die Menschen auf dieser Erde erst seit circa sechstausend Jahren. Wenn wir mit drei Generationen pro Jahrhundert rechnen, dann sind wir ungefähr die hundertachtzigste Generation nach Adam und Eva. Zwischen Abel und Kain und uns liegen also 179 Generationen. Aber da schweife ich viel zu weit zurück in die Vergangenheit, ich wollte eigentlich von nur drei Generationen berichten, von meiner und von den beiden vor mir, aber davon später.
Verweilen wir doch einen Moment noch bei Rosemaries Bemühungen, ein dem Anlass würdiges Menü zusammenzustellen. Wir erinnern uns, es ging um Paulas Geburtstag.
Rosemarie erinnerte sich an eine Sendung von Andi und Alex, in der ein hauchdünnes Schnitzel zubereitet wurde. Für die, die es nicht wissen, Andi und Alex sind zwei Köche, die gemeinsam eine Kochshow im österreichischen TV auf eine lockere und witzige Art präsentieren. Rosemarie war von der Schnitzel-Idee begeistert. Zum Schluss fiel die Wahl auf Kalbfleisch. Aber wie servieren? Als Schnitzel flach auf dem Teller? Gerollt? Dann kam sie auf die Idee, es auf einer Unterlage, einem Spiegel zu servieren. Viele Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen, aber sie wählte Sellerie. Um sicher zu sein, bereitete sie ein Probeessen zu, wir aßen es und wir fanden, dass es gut schmeckte.
Am 19. Februar feierten wir Massimos Geburtstag und bei dieser Gelegenheit erwähnte Karin zufällig, dass Hannes den Geruch von Sellerie nicht ausstehen könne. Ich kenne das. Es gibt Gerüche, die ich sehr widerlich finde. Eine Zeitlang war ich gegen Kümmel sehr allergisch, in der Zwischenzeit ist die Aversion schwächer geworden. Die größte Aversion habe ich zurzeit gegen grünen Koriander.
Zu meinem 70. Geburtstag flogen wir nach England, um mit meinen Geschwistern die Freuden des Älterwerdens zu feiern. Das Festessen sollte in einem bei meinen englischen Familienmitgliedern beliebten indischen Restaurant stattfinden. In Österreich bin ich es gewohnt, dass die „Inder“ nicht automatisch Grünkoriander im Essen servieren. In England ist das üblich. Alle Hauptgerichte kamen vollgestopft mit Koriander! Von dem Festessen, das für mich veranstaltet wurde, konnte ich nichts essen! Zum Glück waren die vielen schmackhaften Vorspeisen frei von Koriander! Der Geruch von frischem grünen Koriander erinnert mich an den Geruch von einer Wanze, die im arabischen den Namen „al-Fassayah“ trägt (übersetzt: die Furzende. Insekten sind im Arabischen weiblich.) Wahrscheinlich handelt es sich um Palomena prasina, die Gemeine Stinkwanze.
Daran habe ich mich erinnert, als Karin von Hannes’ Aversion gegen Sellerie sprach. Nebenbei erwähnt, denn ich bin leidenschaftlicher Botaniker: Alle drei Gewürze, Kümmel (Carum carvi), Koriander (Coriandrum sativum) und Sellerie (Apium graveolens) stammen aus der gleichen Pflanzenfamilie: Doldengewächsen, Apiaceae. Übrigens, auch Petersil (Petroselinum crispum), Dill (Anethum graveolens), Cumin (Cuminum cyminum), Anis (Pimpinella anisum), Liebstöckel (Levisticum officinale) und Engelwurz (Angelica archangelica) gehören zu dieser Pflanzenfamilie.
Die Aversion gegen bestimmte Gerüche ist ein Problem für die, die darunter leiden. Denen, denen die Gewürze beziehungsweise das Essen schmeckt können nicht verstehen, dass es für andere unerträglich sein kann. Und dann wird man überschüttet mit guten bzw. gut gemeinten Ratschlägen.
„Aber probiere es doch.“
„Habe ich eh schon.“
„Noch einmal, vielleicht hat es damals zufällig nicht dazu gepasst.“
Der Mensch kann nur Schlüsse ziehen aus den eigenen Erfahrungen, traut den Erfahrungen anderer meistens nicht.
Aber „Geschmack“ ist nur teilweise ererbt, also physiologisch bedingt. Geschmack kann anerzogen oder erworben werden. Wir alle kennen das: Am besten schmeckt das, was die Mama kocht oder gekocht hat. Ein sehr verbreiteter Witz verdeutlicht dies: Eine Frau ist außer sich, weil das Essen verbrannt ist. Sie sucht nach Ausreden, da sagt der Mann, der gerade hereingekommen ist: „Das duftet aber hervorragend, genau wie wenn meine Mutter das Essen zubereitet hätte.“
So fing die Suche nach einer Beilage wieder von vorne an. Endlich entschied sich Rosemarie für Reis und Buchweizen. Für alle, die es nicht wissen, aber doch wissen wollen: Buchweizen hat genauso viel mit Weizen zu tun wie Datteln mit Äpfeln. Buchweizen, Fagopyrum esculentum, ist keine Getreideart, sondern eine Art der Gattung Fagopyrum aus der Familie Polygonaceae, Knöterichgewächse. Weizen, Triticum aestivum, dagegen ist eine Getreideart und gehört zu den Gräsern in die Familie Poaceae.
Namen entstehen oft zufällig und selten nach intelligenter Planung. So bekommen Sachen die kuriosesten Namen. So sind viele Palmen nicht Palmen, viele Beeren keine Beeren, auch viele Bären sind keine Bären. Erdbeeren sind zum Beispiel im botanischen Sinne keine Beeren. Das aber ist eine andere und dazu sehr lange Geschichte! Die, die mich kennen wissen, wovon ich rede, ich habe sie jahrelang mit der Analyse und Kritik von Pflanzennamen gelangweilt. Aber vielleicht sollten sprachempfindliche Personen wie ich einfach nicht analytisch hinhören. Es geht hier um Buchweizen, ein Wort, ein Name, nicht um Weizen mit dem Prädikat „Buch“.
Also, der Tag kam, das Essen wurde serviert. Es wurde gegessen, viel Lob wurde verkündet. Aber das läuft immer so bei Einladungen. Man ist verpflichtet, das zu essen, was man kriegt. Es wird die Kochkunst der Gastgeberin oder des Gastgebers immer gelobt. Immer. Das gebietet die Höflichkeit. Diesmal war es aber wirklich nicht nur Höflichkeit.
Wenn man Leute zum Essen einlädt, muss man auch an Getränke denken. Getränke sind eine sensible Sache, sogar mit einer politischen Dimension. Denn im Grunde genommen hat alles eine politische Dimension. Es hat einmal im österreichischen TV (ich bin treu und patriotisch) eine Show gegeben unter dem Namen „Phettbergs Nette Leit Show“ mit Hermes Phettberg (übrigens ein Künstlername, der mit Absicht auf seine behäbige Erscheinung Rückschlüsse zulässt), also Phettberg als Moderator bzw. Gastgeber.
Phettberg hat Leute aus den verschiedensten „Sparten“ der Gesellschaft zu sich eingeladen und mit ihnen zwanglos geplaudert. Als Erstes hat er den Gästen drei Alternativen zum Trinken angeboten, darunter ein kohlensäurehaltiges Getränk mit Orangengeschmack namens Frucade. Dieses Getränk wurde ursprünglich von einem kleinen Getränkeproduzenten in der Steiermark erzeugt. Eines Tages hatte Phettberg eine Repräsentantin eines Getränke produzierenden Konzerns eingeladen. Er bot ihr Frucade an mit der Bemerkung, es sei eben seine Wahl, weil es von einer kleinen lokalen Firma produziert werde. Die Dame hat ihn dann aufgeklärt, dass ihre Firma, ein internationaler Konzern, die kleine Firma schon lange gekauft habe. Und hier mache ich das, was ich nicht lassen kann: Ich muss meinen Senf in Form einer „politischen“ Aussage dazu geben, also:
Das Problem mit internationalen Konzernen ist, dass sie nur an Profit interessiert sind, das bedeutet, die Kosten soweit senken wie nur möglich. Das bedeutet wiederum, dass sie den größten Wert auf billigste Rohstoffe und den geringsten Wert auf bezahlte Humanarbeit legen. Auf Letztere würden sie am liebsten zur Gänze verzichten. Die Konsequenzen für die betroffenen Arbeiter haben uns doch nicht weiter zu interessieren. Wir sind Gott sei Dank davon nicht betroffen. So denken sicher viele Menschen.
Um Kosten beim Einkauf zu sparen, kaufen die Konzerne die Obstsorten, die zum aktuellen Zeitpunkt am billigsten zu haben sind. Da die Mengen manchmal nicht ausreichen, ist man auf die Idee gekommen, Mischgetränke zu erzeugen. Sie machten aus der Not eine Tugend und fingen an, den Markt mit Modegetränken zu überschwemmen. Um sie schmackhaft zu machen, kam man auf die Idee, diese Getränke mit Fantasienamen, Namen mit Klang wie „Emotion“ oder Namen mit suggestiven Wörtern wie „Multi-“ oder „-Vitamin-“ zu versehen. Besonders hinterlistig, aber umso erfolgreicher ist der Zusatz „ohne Zuckerzusatz“. Ich gestehe, ich falle selber immer wieder darauf hinein. Man ist nicht immer aufmerksam genug, um die Fallen sofort zu entdecken, die einem in den Weg gelegt werden.
Wer immer Apfel mit Kiwi gemischt zum Trinken bekommt, dem wird allmählich weder der Geschmack von Apfel noch Kiwi vertraut sein, eine Entwicklung, die von der Getränkeindustrie erwünscht ist, weil sie dann davon unabhängig ist, welche Früchte gerade zur Verfügung stehen. Die Kinder, die später hoffentlich erwachsen werden, wissen am Ende nicht einmal, dass es ein Obst gegeben hat. Die Getränkeerzeuger können alles, was gerade vorhanden ist, zu einem undefinierbaren Geschmack mischen und die braven dressierten Konsumenten werden alles, was die Werbung anpreist, schon trinken. Hauptsache es steht drauf: Vitamin bla bla bla bla und/oder „Ohne Zuckerzusatz“ bla bla bla bla bla und das Getränk ist wenn nicht billig so doch gerade noch bezahlbar.
Weiß jemand, wie Mangos, Maracuja (Passionsfrucht) oder Papaya schmecken? Diejenigen, die an industrielle Säfte im Tetrapak gewöhnt sind, werden glauben, dass sie alle den gleichen Geschmack haben, denn obwohl das angebotene Gemisch in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit von Früchten variieren kann, bleibt der Geschmack mehr oder weniger gleich.
Die Natur ist out, die Industrie ist in und alles ist modern und cool. Die Übertragung von industriellen Produktionsmethoden in die Landwirtschaft trägt zur allgemeinen Entfremdung von der Natur bei. Die meisten Menschen akzeptieren keine Produkte aus der Natur, wenn sie nicht in einem solchen Ausmaß modifiziert wurden, dass sie gar nichts mehr gemeinsam haben mit dem ursprünglichen Naturprodukt. Niemand isst eine Tomate oder ein Salatblatt heute, ohne sie vorher mit vielen Gewürzen, Ölen und Säuren erstickt zu haben, weil der Agroindustrie es sehr gut gelungen ist, unseren Geschmack zu ihrem Zweck zu beeinflussen. Wenn schließlich niemand eine Ahnung hat, wie Tomaten oder Salat schmecken, dann kann die Agroindustrie Tonnen von idealisierten, ewig frischen, transportfreundlichen, geschmacklosen Pseudo-Gemüsen produzieren. Diese Produkte sind der Gipfel von Symmetrie und Gleichförmigkeit. Die Leute kaufen sie, weil sie soooo guuuuat aussehen. Wir sollten einen geeigneten Namen für dieses virtuelle Gemüse finden. Ich würde „Virtoma“ für die Pseudo-Tomaten und „Virsala“ für den gefälschten Salat vorschlagen. Die Lebensmittelindustrie bietet uns Hunderte von vorgefertigten Dressings, die uns die Illusion von Geschmack und Individualität vorgaukeln. So können wir unsere Virtomas oder Virsalas mit Joghurt-, Balsmico- oder French-Dressing zubereiten oder mit was auch immer. Es schmeckt (im Sinne des Wahrnehmens eines Aromas, nicht im Sinne des Genießens) immer irgendwie anders, aber trotzdem immer vertraut. Der Geschmack ist keine universelle Konstante. Aromen zu erkennen und zu schätzen, ist eine erworbene Fähigkeit, die ausgebildet oder verändert werden kann.
In vielen nicht so technologisch und kulturell entwickelten Ländern sieht man beim Fleischhauer Hälften oder Viertel von Kühen oder Lämmern hängen, woraus der Fleischhauer Stücke herausschneidet. Dort weiß man, was man isst. In Europa weiß niemand, was er isst, weil er Fleischstücke ordentlich, tellergerecht geschnitten und in Plastikfolie vakuumverpackt zu kaufen bekommt. Vielleicht ist es manchmal besser, nicht zu wissen, was man isst. Auch „Meeresfrüchte“ sind oft nur zusammengepresste Fischreste zweifelhafter Herkunft.
Keine Sorge, ein paar Gewürze, Geschmacksverstärker und geh ma, was für ein schmackhaftes Gericht!
Unser Verstand, sonst für neue Ideen verschlossen, wird umso mehr aufmerksam, je stärker Produkte von der mächtigen Werbebranche gepriesen werden.
Indizes steigen an der Börse.
Die Aktionäre werden immer reicher und reicher.
Die Manager bekommen noch höhere Boni als je zuvor.
Die Massen werden immer ärmer.
Aber die Massen sind stumm.
Und womit habe ich begonnen? Mit Paulas Geburtstag und dem Festessen für sie …