Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 7

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I. Wann und Warum. Aller Anfang …

1. Eine Rechtfertigung oder Vom Mineralwasser und Autounfällen

„Warum schreibt der Mensch?“

Diese Frage habe ich mir selber gestellt.

Nun, Rosemarie, meine Frau, und mein langjähriger Freund Hans drängten mich dazu.

„Schreib deine Memoiren“, hörte ich immer wieder, wenn ich etwas aus meiner Kindheit in Sudan erzählte. Ich kam 1962 aus Sudan nach Österreich, um in Graz Medizin zu studieren. Und ich bin im Land geblieben. Ich bin also ein normaler Österreicher aus Graz, nicht bekannt aus Fernsehen und Internet. Warum veröffentliche ich also meine Memoiren?

Wenn ich das Wort Memoiren höre, denke ich sofort an Winston Churchill. Nein, seine berühmten Memoiren habe ich nicht gelesen, aber sein Buch über Sudan „The River War“ (auf Deutsch: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi).

Winston Churchill war einer von vielen, die ihre Memoiren geschrieben haben, aber er hatte schon viel zu erzählen. Er hatte als junger Mann ein bewegtes Leben in Indien und war 1898 als junger Kavallerie-Offizier bei der Wiedereroberung Sudans gegen al-Khalifa Abdulahi al-Taaishi dabei. Dieser war der Nachfolger von Muhammad Ahmad al-Mahdi, der 1885 im sogenannten Mahdi-Aufstand Sudan von Ägypten getrennt hatte, das damals von den Briten beherrscht wurde. Später lenkte er Englands Schicksal über viele Jahre hindurch, im Zweiten Weltkrieg in einer sehr kritischen Phase der Geschichte. Wie alle „großen“ Männer in der Geschichte der Menschheit war er auch für den Tod von Tausenden Menschen wie z.B. bei der Flächenbombardierung deutscher Städte verantwortlich. Wenn die Zahl der Opfer groß genug ist, wenn Tausende von Menschen umkommen, dann ist der Täter kein Verbrecher, sondern ein Held. Er wird dann von vielen Menschen sehr verehrt, Straßen werden nach ihm benannt, Statuen werden errichtet und viele Autoren schreiben zahlreiche gelehrte Bücher über ihn, weil jedes Bläschen heißer Wind, das ihm jemals entwichen ist, von historischer Bedeutung ist.

Bei welchem Aufstand war ich dabei? 1952 beim Militärputsch in Ägypten? Nicht ganz. Als wir von diesem Putsch, später Revolution genannt, hörten, war ich in London mit meinen Eltern. Ich war damals zwölf Jahre alt.

Gemessen an der Zahl der Bücher, die sich mit dem Thema Auto- und -biografie von Afrikanern und Afrikanerinnen beschäftigen, die jedes Jahr in Europa publiziert werden, ist eins mehr oder weniger nicht von Bedeutung.

Außerdem glaube ich erkannt zu haben, was mitteleuropäische Leser und Leserinnen interessieren würde. Besonders spannend finden sie das Schicksal von zierlichen, armen Waisenmädchen, die bei einer einheimischen Familie in Afrika versklavt und misshandelt wurden, oder von denen, die die Beschneidung, die unmenschliche genitale Verstümmlung, die Infibulation, erlitten haben, und sich aus eigener Kraft nach Europa durchschlagen konnten, um sich von freiheits- und vor allem gerechtigkeitsliebenden Europäern retten zu lassen. Erstaunlich, wie viele solche Schicksale es gibt! Aber Afrika ist groß und es gibt sicher noch sehr viele ähnliche Schicksale, die erzählt werden wollen. Mit dieser Aussage will ich nicht diese Schicksale belächeln, ich will nur auf die schadenfreudige oder gönnerhafte Haltung europäischer Leser aufmerksam machen, wenn es um den „Schwarzen Kontinent“ und dessen ebenso schwarze Bewohner geht. Daher will ich mit meinen Memoiren versuchen, das verzerrte Bild Afrikas in Europa ein kleines bisschen ins rechte Licht zu rücken, es besteht dringend Bedarf, finde ich.

Ein Beispiel für das Afrikabild, welches jungen 13-jährigen Schülern in Österreich vermittelt wird: In einem Schulbuch habe ich in einem Kapitel über die Sklaverei einen kurzen Absatz über die Geschichte einer jungen Frau gelesen, die bei einer sudanesischen Familie angeblich wie eine Sklavin gehalten wurde und sich im Jahr 2000 befreien konnte. Ich hätte es fair gefunden, wenn die honorigen Schulbuchautoren dieses Schulbuches auch die Geschichte des österreichischen Knechtes erzählt hätten, über die mehrere Medien inklusive der Grazer „Kleinen Zeitung“ 2008 berichtet haben. Es ist die Geschichte von einem Knecht, der in Österreich von einem Bauern jahrelang als Sklave gehalten wurde. Solche Einzelfälle gibt es wahrscheinlich in jedem Land. In einem Schulbuch ein negatives Bild über ein Land zu vermitteln durch das Erzählen eines Einzelfalls, ist bewusste Verleumdung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sicher sehr hoch gebildeten Herren Schulbuchautoren sich nicht sorgfältig überlegt haben, was sie genau vermitteln wollten.

Stellt euch vor, was wäre, wenn irgendwo in Afrika in einem Schulbuch alles, was über Belgien steht, die Geschichte von Marc Dutroux wäre, der in Belgien bis Mitte der 1990er Jahre Kinder missbrauchte und tötete. Oder über Österreich nur die Geschichte von Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang eingesperrt hielt und mit ihr etliche Kinder zeugte, der 2008 entdeckt wurde.

Von was habe ich mich retten lassen? Für potentielle Retter bin ich unrettbar verloren. Alle Versuche, mich zu retten, würden kläglich versagen. Ich bin rettungsresistent. Ich war nämlich nie versklavt. Ich bin nicht geflohen, ich bin aus freien Stücken nach Europa gekommen, ganz regulär mit dem Flugzeug, und sogar mit Visum, zu einer Zeit, in der die, die nach Europa kamen, Wissen und nicht Rettung (oder Arbeit) suchten. Ja, ja, nicht zu glauben, aber diese Zeiten hat es doch gegeben.

Ich habe weder die Schicksale ganzer Völker beeinflusst wie Winston Churchill noch das Schicksal, versklavt gewesen zu sein. Habe ich trotzdem etwas zu erzählen? Ich weiß es nicht.

Ich denke schon. Denn wäre es nicht auch einmal interessant zu zeigen, dass auf diesem schwarzen Kontinent Afrika, wobei das Wort „schwarz“ sich nicht nur auf die Hautfarbe der Einwohner Afrikas bezieht, sondern auch ein düsteres Bild von Hunger und Krankheit, von Kriegen und Völkermord hervorrufen soll, auch mehr oder minder normale Menschen ein ganz normales Leben gelebt haben und auch noch heute leben.

Auch Afrikaner führen im Allgemeinen ein absolut normales Leben.

Jeder Afrikaner, der in den 1950er und 1960er Jahren nach Europa kam, wurde mit der Vorstellung der Europäer, jede einzelne Person in Afrika leide Hunger und Krankheit, sei ungebildet und lebe in einer mit Schilf bedeckten Hütte aus trockenen Zweigen und sei den ganzen Tag in Gefahr, von wilden Tieren gefressen zu werden, konfrontiert. Eine der ersten Fragen, die ich hörte, als ich 1962 nach Österreich kam, war, wie wir Afrikaner es schafften, mit all den Krokodilen zu leben, die sich um unsere Hütten durch die Dörfer schleichen.

Aber es gibt weitere Gründe, warum ich meine Erinnerungen aufschreiben möchte. Dabei denke ich an meinen Großvater und meine Großmutter. Die Zeit, in der sie lebten, war so anders als unsere, und ich hätte gern aus erster Hand von ihnen gewusst, was sie alles erlebt haben. In den letzten 70 Jahren hat sich sehr viel verändert, etwa durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems, was zum Sieg des Kapitalismus und der Etablierung des American Empire durch die „Shock Doctrine“ führte, wie es Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schock-Strategie, der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ überzeugend darlegt. Pflichtlektüre!

Es gab außerdem gewaltige Fortschritte in der Wissenschaft und in der Technik. Aber auch kulturell gab es gewaltige Entwicklungen, in den letzten 20 oder 30 Jahren besonders in den Medien mit dem Aufbau des Internets und der Digitalisierung des Wissens. Heutzutage braucht man nicht herumzureisen auf der Suche nach Wissen. Überall auf der Welt steht uns das gesamte Wissen der Menschheit durch einen Mausklick zur Verfügung. Damals musste man zur Uni gehen. Es gab zwar eine Uni in der Hauptstadt Khartum, die ich sogar besucht habe, aber ich wollte auch viel über Musik wissen, wozu ich in Sudan keine Gelegenheit hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre haben eine sehr weitreichende Bedeutung für unser Leben. Es gibt allerhand Erfindungen, die uns die Arbeit wesentlich erleichtern, von Waschmaschine, Rasenmäher und Mixer bis zu Navigator und Flugzeug. Die modernen Kommunikationsmittel, Internet und Mobiltelefon, sowie das Flugzeug haben viel dazu beigetragen, unser Leben bedeutend zu verlängern, nicht nur, wenn es um Unfälle geht, sondern auch in dem Sinn, dass der Umfang unserer Erlebnismöglichkeiten ins Unendliche ausgedehnt wurde. Ich kann heute die ganze Welt mehrmals in meinem Leben bereisen. Die vielen Reisen, die Mozart zum Beispiel in seinem kurzen Leben unternommen hat, kann ich heute dank Eisenbahn und Flugzeug innerhalb eines Jahres absolvieren. Und apropos Mozart, der Zugang zur Musik über die verschiedenen Musikplattformen im Internet macht es möglich, Millionen von Kompositionen anzuhören. Menschen in früheren Zeiten hätten mehrere Jahrhunderte leben müssen, um sie alle zur Aufführung, zu Gehör zu bringen. Ein Lebensjahr in unserer Zeit bietet mehr Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten als zehn Jahre vor gerade einmal einhundert Jahren. Umso bedauerlicher ist es, dass viele Menschen unter uns keine Gelegenheit haben, von diesen unglaublichen Möglichkeiten zu profitieren.

Und viele weigern sich sogar teilzuhaben. Denn dieser grenzenlose Fortschritt hat manche in einen Schockzustand versetzt, sie verweigern nicht nur die Teilnahme am Fortschritt, sondern sie erleiden auch eine retrograde Entwicklung hin zu vergangenen, längst überholten und überwunden geglaubten abergläubischen Gedanken und Philosophien, und das sowohl politisch als auch wissenschaftlich. So erleben wir die Wiedergeburt von kleinkarierten nationalistischen Fantasien bzw. pubertären Feuchtträumen einerseits und andererseits die Weigerung, wissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen, wie die Evolution zum Beispiel, und den Rückfall in kreationistischen Aberglauben (die Kreationisten sind die, die glauben, dass die Erde erst vor rund sechstausend Jahren erschaffen wurde).

Manche – gleich Regenwürmern oder Maulwürfen – trauen sich nicht aus ihren unterirdischen Wohnröhren heraus. Und das wundert mich sehr, sind die Europäer doch in die ganze Welt hinausgeschwärmt mit dem Anspruch, den „Wilden“ in den primitiven, unzivilisierten Kontinenten die Zivilisation beizubringen!

Aber ich schweife ab, denn, wie gesagt, ich hätte gern mehr über meine Großeltern erfahren. Leider zu spät, beide sind gestorben, meine Eltern sind auch gestorben und ich finde mich in einer Situation, in der immer wieder Fragen über ihr Leben auftauchen, die ich nicht beantworten kann. Die Geschichten von Adoptivkindern, die ihre leiblichen Eltern suchen, sind ein Thema, das auffallend oft in deutschsprachigen TV-Filmen behandelt wird. Es entsteht der Eindruck, deutsche Väter wollten nichts zu tun haben mit ihren Kindern, und sie versteckten sich sehr sorgfältig, sobald sie von der Schwangerschaft erfahren. Es scheint so, dass Menschen doch ein Bedürfnis haben, Genaueres über ihren Ursprung zu wissen. Meine Eltern habe ich gekannt, aber ich hätte sehr gern mehr über meine Großeltern gewusst. Dieses Bedürfnis ist mit dem Alter stärker geworden.

Es gibt Details von vielleicht trivialer kulturhistorischer Bedeutung, die wahrscheinlich mit meinem Tod total in Vergessenheit geraten werden, z.B., dass meine Mutter, Wadia Abdalla geborene Sobhy Labib Mury, die erste nicht europäische Frau war, die in Sudan einen Führerschein bekam und auch lange Jahre Auto gefahren ist. Sie ist auf dem folgenden Bild zu sehen.


Meine Mutter an der Kurbel

Oder dass mein Vater, Dr. Habib Abdalla, der erste sudanesische Facharzt für Röntgenologie war und lange Jahre alles, was mit Radiologie im sudanesischen Gesundheitsministerium zu entscheiden war, entschieden hat. Er hatte auch die erste private Fachklinik für Röntgenologie in Sudan eröffnet.


Die Tafel an der Ordination meines Vaters

Die Abkürzungen auf Vaters Ordinationstafel (siehe Bild) bedeuten: DKSM: Diploma of Kitchener School of Medicine; DMRD: Diploma in Medical Radio Diagnosis und RCP&S: Royal College of Physicians and Surgeons. Das bedeutet, dass er an der Kitchener (der Name eines britischen Gouverneurs) Medizinischen Hochschule in Khartum ein Diplom für Allgemeine Medizin erwarb, das auch vom königlichen Institut der Ärzte und Chirurgen in London anerkannt wurde. Das Radiologie-Diplom DMRD erwarb er in London.

Es gibt vieles andere, das vielleicht auch interessant wäre, ein Beispiel: Mein Onkel Labib war der erste Facharzt für Kinderkrankheiten in Sudan, seine Cousine und Frau Suad Nassif war die erste Führerin der sudanesischen Girl Guides (Pfadfinderinnen). Und Onkel Adib, auch Arzt, war mehrere Jahre Mitglied des Gemeinderats von Khartum.

Ich will also schreiben. Habe ich die Fähigkeit dazu? Ich habe die Kunst des Schreibens nicht gelernt, darf ich dennoch schreiben?

Abgesehen von den obligaten Schulaufsätzen war Briefeschreiben an Tante Safiya für mich die erste Erfahrung mit dem Schreiben. Tante Safiya habe ich jahrelang regelmäßig Briefe geschrieben, aber davon später. Noch dazu begann ich als Jugendlicher mit diversen Mädchen zu korrespondieren, deren Adressen ich in einem osteuropäischen Jugendmagazin fand. Es war ein Magazin aus der DDR, in dem sich Inserate von jungen Leuten befanden, die Brieffreunde suchten. Ich knüpfte in englischer Sprache Brieffreundschaften mit einem Mädchen aus Ungarn mit dem typisch ungarischen Namen Ildiko, mit einer Isländerin mit der typisch weiblichen Familiennamensendung „- dottir“, mit einer Amerikanerin in Denver und mit Patricia, einer Engländerin in Newcastle-upon-Tyne. Es gab natürlich auch Buben, die Brieffreundschaften suchten. Mich haben sie nicht im Geringsten interessiert. Mein Bedarf an männlichen Kameraden war im wirklichen Leben in Khartum ausreichend gedeckt. Die Korrespondenz mit der Ungarin und der Isländerin dauerte vielleicht zwei Jahre, mit der Engländerin und Amerikanerin bis ich Anfang 1962 nach Europa kam.

Neben diesen Briefen schrieb ich sehr unregelmäßig an einem Tagebuch. Ich habe noch nicht danach gesucht, und ich bezweifle, dass es noch existiert. Als ich 1962 nach Europa kam, habe ich am Anfang oft an meine Eltern und sehr oft an meinen Schul- und Jugendfreund Khalid geschrieben und wohl auch hie und da an mein Brüderlein Saad und an andere Freunde. Am Anfang schrieb ich oft und lange Briefe, die mit der Zeit immer kürzer und seltener wurden, bis sie zum Schluss … und der Rest ist Schweigen.

In den 1968er Jahren verfasste ich einige Flugblätter mit satirisch-politischem Inhalt, die vom Verband sozialistischer Studenten in Österreich (VSSTÖ) (anonym) gedruckt und an Studenten an der Grazer Uni verteilt wurden.

Im Jahre 2008 schrieb ich ein Büchlein von 140 DIN-A5-Seiten, allerdings sehr reichlich bebildert, mit dem Titel „Veilchennuss und Palmenbohne“. Es ging dabei unter anderem um Pflanzennamen. Von diesem nicht sehr ernst gemeinten Heftchen ließ ich 50 Exemplare drucken und verteilte sie an Freunde und Verwandte und an die damaligen Kollegen im Blumenhandel, für die ich den Text überhaupt erst geschrieben hatte.

Eine umfangreiche Schreiberfahrung!

Ach ja, hätte ich fast vergessen! Ich schrieb auch eine Dissertation mit dem ehrfurchtgebietenden Titel „Im Sudan vorkommende Grewia-Arten und verwandte Taxa“.

Ich muss hier gleich am Anfang etwas klarstellen. Ich beabsichtige, im Zuge meiner Erzählung meine Meinung über alles Mögliche kundzutun. Ich finde es ist sehr wichtig, dass jeder, nicht nur ich, eine klare Meinung über alles hat. Ich will nämlich nicht bloß ein Curriculum Vitae schreiben. Ich will keine Biografie im Stile von Hedwig Courths-Mahler oder Rosamunde Pilcher schreiben, womit ich nicht im Traum Kritik am Stil dieser zwei berühmten Schriftstellerinnen üben, sondern nur feststellen will: So wie sie ihren Stil hatten, habe ich den meinen, und das, obwohl ich niemals so berühmt werden werde wie die beiden Damen.

Ich kann großen Spaß daran finden, Kritik manchmal sehr bissig und provokant zu formulieren, das sagt mir Rosemarie immer wieder. Dabei kann sich der eine oder andere Leser oder die Leserin persönlich angesprochen fühlen. Das ist auch durchaus meine Absicht, ich will jeden persönlich ansprechen. Man kann keine eigene prononcierte oder auch provokante Meinung äußern, ohne anderen auf die Zehen zu treten. Nur eine Absicht, irgendjemanden zu beleidigen, liegt mir sehr fern. Es liegt mir auch fern, das persönliche Verhalten oder die Präferenzen von Individuen zu kritisieren. Wenn ich etwas kritisiere, will ich damit auf ökonomische, soziale und politische Missstände, die ich meine erkannt zu haben, aufmerksam machen, und nicht Individuen anklagen oder gar verurteilen. Es geht mir immer nur um die Sache, nicht um Personen, außer wenn es sich um Personen handelt, die öffentliche Positionen bekleiden.

Als Zweites möchte ich auch betonen, dass ich keinen Anspruch auf Originalität erhebe. Alle Gedanken, die ich hier niederschreibe, sind vielleicht schon einmal von anderen ähnlich gedacht oder formuliert worden. Ich denke nämlich, dass viele Personen gleiche oder ähnliche Ideen und Gedanken haben können, ohne voneinander etwas gehört zu haben. Das haben wir alle erlebt: Man liest oder hört etwas und denkt sich: „Genau das habe ich auch gedacht.“ Das ist, glaube ich, kein Grund für die Enteignung von Gedanken, sie bleiben trotzdem für jeden seine eigenen Gedanken! Wie ich schon sagte, Personen an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten können gleiche Gedanken entwickeln, ohne voneinander etwas zu wissen. Dabei ist sogar diese Aussage nicht originell, wie ich bei der Recherche in einem anderen Zusammenhang entdeckte. So steht im Vorwort zu Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“: „Ja, was ich hier geschrieben habe, macht im Einzelnen überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“, (zitiert aus „Sprachphilosophie“ von Elisabeth Leiss). Das mache ich auch, ich verzichte weitgehend auf Zitate.

Und noch etwas, ich gebe gerne zu, dass ich oft emotionell und nicht nur mit Verstand argumentieren möchte. Das hier ist keine wissenschaftliche Arbeit, das sind meine subjektiven Erinnerungen und Meinungen, samt den dazugehörigen unvermeidbaren Unzulänglichkeiten.

Und die Verantwortung? Die Verantwortung für meine hier niedergeschriebenen Formulierungen, die gebe ich nicht her, die bleibt bei mir allein.

Egal, ob sprechend oder schreibend, ich kann meinen Mund nicht aufmachen, ohne meinen politischen Senf zum angesprochenen Thema dazuzugeben. Auch in dem oben erwähnten Heftchen habe ich Politisches zum Besten gegeben, die Senfportion war ziemlich ausgiebig.

Denn für mich hat meine bloße Existenz eine politische Bedeutung und auch die scheinbar bedeutungsloseste Handlung hat immer einen politischen Bezug und politische Konsequenzen. Was heißt überhaupt „politisch“? „Politik bezeichnet die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen. Sehr allgemein kann jegliche Einflussnahme, Gestaltung und Durchsetzung von Forderungen und Zielen in privaten oder öffentlichen Bereichen als Politik bezeichnet werden.“ Diese Definition steht bei Wikipedia unter dem Stichwort Politik (abgerufen am 13. März 2020).

Ich finde, sie trifft meine Vorstellungen ziemlich genau. Indem ich zum Beispiel irgendein Produkt kaufe, beeinflusse ich die Einkaufsentscheidungen des Geschäftsbetreibers, und somit beeinflusse ich auch das, was die anderen Kunden angeboten bekommen.

Nehmen wir als Beispiel den Kauf einer Flasche Mineralwasser. Der normale Mensch geht zum Kaufhaus, nimmt eine Marke, die durch die Werbung in seinem Gedächtnis eingeprägt wurde, oder eine andere, weil die Farbe oder Gestaltung des Etikettes so ansprechend ist oder weil es ihm einfach besser schmeckt, und denkt sich gar nichts dabei. Ich dagegen will zuerst wissen, woher das Wasser kommt und welche Firma es abgefüllt hat. Grundsätzlich entscheide ich mich für lokale Erzeugnisse, je kleiner die Erzeugerfirma, desto lieber, je kürzer der Transportweg, umso besser. Es ist gut und gescheit, die lokale Ökonomie zu unterstützen und die Umwelt zu schonen. Es ist nicht immer leicht, die Information, die man dazu braucht, aus den Etiketten der Produkte herauszulesen, es ist manchmal sogar sehr beschwerlich.

Wenn wir in die Stadt mit dem Auto fahren, müssen wir bei jeder Kreuzung sehr aufmerksam in alle Richtungen schauen, wir müssen auf die Verkehrsschilder, die Ampeln, die Fußgänger, die gerade die Straße überqueren wollen, achten. Das kann auch sehr beschwerlich sein und wir tun es trotzdem, weil wir die Konsequenz aus einer Unachtsamkeit kennen und fürchten – einen Autounfall.

Nur weil die Konsequenzen, die sich aus unseren Einkäufen ergeben, sich nicht so drastisch und dramatisch vor unseren Augen abspielen wie ein Autounfall, bedeutet es nicht, dass sie nicht genauso dramatisch und drastisch ausfallen können. Es geht um Menschen, um Arbeiter, oft in entfernten Ländern, um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, es geht um Firmen, die sich nicht davor scheuen, ganze Landstriche zu verwüsten oder gar Menschen zu töten, um an ihre Rohstoffe heranzukommen. Es geht um die Umweltbelastung, um die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung von Millionen von Menschen in entfernten Ländern, wovon wir hier nicht die geringste Ahnung haben. Vielleicht fällt es uns leichter, uns die Mühe zu geben, uns über die Produkte, die wir kaufen, besser zu informieren, wenn wir wissen, worum es geht.

Wenn ich Haselnüsse, Walnüsse oder Pistazien kaufe, achte ich darauf, dass sie aus Italien, der Türkei oder dem Iran stammen und nicht aus dem weit entfernten Kalifornien. Desgleichen bei Milchprodukten, der österreichische Markt ist überschwemmt mit Milchprodukten aus Deutschland. Ich würde nie in Graz ein Joghurt aus der Produktion einer über eintausend Kilometer entfernten Hamburger Firma kaufen, nur weil dieses um ein paar Cent billiger ist als ein einheimisches. Den Unterschied im Preis werden wir trotzdem auf Umwegen bezahlen müssen, in Form von Arbeitsplatzvernichtung zum Beispiel, weil die kleine lokale Molkerei zusperren muss, oder weil für die Sanierung der entstandenen Umweltschäden Abgaben eingehoben werden müssen.

Ich versuche immer, Konzerne, die sogenannten Global Player, zu meiden. Nestlé, Unilever, Danone, Coca Cola, um nur ein paar zu nennen, sind für mich absolut tabu. Ich würde lieber stundenlang Durst leiden, als Coca Cola zu kaufen. Wir alle sollten uns mehr um den Ursprung unserer Nahrung kümmern. Wir sollten uns gut informieren über die Produkte der international agierenden Firmen und über ihre Machenschaften, bevor wir ihnen unser Geld in ihren unersättlichen Rachen stopfen. Übrigens, auch bei Medikamenten passe ich auf. Es gibt immer einheimische Pharmafirmen, die gleiche oder ähnliche Medikamentengenerika produzieren.

Ich betone, wir alle sollten wissen, wie zerstörerisch, gewissenlos, ausbeuterisch manche Firmen sein können, und die, die es noch nicht wissen, sollten sich bitte schleunigst informieren. Diese Firmen wollen nicht nur den Markt beherrschen, sondern auch die Politik, und sie tun es schon lang und nutzen ihre Macht, nur um ihre Profite zu maximieren. Sie geben viel Geld aus, um Regierungen zu beeinflussen. Die Außenpolitik, aber nicht nur diese, von Ländern wie den USA oder Großbritannien steht oft indirekt oder sogar direkt unter dem Einfluss von international agierenden Konzernen. Auch wenn es um die Umwelt geht, sind sie gewissenlos zerstörerisch, allein dadurch, dass sie ihre Produkte über die Kontinente hin und herschieben, verursachen sie große Umweltschäden. Aber nicht nur das, nehmen wir die Firma Nestlé zum Beispiel, die mit ihrer Erfindung von Kapsel-Kaffee eine riesige Menge von unnötigem und schwer zu beseitigendem Abfall verursacht. Die Kapseln sind eine komplizierte Konstruktion aus vier verschiedenen Materialien, die nicht mehr oder nur sehr schwer voneinander zu trennen sind.

Und die Menschen sind leider so faul und bequem und so blind, dass sie drauf hereinfallen und diese absolut überflüssigen Produkte kaufen. Dadurch begeben wir uns einerseits in eine Abhängigkeit, in der uns ein überhöhter Preis für einen Artikel des täglichen Konsums diktiert wird, und andererseits schränken wir unseren Geschmack auf industrielle normierte Geschmacksrichtungen ein, und das sogar noch freiwillig. Wir sollten uns schämen.

In meinen Augen sollte diese Erfindung als Verbrechen gegen die Umwelt eingestuft und per Gesetz sofort verboten werden. Diese Erfindung ist genauso schädlich für die Gesellschaft wie der Krebs für das Individuum.

Wir können uns nicht ständig über den desolaten Zustand der Dinge in der Welt beklagen, ohne zu versuchen, herauszufinden, was die Ursachen sind, und ohne zu versuchen, herauszufinden, was wir dazu beitragen können, um dies zu ändern. Es ist sehr naiv zu glauben, dass wir nur alle vier, fünf oder sechs Jahre zu den Urnen gehen müssen und die richtige Person oder Partei wählen. Die richtige Partei oder Person, die gibt es nicht. Es gibt für uns, das Volk, nicht die richtige Person oder Partei, weil Regierungen dazu da sind, die Interessen des Kapitals, der Großfinanz und der Industrie einschließlich der Rüstungsindustrie zu schützen. Ich bin erstaunt, wie die Mehrheit der Bürger sich dieser Tatsache nicht bewusst zu sein scheint.

Kennt ihr die Geschichte nicht? Arbeiter mussten immer für die einfachsten Rechte bitter kämpfen, gegen wen? Die Arbeitgeber? Nein, diese saßen immer ganz ruhig und entspannt in ihren luxuriösen Büros und Häusern. Es war die Polizei, die Macht des Staates, die die Arbeiteraufstände niederschlug und so die Interessen der Besitzenden wahrte. Das war immer Tatsache in der Vergangenheit und ist Tatsache auch heute.

Erinnert ihr euch, was alle Regierungen im Jahr 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, die durch Bankmanager verursacht wurde, taten? Einige glauben, dass die Krise durch unverantwortliche oder unfähige Manager verursacht wurde, ich sage, sie wussten genau, was sie taten, um ihre Gewinne zu maximieren. Das sehen wir jetzt, Jahre später. Die Gewinne sind in nie dagewesene Höhen gestiegen.

Was haben die Regierungen im Jahr 2008 getan?

Sie haben die Banken gerettet.

Und wer musste die Rechnung bezahlen?

Die Steuerzahler.

Und wer zahlt die Steuern?

Nicht diejenigen, die das Geld haben.

Ich bitte euch inständigst, bitte überlegt euch immer, welche politischen Konsequenzen eure Handlungen haben können, und bitte glaubt es mir, so lange wir zusammen in einer Gesellschaft leben, gibt es keine einzige Handlung, die keinen politischen Bezug hat. Erstens ist es spannend, die Zusammenhänge herauszufinden, zweitens könnte dadurch jeder in seinem kleinen, sehr persönlichen Umfeld ganz ohne Mühe doch einen, wenn auch ganz kleinen Beitrag zu einer Änderung, einer Verbesserung der Umstände unseres Lebens und der Gesellschaft leisten.

Aber jetzt wieder zurück zu mir und meiner Geschichte. Im Sommer 2009 sind Rosemarie und ich mit Heidi und ihrem Mann Hans spazieren gegangen. Es war ein schöner lauer Sommertag, ein Tag, an dem alles so friedlich ist, die Gefühlsseligkeit Oberhand nimmt und man sich mit der ganzen schönen Natur rundherum vereint und verschmolzen fühlt, mit den Glockenblumen, dem Hahnenfuß, den Farnen und Moosen, die den Weg durch den Wald säumen, mit den in der leichten Brise schwankenden Fichten. Ein paradiesischer Zustand, Himmel auf Erden. An so einem Tag fühlt man sich auch besonders nah bei seinen Freunden, besonders, wenn man sie schon so viele Jahre kennt und so viel Schönes miteinander erlebt hat wie Rosemarie und ich mit Heidi und Hans. Wir haben wie immer über dies und das geplaudert und uns gegenseitig von unserer Kindheit erzählt. Und dann fragte mich Hans wieder einmal, warum ich meine Erinnerungen nicht aufschreibe.

Ich gebe zu, die Frage hatte ich mir schon selber gestellt. Manchmal verspürte ich eine Lust zum Schreiben, weil ich, je älter ich wurde, immer öfters an meine Kindheit und Jugend dachte, und ich irgendwie eine Ordnung in den Wirrwarr von Erinnerungsbruchstücken, die da auftauchten, bringen wollte.

Jetzt gab mir Hans einen Anstoß und eine zufällige Begegnung einige Wochen später einen weiteren Schubser.

Das kam so: Hannes spielt Tuba und Stefan spielt Saxophon. Das sind Karins Söhne, sie ist Rosemaries Nichte. Eines Tages im Sommer des Jahres 2010 luden sie mich und Rosemarie zu einem Konzert im Rahmen der Schule ein. Am Ende des Konzerts gab es zum Trinken und Kekse. Hannes’ Klassenlehrerin fragte Karin bei dieser Gelegenheit, wer der Inder, der dort stehe, sei. Karin klärte sie auf und stellte mich vor. Wir sprachen eine Weile über dies und das und plötzlich fragte mich Frau Jarz, so hieß Hannes’ Lehrerin, ob ich nicht ihrer Klasse über Sudan etwas erzählen möchte. Die Idee gefiel mir auf Anhieb und ich sagte zu. Frau Jarz sagte, ich könne mir Zeit nehmen, so lange ich wolle. Diese Begegnung muss im März 2010 stattgefunden haben.

Ich überlegte sehr lange, machte Notizen und entschloss mich, über Sudan nicht das zu erzählen, was jeder im Internet nachlesen kann. Ich entschied mich, meine persönlichen Erfahrungen aus der Sicht eines 13-Jährigen (so alt waren meine Zuhörer) zu erzählen. Ich schrieb und las den Vortrag vor.

Es war dies ein Anfang und ich fand Gefallen daran. Ich dachte mir, Begabung hin, Begabung her, Erfahrung hin, Erfahrung her, ich werde einfach weiterschreiben. Wie ich schon sagte, ich dachte, es gäbe sehr viel Sozial- und Kulturgeschichtliches aus der Zeit zwischen circa 1945 und Anfang der 1960er Jahre, das unter Umständen von allgemeinem Interesse wäre, worüber meines Wissens keine Dokumentation existiert. Das wäre aber dann nicht nur ein Vortrag für sechzehn dreizehnjährige Schüler.

Auf der anderen Seite ärgert es mich, dass ich viele Details von der Familiengeschichte, die mir mein Vater erzählte, nicht mehr in Erinnerung habe. Und es gab Erinnerungsbruchstücke, die sortiert werden mussten. Es könnte einmal der Tag kommen, an dem die jüngere Generation in meiner Familie sich Gedanken über ihre Vorfahren machen könnte, wie ich es jetzt tat. Irgendwer könnte sich für meine Erinnerungen interessieren. Ja, sicher, es wird noch sehr viel Zeit vergehen, bis sie damit anfangen, aber dann bin ich nicht mehr da. Eine meiner Nichten, Sally? Dina? Kate? Becky? Vielleicht Jasper, Sallys Sohn, oder Sidney, Kates Sohn?

Wer weiß, vielleicht interessieren sich Rosemaries Großneffen Hannes, Stefan, Massimo oder Felipe dafür. Für die Geschichte der Nachkommen einer Bauernfamilie aus Nazlital-Nakhl, einem kleinen Dorf am Westufer des Nils, südlich der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz al-Minya in Ägypten, deren Urenkel Jasper in Exeter in England landete. Aber die Urenkel von meinen Vorfahren Abdalla Mansour, Sobhy Labib, Nassif Mansour und Rosa Mansour sind nicht nur in Exeter in England zu finden, sondern auch in Australien, Kanada, den USA, Deutschland, in Sudan und in Ägypten. In Österreich ist ein Enkel gelandet, das bin ich, aber es sind keine Urenkel da.

Und noch ein Grund, der meinen Wunsch zu schreiben verstärkte, ist, wie die europäischen Medien und Politiker mit dem Thema Naher Osten oder überhaupt mit dem Ausland und mit den Ausländern, die in Europa leben, umgehen. Ich habe mich lange darüber geärgert und wollte unbedingt einmal meine Meinung dazu äußern. Und dann tauchte der wahnwitzige Gedanke auf: Was ist, wenn das Buch tatsächlich publiziert werden würde? Vielleicht müsste ich Interviews im TV geben. Die Vorstellung, Interviews geben zu müssen, erschreckt mich. Interviews finden statt immer mit einem bestimmten Ziel im Auge, selten aber ist dieses Ziel, irgendeine Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Das Ziel eines Interviews ist fast immer, eine vorgefasste Meinung zu beweisen. Entweder will man den Interviewten bloßstellen oder man will ihn in den Himmel loben. Dann denke ich: Hey hey, bleib am Boden, du hast erst ein Dutzend Seiten geschrieben.

Auf der Suche nach einer überzeugenden Rechtfertigung stieß ich auf noch eine Begründung, warum ich schreiben sollte. Oft habe ich den Eindruck, dass ich für meine engsten Mitmenschen ein Fremder bin, sie wissen überhaupt nichts von mir. Aber vielleicht wollen sie auch nichts wissen. Dann werden sie meine Geschichte auch nicht lesen. Will ich mich also rechtfertigen? Für was denn?

Irgendwann fängt man an, von sich selbst ein Bild zu malen. Ein Bild von dem, was man sein will. Immer wieder kommt man darauf, dass es nicht einfach ist, diesem Bild zu entsprechen. Entweder versagt man und es gelingt nicht aus eigener Kraft oder besser gesagt aus Schwäche, dem Entwurf zu entsprechen, oder man wird von anderen zum Versagen verholfen, mit oder ohne Absicht.

Es kommt auch vor, dass einem von anderen ein Bild aufgezwungen wird oder man in eine Rolle gedrängt wird, der man gern entsprechen möchte, die einen aber komplett überfordert. Meistens sind die Eltern oder Geschwister da die treibende Kraft. Oft sind es Lehrer, Verwandte oder Freunde, die auch fleißig am Basteln eines Bilds für mich sind. Schreiben könnte hier auch eine therapeutische Funktion erfüllen, eine Hilfe, sich selbst ins rechte Licht zu rücken.

Ich beschloss, ich werde schreiben, ob jemand das liest oder nicht, soll nicht meine Sorge sein. Es ist für mich selber wichtig zu schreiben, das regt die Erinnerung an, ich fange an, mich an längst vergessene Begebenheiten zu erinnern. Die Bruchstücke fangen an, sich zu einem Gesamtbild zu ordnen.

Aber noch etwas zum Selbstbildnis. Das Bild, das man von sich selbst hat, ob selbst oder fremd verschuldet, beeinflusst, was man denkt und was man tut. Es ist der Charakter, der zutage kommt. Mein Charakter, mein Selbstbildnis hat sich nicht nur aus dem, was ich selbst erlebt habe und aus den Konsequenzen, die ich daraus gezogen habe, gebildet, sondern auch unter dem Einfluss des Bildes, das andere über mich und über die Welt gemalt und mir vermittelt haben, also im schlimmsten Fall eine fatale Kombination von Selbstbetrug und Fremdbeeinflussung. Um nicht in diese Falle zu geraten, müsste jeder Heranwachsende lernen, sich selbst zu beobachten, sich von sich selbst sozusagen zu trennen und sich von außen zu betrachten, zu analysieren. Wenn das nicht geschieht, entwickelt man sich zu einem unempfindsamen, selbstzentrierten, eingebildeten, selbstgerechten, überheblichen Individuum. Man hält sich in sich selbst gefangen, besonders dann, wenn alles, was man erlebt hat, das war, was man in einer Disco erlebte. Mit „erleben“ meine ich, am Leben teilnehmen, nicht, die Zeit mit billigen Vergnügungen totzuschlagen, was in bestimmten Entwicklungsphasen eine, wenn auch eine begrenzte Berechtigung hat.

Wer nur mit sich selbst beschäftigt ist, kann keine Empathie empfinden. Ich glaube aber, dass Empathie wesentlich für die Reifung eines Menschen ist. Die moderne Gehirnforschung hat uns gezeigt, dass wir in unserem Gehirn Neuronen haben, die die Gefühle anderer Menschen in uns widerspiegeln, die Spiegelneuronen. Aber wie bei allen anderen Organen erbt der Mensch die Materie mit einer bestimmten Fähigkeit, ob diese Fähigkeit zum Tragen kommt oder nicht, hängt von anderen Parametern ab. Ob wir Empathie empfinden können, hängt davon ab, ob wir diese Fähigkeit aktiv entwickelt und trainiert haben, wie wir alle anderen Fähigkeiten entwickeln und trainieren müssen. Empathie kann man nur empfinden, wenn man tatsächlich das fühlen kann, was andere fühlen, wenn man sich in die anderen hineinversetzen, wenn man sich mit anderen identifizieren kann. Das kann man nur dann tun, wenn man das Gleiche erlebt hat oder wenn man gelernt hat, Gefühle nachzuempfinden. Vielleicht ist das der Grund, warum Schauspieler wie einst Audrey Hepburn, Danny Kaye und heute Angelina Jolie und viele, viele andere sich für andere Menschen einsetzen. Vielleicht tun sie das, weil sie durch ihren Beruf gelernt haben, ihre Spiegelneuronen willentlich zu aktivieren, um das zu fühlen, was andere in bestimmten Situationen fühlen. Natürlich gab es auch solche Schauspieler, die Präsidenten oder Gouverneure wurden, aber die haben auch nur die „Helden“ gespielt, sie waren immer Sieger. Ein Sieger hat kein Mitgefühl. Ein Sieger kennt nur Triumph. Triumph führt nicht zu Empathie, da werden die Spiegelneuronen außer Betrieb gesetzt.

Besonders in den letzten Jahren, seit Anfang 2016, seitdem so gefühllos und gemein gegen „Asylanten“ in Europa gehetzt wird, beschäftigt mich die Frage, warum manche Menschen Mitgefühl mit Leidenden haben und warum andere überhaupt mit niemandem Mitgefühl haben. Es gibt viele andere Gründe, aber wer sich als Underdog versteht, als ewig Benachteiligter, ob tatsächlich benachteiligt oder nur eingebildet, denke ich, neigt nicht zur Empathie, eher zu Neid und Missgunst. Empathie entsteht, wie schon gesagt, wenn man ganz genau das fühlen kann, was andere in einer bestimmten Situation fühlen, und führt zu ganz anderen Reaktionen als bei Menschen, die keine Empathie empfinden. Menschen sind entweder empathisch, was sehr sympathisch ist, oder sie sind selbstgerecht. Der Selbstgerechte bildet sich ein, es sei allein sein Verdienst, dass er gerade in diesem Land geboren wurde, daher gebühre ihm ein bevorzugter Status. Die Unfähigkeit, Fremde als Mitmenschen zu erkennen, spielt hier eine bedeutende Rolle. Es ist ein Element der Verachtung, ein unterschwelliges rassistisches Gefühl der Überlegenheit.

Die Selbstanalyse ist also sehr wichtig, um herauszufinden, ob das Bild, das ich von mir selbst in meiner Fantasie gemalt habe, tatsächlich mit meiner Wirklichkeit übereinstimmt. Aus welchen Motiven handle ich? Sind es wirklich die Motive, die ich mir selber einrede, die ich vorgebe, oder sind es in Wirklichkeit ganz andere? Was will ich wirklich erreichen mit dem, was ich sage oder mache? Jeder müsste so früh wie möglich in seinem Leben lernen, sich selbst solche Fragen zu stellen, sich selbst zu analysieren. Man muss es durch das ganze Leben hindurch immer wieder tun, wenn man mit sich und mit seinen Mitmenschen ehrlich sein will.

Normalerweise ist man das ganze Leben so beschäftigt mit dem Alltag, dass man selten zum Reflektieren kommt. Und plötzlich ist alles vorbei, ist alles so schnell gegangen. Plötzlich ist man in der Pension, im sogenannten Ruhestand. Und man fragt sich, was ist überhaupt geschehen? Warum bin ich jetzt hier, und was tu ich da? Wollte ich dahin kommen, wo ich jetzt bin oder habe ich mich verirrt? Ich weiß, dass ich sehr viele Fehler gemacht habe, habe ich irgendwo Schaden angerichtet? Habe ich andere verletzt, ihnen Kummer bereitet? Habe ich jemals etwas Gutes getan? Habe ich etwas gelernt? Und was? Eine Art Selbstanalyse oder Beichte? Sicher etwas von beidem.

Ich muss anfangen, mich rückblickend als Fremder zu beobachten und zu beurteilen. Dies hat nichts mehr mit einer Fortsetzung des Vortrags für Hannes’ Klasse zu tun. Da muss ich neu anfangen.

Aber wo anfangen?

Der endgültige Anstoß zum Schreiben kam dann im Juni 2012.

Der 2. Juni 2012 wäre der hundertste Geburtstag meines Vaters Habib gewesen. Meine jüngere Schwester Huda, die in unserem Elternhaus in Khartum lebt, aber mit ihrem Mann George Gillespie mindestens einmal im Jahr für einige Wochen nach London kommt, wo ihre Tochter Dina lebt und wo sie eine schöne Wohnung in East London hat, regte an, des Geburtstages zu gedenken. Daher kam unser jüngster Bruder Saad, der in Cookham lebt, einem kleinen, sehr pittoresken Dorf an der Themse circa 40 Kilometer westlich von London und nördlich von Windsor, auf eine originelle und wunderbare Idee. Er mietete ein Ausflugsboot in Windsor und lud die ganze Familie und einige enge Familienfreunde zu einer Fahrt auf der Themse ein. Der Ausflug war ein großer Erfolg, alle waren hoch begeistert. Das Wetter war schön und die Themse macht eine Schleife rund um Windsor Castle, sodass wir diese historische Burg von verschiedenen Seiten zu sehen bekamen, aber auch einen Blick auf die britische Countryside werfen konnten. Wir hatten alles an Bord, gutes Essen und genug zum Trinken, alles inklusive vom Bootsbetreiber arrangiert. Es herrschte gute Laune und wir schwelgten in Erinnerungen.

Nach dem Ausflug hatte Saad uns zu sich ins Quarry House in Cookham eingeladen, gerade circa dreißig Meilen weit von Windsor entfernt. Es war sehr schön, mit allen zusammen in Saads heller, geräumiger, wunderschöner Esszimmer-Küche zu sitzen. Zu diesem Anlass hatte ich eine Gedenkrede vorbereitet. Ich las nur einen Teil davon vor, denn meine Emotionen, die den ganzen Tag durch die Ereignisse ziemlich aufgewühlt waren, brachen durch, ich brach in Tränen aus und konnte meinen Aufsatz nicht zu Ende lesen. Das Schreiben dieses Aufsatzes hatte das Gefühl verstärkt, schreiben zu müssen. Das war der endgültige Anstoß.

Eines Tages, es war im Februar 2012, hatte es viel geschneit. Der Schnee musste weggeschaufelt werden. Und Rosemarie wollte den sechzigsten Geburtstag ihrer Schwester Paula bei uns in Fernitz in der Nähe von Graz feiern.

Nachdem wir den Schnee geschaufelt hatten, war ich am PC gesessen und fing an, das zu erzählen, was gerade passierte.

Und so fing es an.

Von Kopftüchern und Scheuklappen

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