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II. Migranten einst – Die Geschichte meiner Familie

Die Geschichte von Kain und Abel steht im Alten Testament – genau wie das 1. und 2. Buch der Chronik Bücher des Alten Testaments sind. Ich folge somit einer uralten semitischen Tradition und präsentiere nun meine „Chronik“, die Geschichte meiner Familie. Allerdings mit einer wesentlichen Abweichung: Sämtliche weibliche Nachkommen werden geflissentlich und gewissenhaft genannt und stellen einen integren Teil dieser „Chronik“ dar, anders als in den oben erwähnten Büchern. Dort sind die Generationen der Menschheit seit Adam aufgezählt. Eva, die Frau, wird dabei nicht erwähnt, ist sie doch nur eine Rippe Adams gewesen! Adam der Mann! Eva nur eine Rippe. Bloß nur eine Rippe!

Diese Mansour-Sobhy-„Chronik“ ist leider eine sehr lückenhafte Darstellung der Genealogie der Familien Mansour und Sobhy, meiner Urgroßväter väterlicher- und mütterlicherseits. Der Grund für diese Lückenhaftigkeit ist einfach: Die, die mir mehr darüber hätten erzählen können, sind alle gestorben.

Lassen Sie mich mit einer Begriffsklärung beginnen: Der Duden definiert das Wort „Emigrant“ knapp als „Auswanderer“ und „Immigrant“ nur als „Einwanderer.“ Nach allgemeiner Ansicht versteht man unter „Emigrant“ eine Person, die ihr eigenes Land verlässt, um sich dauerhaft in ein anderes zu begeben, und unter „Immigrant“ versteht man eine Person, die dauerhaft in ein fremdes Land kommt, um dort zu leben.

Und das, nämlich „abwandern“ ist es, was meine Vorfahren getan haben, und zwar auf Anregung der damals in Sudan herrschenden britischen Kolonialmacht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten die Briten dessen Verwaltung neu aufbauen und organisieren. Im Jahr 1881 war der al-Mahdi-Aufstand ausgebrochen und hatte die türkisch-ägyptische Herrschaft über Sudan beendet. Um Sudan zurückzuerobern, schickten die Briten eine Armee, ich nehme an, es waren ägyptische Soldaten unter dem Befehl von britischen Offizieren. So geriet Sudan wieder unter fremde Herrschaft, diesmal eine vermeintlich anglo-ägyptische. Denn auch Ägypten hatten die Briten 1882 besetzt und obwohl offiziell bis 1914 eine Provinz des Osmanischen Reiches, regierten dort de facto die Briten, die Ägypten 1914 auch zum britischen Protektorat erklärten.

Tatsächlich regierte in Sudan schon vorher der britische Generalgouverneur mit der Unterstützung mehrerer Direktoren verschiedener Behörden, „Departments“ genannt. Die ägyptische Verwaltung in Sudan beschränkte sich auf eine Behörde für Wasserangelegenheiten, die sich „Irrigation Service“ nannte und dem „Egyptian Government Economic Expert“ untergeordnet war. Die Behörde unterhielt drei Standorte: die Schiffswerften in „Gordons Tree“, ein Ort am Weißen Nil einige Kilometer südlich von Khartum, den Gabal-Aulia-Damm, welcher in den 1930er Jahren am Weißen Nil circa vierzig Kilometer südlich von Khartum gebaut wurde, um das Wasser des Weißen Nils in der Regenzeit zu stauen, um in der trockenen Jahreszeit genug Wasser für die landwirtschaftliche Bewässerung zu haben. Der dritte Standort befand sich in Südsudan in Malakal.

Die Wirtschaft, die ausschließlich auf Handel beruhte, vor allem dem Sklavenhandel, lag in den Händen von türkischen und ägyptischen Händlern. Aber es gab auch etliche jüdische, griechische und einige andere Händler aus den Mittelmeerländern.

Und warum erzähle ich das alles? Nur um zu erklären, dass Sudan vor der Unabhängigkeit im Jahre 1956 ein Kondominium war, das heißt, zumindest nominell unter der gemeinsamen Verwaltung Ägyptens und Englands stand. Da es nur wenige sudanesische Staatsangehörige gab, die für die Pflichten eines Staatsdieners ausgebildet waren, rekrutierte die anglo-ägyptische Verwaltung die untere und mittlere Beamtenschaft in Ägypten. Es waren ausschließlich Kopten, also Christen. Kopten sind die Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung Ägyptens, die Nachkommen der Pharaonen sozusagen, die sich nicht mit den arabischen Invasoren, die im 7. Jahrhundert Ägypten eroberten, vermischt hatten. Sie waren vor der Invasion Christen und blieben es auch nach der Invasion. Die koptisch-orthodoxe Kirche ist die älteste organisierte christliche Kirche, gegründet vom Apostel Markus, dem ersten Bischof von Alexandrien.

Um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes anzukurbeln, musste die anglo-ägyptische Verwaltung Kaufleute und Fachleute dazu ermutigen, in Sudan „einzuwandern“. Diese quasi „Gast“-Unternehmer kamen meistens aus den Mittelmeerländern bzw. waren Minderheiten aus diesen Ländern (Griechen, Juden, Armenier etc.), die sich in anderen Ländern des Nahen Ostens niedergelassen hatten. Wahrscheinlich hatten viele dieser Migranten nicht von Anfang an die Absicht, sich in Sudan niederzulassen, aber viele von ihnen waren sehr erfo lgreich und blieben am Ende doch in Sudan und nahmen die sudanesische Staatsbürgerschaft an.

Jahre später, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, geschah etwas Ähnliches in Europa, vor allem in Österreich und Deutschland, wo es notwendig war, die im Krieg verlorenen Arbeitskräfte für den Wiederaufbau der am Boden zerstörten Industrie zu ersetzen. Es wurden dann „Gast“-Arbeiter aus den Mittelmeerländern, vor allem aus Jugoslawien und der Türkei, rekrutiert. Auch in diesem Fall wurden viele Migranten zu Immigranten, was zu den heutigen „Problemen“ mit der Integration etc. etc. führte.

Aber jetzt zur Chronik. Fangen wir mit Abdalla Mansour, meinem Großvater väterlicherseits an. Seine Familie stammt aus Nazlit al-Nakhl in Ägypten. Ich habe überhaupt keine Informationen über seinen Vater Mansour, aber ich habe ein Foto von Mansours Frau, Abdallas Mutter und somit meiner Urgroßmutter Martha.


Martha, Abdalla Mansours Mutter, meine Urgroßmutter


Abdalla Mansour, mein Großvater väterlicherseits, circa um 1935– 1938

Mein Vater (also Marthas Enkel) war ein Mann des Wissens. Er interessierte sich sehr für Wissenschaft und Technologie, aber auch für Landwirtschaft und Natur, insbesondere für Pflanzen. Er war damals unsere lebende Wikipedia. Einige dachten, er sei ein strenger, ernsthafter, humorloser Mann, weil er sich nie auf Klatsch einließ und nie über die billigen abfälligen Witze über Frauen lachte, die die Runde machten. Er hatte einen sehr guten Sinn für Humor. Oh ja, er lachte viel und herzlich, wenn die Witze bedeutungsvoll und für niemanden anstößig waren. Wenn er sprach, hatte er etwas zu sagen, etwas Bedeutendes. Ich halte die Illusion aufrecht, dass ich diese Eigenschaften von ihm geerbt habe.


Mein Vater Habib in den 1950er Jahren

Er beantwortete meine Fragen nach Großvater Abdalla gern und ausführlich, sodass vieles von dem, was ich hier erzähle, von ihm stammt. Ich hatte Gelegenheit, viele Fragen zu stellen, als ich 13 oder 14 Jahre alt war. Es war im Sommer, in dem Mutter mit meinen Geschwistern auf Besuch zu ihren Eltern, meinen Großeltern Sobhy und Galila in al-Giza, nach Ägypten fuhr und ich und Vater allein in Khartum blieben. Da begleitete ich ihn, wo immer er hinfuhr. Im Auto hatte ich meine Chance und konnte viele Themen ansprechen. Nur zweimal hat er meine Fragen nicht zu meiner Zufriedenheit beantwortet. Als ich ihn über Liebe und Sexualität fragte, meinte er, ich sei zu jung, um mich mit derlei Sachen zu beschäftigen, ich solle mich lieber auf meine Bücher konzentrieren. Auf meine Fragen über Religion und Glauben meinte er ganz kurz: „Menschen haben verschiedene Religionen, jeder glaubt an das, was die Eltern glauben.“ Punkt. Mehr wollte er nicht dazu sagen. Vielleicht habe ich deshalb so viel über Glauben nachgedacht.

Alles, was ich hier über meine Vorfahren erzähle ist das, woran ich mich noch erinnern kann aus den Erzählungen meines Vaters. Ich habe versucht, von anderen Familienmitgliedern weitere Informationen zu bekommen, leider war niemand in der Lage oder bereit, mir irgendetwas zu erzählen. Mit einer Ausnahme: Ich muss mich hier bei meiner Tante Saniya herzlich bedanken für die vielen ergänzenden Informationen, die sie mir hat zukommen lassen. Aber trotzdem, es wird viel Wissen über die Familie verloren gehen. Ich bin sicher, dass niemand sonst sich die Mühe machen wird, irgendetwas über die Familie niederzuschreiben.

Nach Auskunft meines Vaters hatte unsere Familie im Dorf den Namen Abu Zummara bekommen, weil viele Familienmitglieder sehr musikalisch gewesen sein dürften. Zummara ist ein allgemeiner Begriff für Blasinstrumente, wird aber auch sehr oft spezifisch für die Nay verwendet, ein Instrument ähnlich einer Flöte aus einer bestimmten Art Schilfrohr, welches am Land sehr weit verbreitet ist. Abu Zummara übersetzt bedeutet: Vater der Flöte! Das bedeutet eigentlich: der Flötenspieler.

In der arabischen Sprache wird ein Attribut einem Subjekt durch eine Verwandtschaftsbeziehung zugewiesen, und zwar einer väterlichen oder einer mütterlichen, je nachdem, ob Trägerin oder Träger der Eigenschaft eine Frau oder ein Mann ist. So wird die Trägerin eines roten Kleides zur Mutter des roten Kleides, der Träger eines grauen Anzugs zum Vater des grauen Anzugs. Der Flötenspieler ist also der Vater der Flöte.

Wirft diese grammatische Konstruktion vielleicht ein Licht auf die unterschiedliche und jeweils eigentümliche Denkweise, die jeder Sprache innewohnt? Liegt vielleicht der Ursprung aller Missverständnisse zwischen orientalischen Immigranten und mitteleuropäischen Eingeborenen in ihrem unterschiedlichen Verständnis der Dinge, die ihren verschiedenen Sprachen entspringen? Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell haben nachgewiesen, dass sowohl unser Bild als auch unser Verständnis der Welt von der Sprache, die wir sprechen, bestimmt und eingegrenzt wird.

Zurück zu meiner Familie. Was unseren Familiennamen betrifft, so haftet in meiner Erinnerung eine Reihenfolge von Namen, über deren Bedeutung ich nicht sicher bin: Abdalla Mansour Abdalla Mansour Stefanous Mangarious Abu Zummara. Die Reihe beinhaltet die Namen meines Großvaters Abdalla Mansour und seiner Vorfahren, die bis zur fünften Generation zurückgehen. Es sind die Vornamen der jeweiligen Väter in einer Reihe, wobei der jüngste am Anfang steht und entsprechend der älteste am Ende der Reihe. Anders ausgedrückt: Abdalla der Sohn von Mansour, der Sohn von Abdalla, der Sohn von Mansour, der Sohn von Stefanous, der Sohn von Mangarious aus der Familie Abu Zummara. Ganz einfach, oder? Kurios ist, dass Stefanous und Mangarious irgendwie griechisch klingen. Hatten wir auch Griechen unter unseren Vorfahren? Niemand konnte mir eine Erklärung dafür geben. Griechen hat es immer gegeben in Ägypten, sogar seit Urzeiten bei den Pharaonen in den Städten an der Mittelmeerküste. Aber in einem kleinen Dorf im Landesinneren? Die Sache sieht anders aus, wenn man weiß, dass die griechische Sprache Einfluss auf die koptische Liturgie hatte. Daher glaube ich, dass diese griechisch klingenden Namen darauf zurückzuführen sind.

Mein Großvater Abdalla Mansour kam als Dolmetscher mit der anglo-ägyptischen Besatzungsarmee aus Ägypten nach Sudan, es muss vor 1906 gewesen sein.

Abdalla hatte zwei Brüder, Nassif Mansour und Abdel Massih Mansour, und eine Schwester, Rosa Mansour. Irgendwann kamen alle nach Sudan. Abdalla Mansour war mit einer Dame mit ehrfurchtgebietendem Namen verheiratet: Salomah Girgis. Sie stammte aus Nazlit abu-Hinnis in der al-Minya-Provinz in Ägypten. Salomah ist Arabisch für Salome, ehrfurchtgebietend, weil Salome, die Stieftochter von Herodes, den Kopf von Johannes dem Täufer verlangte und auch bekam. Zusammen hatten sie sechs Kinder: Nagib, Adib, Victoria, meinen Vater Habib, Rosa und Labib. Großmutter Salomah habe ich noch als vier- oder fünfjähriges Kind in Wad Madani, der Stadt im Osten Sudans, in der wir einige Jahren lebten, gesehen.

Die erste Frau von Vaters Onkel Nassif Mansour starb sehr früh und hinterließ zwei Töchter: Suad und Alice. Alice, die jüngere, starb im Alter von circa dreizehn Jahren. Dann heiratete Nassif Victoria Sous und hatte mit ihr sieben Söhne: Ramsis, Kamal, Samuel, Mansour, Adel, Fuad und Mamdouh.

Der andere Bruder meines Großvaters, Abdel Massih, heiratete Insaf aus Nazlit al-Nakhl, sie hatten drei Töchter: Zakiya, Saadiya und Wadia. Er und seine Frau starben früh, seine Tochter Wadia kam zu ihrem Onkel Nassif und wuchs in seiner Familie auf. Über ihre Schwestern Zakiya und Saadiya habe ich leider keine Informationen. Vermutlich sind sie nach Ägypten zurückgekehrt, haben dort geheiratet und ihre Enkelkinder, meine Cousins und Cousinen dritten Grades, laufen dort herum und wir wissen nichts voneinander. Schade.

Vaters Tante Rosa Mansour heiratete Michael Yacoub und hatte fünf Kinder, drei Töchter: Angel, Isis und Widad, und zwei Söhne: Joseph und Nabil. Sie kamen erst 1952 nach Sudan, blieben aber nicht lange, schon 1956 kehrten sie nach Ägypten zurück. Nach dem Tod Großvater Abdallas und seines Bruders Abdel Massih übernahm Nagib, der älteste Sohn Abdallas, die Verantwortung für seine Geschwister.


Hintere Reihe von links: unbekannt, Adib, Habib. Sitzend: unbekannt, Victoria Abdalla, unbekannt, Badia, Martha, Salomah, Nagib. Vorne: Suad, Victoria Sous, Nassif, Rosa und zwischen Victoria und Nassif sitzt Labib.

Abdalla Mansour ist nach einigen Jahren aus dem Armeedienst ausgetreten und gründete ein Handelsunternehmen in Dongola. Die Stadt liegt im Norden Sudans am linken Ufer des Nils. Er war erfolgreich, weswegen ihm Dongola wahrscheinlich zu klein wurde. Er übersiedelte nach Khartum Nord, am nördlichen Ufer des Blauen Nils, an dessen Südufer die Hauptstadt Khartum liegt und wo am Westufer des nun Weißen Nils die Stadt Omdurman liegt. Klingt kompliziert? Die Lösung: Khartum liegt an der Stelle, wo der Weiße und der Blaue Nil aufeinandertreffen. Der Name Khartum bedeutet „Elefantenrüssel“ in Anspielung auf das Bild, das (mit viel Fantasie) durch die Vereinigung der beiden Flüsse entsteht.

Abdalla hatte in Khartum Nord einen noch größeren Erfolg als in Dongola. Man sagt, dass er in Khartum Nord nach und nach viele Immobilien erwarb und es zu einem beträchtlichen Reichtum brachte. Nach seinem frühen Tod im Jahre 1918, er wurde nur 38 Jahre alt, übernahm sein Bruder Abdel Massih die Geschäfte. Der allerdings verlor das ganze Vermögen und ist bald darauf gestorben.

Abdallas jüngerer Bruder (also Vaters Onkel) Nassif Mansour absolvierte das Studium des Bewässerungsingenieurs am „Gordon College“ in Khartum. Später arbeitete er für die ägyptischen Bewässerungsbehörden, die auch in Sudan Büros unterhielten. Er war lange Zeit in Wad Madani tätig und hat sehr viel zur Entwicklung des Gezira-Projekts, einem großen Bewässerungsprojekt, das die landwirtschaftliche Produktivität in der Gezira-Ebene südlich von Khartum erhöhen sollte, beigetragen.


Von links, letzte Reihe: Adib, Nagib, Nassif, Habib; zweite Reihe: Ramsis, Badia, Rosa, Labib, Abdalla; dritte Reihe: Soraya, Saniya, Victoria, Salomah, Suad und Samir, Nasr und Wadia, Layla; am Boden sitzend: Minerva, Mansour, Samuel, Makram und Kamal

Nun komme ich zur Familie meiner Mutter. Mein Großvater mütterlicherseits, Sobhy Labib Mury (geb. 1886 in Rieda, Ägypten, gest. 1970 in Khartum) ist im Jahre 1918 nach Sudan gekommen und im April 1932 nach Ägypten zurückgekehrt. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten und wurde in Frühpension geschickt. Sobhy und seine Familie sind daraufhin nach al-Minia zurückgekehrt, wo sie vierzehn Jahre geblieben sind. Danach zogen sie nach al-Giza in die al-Rabea-al Gizy-Straße. Sobhy Labib hatte wie Abdalla Mansour zwei Brüder, Nagib, ein Bewässerungsingenieur, und Sami, Beruf unbekannt, und eine Schwester Tafida. Meine Großmutter Galila, Sobhys Frau, hatte neun Halbgeschwister, vier Brüder: Zaki, die Zwillinge Amin und Abdalla und Ramzy und die Schwestern Naiema, Alexendra, Fulla (Violet), Suad und Bousaina.

Übrigens, mein Onkel Wadie erzählte mir einmal, dass Großvater fand, dass sein Name Sobhy Mury zu einfach sei, jeder könne so heißen. Er dachte drei Namen klängen viel besser, so hat er den Namen „Labib“ einfach dazugehängt. Sobhy Labib Mury klingt doch edel, oder?

Um 1931 haben sowohl Großvater Sobhy Labib als auch Vaters Bruder Onkel Nagib Abdalla in Wad Madani im Amt für Landregistrierung gearbeitet. Nagib war schon für dieses Amt seit den 1920er Jahren in al-Damer tätig, Sobhy war der Leiter in Wad Madani. Sie wohnten in gegenüberstehenden Häusern, die Familien waren befreundet und besuchten sich sehr oft. Sobhy Labib hatte zwei Töchter, Wadia, meine Mutter, und Saniya, die damals beide die Church-Missionary-Society-Schule in Wad Madani besuchten. So lernten sich die Familien meiner Eltern also kennen.

Nebenbei: Die Missionare der „Church Missionary Society“, ein Zusammenschluss protestantischer Kirchen, kamen 1899 nach Nordsudan, ein Jahr nach der anglo-ägyptischen Rückeroberung des Landes. Ihr Ziel war es, Muslime dazu zu bringen, zum Christentum zu konvertieren trotz des Missionierungsverbots der Kolonialregierung. Sie umgingen diese Einschränkung, indem sie Schulen und Kliniken eröffneten, womit sie ihren Glauben auf Umwegen zu verbreiten versuchten. Wegen der Regierungsbeschränkungen und der lokalen Opposition der Bevölkerung gegen ihre Evangelisierung gelang es ihnen, während der 60 Jahre ihrer Tätigkeit nur einen einzigen Muslim zum Konvertieren zu bringen, soweit ich weiß.

Jedoch boten die Missionare wertvolle medizinische Behandlung und Bildung in städtischen Zentren und in den Nuba-Bergen an und leisteten außerdem Pionierarbeit bei der Mädchenausbildung. Doch nur wenige der sudanesischen Schulabsolventen erreichten eine funktionale Alphabetisierung in Arabisch, da die Missionare ein „latinisiertes Arabisch“ lehrten, eine Form der arabischen Umgangssprache, aber geschrieben mit lateinischen Buchstaben. Die Möglichkeit einer praktischen Anwendung gab es nicht.


Von links: meine Tanten Saniya und Insaf, mein Onkel Wadie, dahinter Tante Safya und rechts meine Mutter Wadia (1931)

Das Foto hat 1931 auf der Rückseite vermerkt und die Bodenfliesen sind typisch für die Häuser, die in Sudan vom Staat den Beamten zur Verfügung gestellt wurden. Höchstwahrscheinlich wurde das Bild also in Wad Madani geschossen. Eines Tages, es muss etwa um diese Zeit gewesen sein, haben Onkel Adib (damals 19 Jahre alt) und mein Vater Habib (17) Sobhys Töchter Wadia (neun) und Saniya (sieben) zu einer Fahrradfahrt eingeladen. Bei dieser Gelegenheit schenkte Habib der Wadia und Adib der Saniya einen Ring. Sieben Jahre später, am 30. März 1938, haben sie geheiratet. Es war eine Doppelhochzeit. Wadia war 16, Saniya 14. Kinderehe, würde man heutzutage sagen. Sie heirateten aus Liebe, ganz ohne Zwang, wie meine Mutter Wadia mir versichert hat. Als Sobhy Labib Mury 1932 nach Ägypten zurückkehrte, gingen alle Familienmitglieder mit. Wadia und Saniya heirateten also in Ägypten und kamen dann mit ihren Ehemännern nach Sudan zurück.


Links hinten: Insaf, Wadia, Saniya; vorne von links: Safiya, Galila, Layla, Sobhy und Wadie

Mutters Geschwister, Tante Insaf, Onkel Wadie, die Tanten Safiya und Layla blieben vorerst alle in Ägypten. Insaf wurde Pädagogin, heiratete einen Pädagogen, Ibrahim Elmasry, und wurde Schulleiterin. Sie hat vier Kinder zur Welt gebracht: Emad, Essam, Eman und Ihab. Alle leben in Kairo, sind verheiratet und haben selbst Kinder.

Onkel Wadie studierte Medizin und heiratete Odette Nosseir, genannt Tuta, auch Ärztin. Ihre Kinder sind Khaled und Eglal. Wadie und Odette arbeiteten lange Jahre in Nigeria. Khaled wurde Ingenieur und Eglal Architektin.

Tante Safiya kam 1959 zurück nach Sudan und heiratete Khufu (Chufu) Dimitri. Sie hatte drei Kinder: Alaa, Hussam und Nadia.

Was hat meine Vorfahren veranlasst, Ägypten zu verlassen? Warum sind sie gerade nach Sudan gekommen? Waren sie damals einfach nur die Gastarbeiter für die Kolonialherren? War es eine Flucht, weil sie keine Zukunft in ihrer Heimat sahen oder hatte nur der Zufall Regie geführt? Ich vermute Letzteres, weil einige von ihnen doch relativ bald nach Ägypten zurückkehrten: Sobhy Labib und Michael Yacoub und Fahim Fahmy, der Mann von Tante Victoria, und Hilmy Sourial mit seiner Familie, seiner Frau Angel, Vaters Cousine, und den Kindern Magdy und Muna. Abdalla, Sobhy und Fahim waren Beamte in der angloägyptischen Verwaltung. Die Engländer befahlen und die Ägypter machten die Arbeit. Mein Großvater Abdalla Mansour hätte auch wie Mutters Vater Sobhy Labib, der wegen einer Krankheit seine Dienstjahre nicht absolvieren konnte, nach Ägypten zurückkehren können. Er tat es nicht, er erkannte seine Chance in Sudan und ergriff sie.

Wenn wir ganz allgemein in die Vergangenheit zurückblicken, sehen wir, dass die Geschichte der Menschheit auch die Geschichte ständiger Bewegung von Menschen ist, sowohl als einzelne als auch in Familien oder sogar Stammesverbänden. Wenn wir nur die Zeit seit dem zwölften Jahrhundert betrachten, erfahren wir, dass ganze Stämme von der Arabischen Halbinsel nach Sudan ausgewandert sind. Die letzten waren 1846 die Rashaida.

Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, wie diese Menschen in ihrer ursprünglichen Heimat gelebt haben und welche Schwierigkeiten sie dazu bewogen haben könnten, ihr Land geschlossen zu verlassen. Sind alle zusammen gesessen und haben das demokratisch beraten und beschlossen oder hat der Stammeshäuptling einfach ein Machtwort gesprochen? Haben sie überhaupt eine Vorstellung davon gehabt, was sie in der Fremde erwartet? Haben sie Vorposten geschickt, um das Land, in das sie immigrieren wollten, zu erkunden?

Im 20. Jahrhundert dagegen begann die Immigration in die andere Richtung. Hunderte und Tausende von Arbeitsuchenden sind aus Sudan als Gastarbeiter auf die Arabische Halbinsel zurückgekehrt, diesmal ohne Hoffnung auf ein Heimatrecht. In diesem Fall ist der Hauptgrund für die Bewegungen klar, es war eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Zur Zeit meiner Großväter war es die Strategie der Besatzungsmacht, die Immigration zu fördern, um die Lücke der in Sudan fehlenden Mittelklasse zu schließen. Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts wenige im westlichen Sinne Gebildete und keine Mittelschicht in Sudan. Die Einwanderer waren nicht nur Kopten aus Ägypten, sondern auch Libanesen, Griechen, Zyprioten, Italiener, Armenier, Juden, Inder und ein paar andere Minderheiten. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die meisten dieser „Migranten“ keine Immigranten im engeren Sinne des Wortes waren. Sie waren ermuntert worden, nach Sudan zu kommen, um zu arbeiten oder Geschäfte zu öffnen. Einige von ihnen kehrten irgendwann in ihre ursprünglichen Heimatländer zurück, der Großteil beschloss, in Sudan zu bleiben und die sudanesische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Noch heute, nachdem die meisten von ihnen mehr oder weniger gezwungen wurden, das Land zu verlassen, als Diktator Dschafar an-Numeiri 1983 seine Scharia-Gesetze durchgesetzt hatte, fühlen sie immer noch eine gewisse Verbundenheit mit Sudan.

Die Wahrnehmung der Immigranten war damals durch die Einheimischen eine sehr freundliche, zumindest eine neutrale. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts ging es der sudanesischen Bevölkerung relativ gut. Es herrschten Frieden und Ordnung nach der Umwälzung um den Mahdi-Aufstand und ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung war mit der Anwesenheit der vielen Fremden verbunden. Sie brachten Arbeit und – wenn auch nur einen bescheidenen –, aber doch Wohlstand für einen Teil der einheimischen Bevölkerung. Gewiss, es gab immer Menschen, die die Fremden als Eindringlinge empfanden und die gegen die Besatzungsmächte agierten, aber es gab keine gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Dazu gehörte Mahmud Muhammad Taha. Er war einer der mutigsten Gegner der Besatzung, von Beruf war er Wasserbauingenieur wie Onkel Nassif. Wegen seiner antikolonialen Tätigkeiten wurde er Mitte der 1940er Jahre zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, danach lebte er drei Jahre zurückgezogen und widmete sich der Religion. Dann verkündete er, dass Gott ihm eine Botschaft zur Erneuerung des Islam offenbart habe. Es war eine sehr offene liberale Interpretation des Korans, die er die „Zweite Botschaft des Islam“ nannte. Er vertrat die Meinung, dass die Koranverse, die zur Gewalt gegen Andersgläubige und zur Diskriminierung von Frauen aufforderten, ihre Gültigkeit verloren hatten, da sie zur früheren Zeit nur als Schutz der neu gegründeten Religion gedient hatten. Zu seiner Zeit hätten sie keine Gültigkeit mehr. Er trat für die Gleichberechtigung aller Menschen und für eine zivile Gesellschaft in einem sozialistischen Staat auf. Er gründete 1945 eine Partei, die „Republikanischen Brüder“ (und Republikanischen Schwestern, ergänze ich). Er wurde mehrmals zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt und schließlich von Präsident Numeiri wegen seiner entschiedenen Ablehnung der Einführung der Scharia-Gesetze zum Tode verurteilt und am 18. Januar 1985 hingerichtet.

So wie al-Mahdi eine der ersten islamistischen Bewegungen in neuerer Zeit anstiftete, waren Tahas Interpretationen des Islam sowohl die ersten Aufklärungsbemühungen in Sachen Religion als auch eine der ersten Oppositionsbewegungen gegen den Staat. Das Schicksal Mahmud Muhammad Tahas zeigt, wie Menschen, die sich um Aufklärung und um soziale Gerechtigkeit bemühen, hoffnungslos im Nachteil sind. Sie sind friedlich, aber ihre Gegner sind skrupellos gewalttätig. Fortschritt oder sogar nur der Ruf danach wird oft mit dem Leben bezahlt.

Die Besatzer, die Engländer, beanspruchten zur Zeit meiner Großväter für sich natürlich die höchsten Ämter in der Verwaltung und im privaten Sektor übernahmen sie die Banken und die großen Handelsunternehmen wie Barclays Bank, Mitchell Cotts und Sudan Mercantile.

Die Kopten, die aus Ägypten kamen, waren mit Abstand die größte Gemeinde unter den Immigranten, waren als Beamte und Angestellte besonders gut vertreten bei den mittleren bis gehobenen Tätigkeiten. Es waren darunter Ärzte und Rechtsanwälte, aber auch Unternehmer, die besonders im Import-Export-Geschäft zwischen Sudan und Ägypten erfolgreich waren.

Das sieht man auch an meiner Familie. Unter den Ärzten waren viele von Mansours Nachkommen zu finden, so Abdalla Mansours Söhne Adib, Habib und Labib, Nassif Mansours Sohn Mansour Nassif Mansour, Rosa Mansours Sohn Josef Yacoub und später Nagib Abdalla Mansours Tochter Soraya. Das geht bis zur jüngsten Generation, den Enkeln Nassif Mansours, Nassif (Hani) Samuel Nassif und Yassir Fuoad Nassif.

Rechtsanwalt und Notar waren mein Cousin Abdalla Nagib Abdalla Mansour und später noch mein Cousin Nabil Adib Abdalla Mansour. Nabil verdient besondere Erwähnung, weil er einer der wenigen aus der Familie ist, der nicht nur in Sudan geblieben ist, sondern dem es auch sehr gut gelungen ist, Hochachtung und Einfluss zu erlangen. Er ist als Anwalt auch in Menschenrechtsangelegenheiten sehr engagiert, lehrt an der Uni und schreibt regelmäßig in verschiedenen Tageszeitungen aufklärerische Artikel über Menschenrechte und Verfassungsrecht. Er ist so beliebt und geachtet, dass er von den Machthabern einfach in Ruhe gelassen wird. Nach dem Volksaufstand vom Dezember 2018 hat er sogar für die Regierung am Entwurf für die Übergangsverfassung mitgearbeitet.

Apotheker waren oder sind: Shafiq und William Loga, Brüder von Badia Loga, Nagibs Frau, später Vaters Cousin Fouad Nassif Mansour und dessen jüngster Bruder Mamdoh und meine Cousine Nagla Nagib Abdalla.

Ingenieure gibt es auch, darunter Vaters Cousins Ramsis Nassif Mansour und Nabil Yacoub.

Zu den Händlern, die vor allem Import-Export-Geschäfte zwischen Sudan und Ägypten betrieben, zählen: Hilmy Sourial (zur Erinnerung: Vaters Cousine, Angels Mann) und Koroulus Wissa (Kopte, allerdings keine Verwandtschaft), der auch eine Fabrik für die Herstellung von Eis in Blöcken hatte. Hilmy Sourial und Koroulus Wissa waren nicht nur Geschäftspartner, ihre beiden Familien waren auch sehr eng befreundet, und als sie nach Ägypten zurückkehrten, haben sie sogar Nachbarwohnungen bezogen.

Lustig ist: Onkel, wir nannten Ältere auch Onkel, wenn sie keine echten waren, Onkel Koroulus also kannte ich in Khartum, aber seinen Sohn Joseph lernte ich erst in Graz kennen. Wir sind gute Freunde geworden. Diese Freundschaft hat auch eine ganz besondere Bedeutung für mich. Joseph lud mich zu seiner Hochzeit ein. Er hat 1966 in Graz geheiratet und bei der Zeremonie hat eine Freundin seiner Frau Franziska gesungen, natürlich „Ave Maria“ von Bach/Gounod. Die Stimme hat die ganze Kirche erfüllt, es war für mich die schönste Stimme, die ich bis dahin gehört hatte. Nachher bei den Feierlichkeiten habe ich die begnadete Sängerin kennengelernt. So traf ich Rosemarie, die Liebe meines Lebens.

Aber zurück zu meiner Familie: Eine Frau unter Abdalla Mansours Enkeln verdient besondere Erwähnung: Suad Labib (geb. Suad Nassif) war eine sozial sehr engagierte Frau. Sie war schon 1951 Mitglied der Pfadfinder in Port Sudan. Später wurde sie die erste Inspektorin der sudanesischen Girl Guides (Pfadfinderinnen), 1959 wurde sie deren Präsidentin und hatte diese Position bis 1969 inne.


Suad Labib, Präsidentin der Girl Guides, mit Lady Olave Baden-Powell, Witwe von Robert Baden-Powell, Mitbegründerin und Chefin der Girl Guides in England

Suad Labib war Mitglied des Sozialhilfevereins in Port Sudan und der sudanesischen Frauenunion. Sie gründete1957 in Khartum Nord ein Sozial-Beratungszentrum in Zusammenarbeit mit dem Magistrat der Stadt und dem Gesundheitsministerium. Sie war sehr viele Jahre Leiterin des „Beit-al-atfal“, einem Waisenhaus, das von der Amerikanischen Mission in Khartum Nord unterstützt wurde. Sie war eine energiegeladene und sehr selbstbewusste Frau.

Es ist sehr wichtig, daran zu erinnern, dass Frauenbildung zu jener Zeit ziemlich begrenzt war. Umso bemerkenswerter ist es, dass die weiblichen Mitglieder meiner Familie zu den ersten gehörten, die eine Hochschulbildung bekommen konnten. Bereits in den 1950er Jahren studierte meine Cousine Soraya Nagib Abdalla Medizin, meine Schwester Rida später „Social Anthropology“ an den Universitäten Khartum und Oxford. Sie war mehrere Jahre Dozentin für Anthropologie an der Universität in Khartum. Huda, meine jüngere Schwester, war erst fünfzehn Jahre alt, als sie zum Studium an der Khartumer Universität zugelassen wurde. Nach Beendigung ihres Philosophiestudiums übernahm sie verantwortungsvolle Positionen in einer großen internationalen Firma und führte später jahrelang mit Unterstützung ihres Mannes Yousif Gillespie ein eigenes, sehr erfolgreiches Reisebüro in Khartum, das sie noch immer führt. Sorayas Schwester Nagla studierte Pharmazie und leitete ihre eigene Apotheke in Kairo und später in den USA.

Was die anderen Einwanderern betrifft, so übte jede Nationalität aus einem für mich sehr geheimnisvollen Grund eine spezifische Tätigkeit aus oder besetzte eine typische Sparte. So waren die Inder fast ausschließlich Stoffhändler, wie könnte es anders sein, sie hatten ja die besten Verbindungen zu den Hauptbezugsquellen in Indien. Die Italiener sorgten für das leibliche Wohl: Getränkeerzeugung, Bäckereien, Konditoreien, Hotels, Lebensmittelhandel, wie z.B. die Firma Cimino. Die Armenier waren Juweliere wie Boghus, Kleiderproduzenten und Maßschneider und führten Geschäfte für „Luxusgüter“: Gumushian, Tanellian, Barsamian, Ismirilian, Ohanian und Vanian. Aber es gab mindestens eine Akademikerin unter den Armeniern, eine Ärztin, Zaroa (Zarwi) Vahan Sarkisian, die zusammen mit der Sudanesin Khalda Zahir 1952 die erste weibliche Absolventin der damals noch Kitchener School of Medicine genannten späteren medizinischen Fakultät der Universität Khartum war.

Griechen und Zyprioten waren in allen Bereichen zu finden wie Contomichalos, der sich sehr stark in Landwirtschaft, Handel und Transportwesen engagiert hat, oder im Management größerer Unternehmen wie George Souris, in Feinkost und Gastronomie wie Papacosta, Fleischhauerei und Wurstproduktion wie Fallaris oder in der Getränkeproduktion wie George Dimitri Pasgianos. Sie waren aber auch in Branchen wie Eisenwarenhandel und Baumaterialien tätig wie Bamboulis.

Juden waren Juweliere und Optiker wie Maurice Goldenberg. Es gab einen jüdischen Arzt, Suleiman Bassyouni, der übrigens ein Studienkollege und lange Jahre ein Freund meines Vaters war.

Viele aus den Gemeinschaften gründeten kleine Fabriken, zum Beispiel, um Möbel zu produzieren, oder in der Metall- und Holzbranche oder um Produkte herzustellen wie Luftkühler, Seife, Speiseöl und vieles andere.

Das Ergebnis dieser Einwanderung von Zehntausenden von Menschen unterschiedlicher Herkunft war eine sehr lebendige bunte Gesellschaft mit einer großen Konzentration in Khartum, aber auch kleineren Gemeinden in Port Sudan, Wad Madani und darüber hinaus in fast allen anderen Städten Sudans.

Wenn man zum Beispiel in den späten Fünfzigern und Sechzigern und frühen Siebzigern entlang der al-Barlaman-Straße, der Haupteinkaufsstraße Khartums, spazieren oder einkaufen ging, konnte man bei Tanellian, dem Armenier, klassische Musik auf 33-RPM-Vinyl-Schallplatten kaufen, bei Falanginis, dem Griechen, in seiner sehr gut sortierten Buchhandlung Bücher oder bei Mirza, dem Inder, Sportartikel und Spielwaren. Schmuck und Brillen gab es nebenan bei Goldenberg, dem Juden, der Optiker, Uhrmacher und Juwelier war. Und weiter entlang der Straße hatte der Libanese Khalil Dagher sein Import-Export-Geschäft. Er war der einzige Libanese in Khartum, der Mitglied des Ältestenrates der evangelischen Kirche war.

Bei Phillip Haggar, auch Libanese, konnte man Luxusautos erwerben und daneben bei Pasgianos, dem Griechen und Getränkehersteller, Entsprechendes einkaufen.

Übrigens, in der Straße hat sich zu dieser Zeit auch das erste Möbelhaus in Sudan etabliert. Das Geschäft auf zwei Stockwerken wurde von einer staatlichen ägyptischen Firma betrieben. Unter anderem verkaufte es weiß gestrichene Kleinmöbel, hauptsächlich für Küche oder Bad. Die weißen Möbelstücke erinnerten an Krankenhausmobiliar. Das Geschäft war voll von Kühlschränken, Herden, Emaillegeschirr und vielen Gebrauchsgegenständen wie Besteck und Tafelgeschirr. Man konnte dort auch ägyptische Baumwollunterwäsche kaufen.

Libanesen waren nicht nur der oben erwähnte Phillip Haggar und sein Bruder George Haggar, von dem ich später noch berichten werde, sondern auch Dr. Nicholas Khattar Malouf, der mit der britischen Armee Anfang des 20. Jahrhunderts als Arzt nach Sudan kam. Ein anderer Libanese war Aziz Kefouri, ursprünglich Baumaterialhändler, der später eine Viehzucht mit 2000 Kühen für die Milchproduktion betrieb. Er gründete die Firma Belgravia Dairy in Khartum Nord und war viele Jahre der einzige Milchgroßproduzent in Sudan.

Khartum war in den 1950er Jahren noch eine relativ kleine Gartenstadt mit viel Grün, Parks und Straßenalleen, ein pulsierender Mikrokosmos voller Optimismus für eine glänzende Zukunft. In der Stadt hatte jede Nationalität einen eigenen Klub. Sie waren mit diversen Annehmlichkeiten und Dienstleistungen ausgestattet. Neben Essen und Trinken konnte man auch Schwimmen, Tennis oder Tischtennis spielen, oder Whist, ein englisches Kartenspiel, oder auch einfach nur im Kreise der Familie sitzen und mit Freunden tratschen bis Mitternacht oder noch länger. Bei den Zusammenkünften in den Klubs waren die jüngsten Familienmitglieder immer dabei und sind selbstverständlich mit ihren Eltern herumlaufend und herumtobend bis in der Früh geblieben. Große Feierlichkeiten wurden meistens in den Klubs zelebriert wie nationale Feiertage, Weihnachten, Neujahr und was immer es für andere Anlässe gab wie Hochzeiten, Taufen und so weiter.

Die gesellschaftlichen Kontakte der Einwanderer zu der sudanesischen Bevölkerung blieben weitgehend aufs Amtliche bzw. Geschäftliche beschränkt. Ausgenommen waren die relativ wenigen gebildeten Sudanesen. Mit der Zeit gab es natürlich eine wachsende Anzahl von sudanesischen Akademikern und Geschäftsleuten und höheren Beamten, die gern gesehene Gäste waren, sowohl bei den diversen Klubveranstaltungen als auch auf privater Ebene. Meine Familie hat besonders viele und intensive Kontakte zu den verschiedensten Nationalitäten inklusive sudanesischer Familien gepflegt. Die einzigen, die sich absonderten, waren die Engländer, die (später ehemaligen) Kolonialherren aus Europa. Es gab sehr begrenzte Kontakte zu englischen Familien. Die Engländer hatten ihren Klub am Nilufer, weit entfernt von allen anderen.

Wie haben sich die Menschen verständigt, könnte einem einfallen zu fragen, so viele Völker auf kleinem Raum. Wenn es um die Sprache ging, haben alle sowohl Arabisch als auch Englisch fließend gesprochen, außer den Engländern. Unter sich haben die Immigranten natürlich ihre Muttersprache verwendet. Auf anderen Ebenen der Verständigung hat es eigentlich nie Probleme gegeben. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten waren sehr freundschaftlich, sogar herzlich. Es ist aber bemerkenswert, dass es trotzdem sehr selten zu gemischten Ehen kam. Die Gruppen blieben zumindest in diesem Bezug in sich geschlossen.

Ich muss hier vielleicht doch eine Bemerkung bezüglich der Bekleidung machen, weil momentan in Europa die Kleiderfrage so viel Platz in der öffentlichen Diskussion einnimmt. Alle, die aus dem Ausland eingewandert waren, trugen europäische Kleidung. Die Frauen folgten natürlich exakt den modernsten europäischen Launen. Es gab Zeiten, in denen die Röcke sicher kürzer waren, als je eine europäische Frau sie zu tragen gewagt hätte. Auch viele sudanesische Männer und Frauen, besonders die der Mittelschicht, trugen europäische Kleidung. Umso bedauerlicher ist es, dass heutzutage in Sudan (fast) alle Frauen verschleiert herumlaufen.

In den Jahren nach der Unabhängigkeit von 1956 gab es eine Gruppe von Binneneinwanderern: Männer und sehr wenige Frauen aus Südsudan, die am Rande der Stadt in Hütten lebten, Hütten zusammengebastelt aus altem Holz, Blech oder Karton oder einfach aus zusammengehefteten Stoffresten. Die Südsudanesen hatten wie alle anderen afrikanischen Völker auch ursprünglich ein einfaches, auf Kooperation bauendes Wirtschaftssystem. Jeder hatte eine Aufgabe und alles, was von der Gemeinde erwirtschaftet wurde, wurde gerecht unter ihren Mitgliedern geteilt. In so einem System macht „Geld-Verdienen“ überhaupt keinen Sinn. Mit Einzug der Händler aus dem Norden, „algallaba“ genannt, ließen sich einzelne für bezahlte Arbeit anwerben. Bis zur Unabhängigkeit hat sich die Zahl derer, die sich im Süden Sudans zu bezahlter Arbeit verführen ließen, sehr vergrößert. Dann begannen sie auf Arbeitsuche nach Norden zu ziehen. Dort standen ihnen natürlich nur die schwersten Arbeiten offen. Die meisten Männer arbeiteten am Bau. Damals gab es keine Bagger, keine Kräne, keine Betonmischmaschinen, überhaupt keine Maschinen, nicht einmal Schubkarren. Alles musste per Muskelkraft, in diesem Fall per südsudanesischer Muskelkraft geschafft werden.

Andere arbeiteten als Hausdiener. Alle Familien hatten damals Hausdiener, die für die üblichen Hausarbeiten wie Schuhe putzen, Wäsche mit der Hand waschen und bügeln und sonstige gröbere Arbeiten zuständig waren. Es war nicht unüblich, dass diese Diener sich immer in Hörweite in Bereitschaft zu befinden hatten, um sofort herbeizueilen, wenn sie gerufen wurden, oft nur, um ein Glas Wasser zu reichen, das auf einem Tisch in zwei Metern Entfernung stand. Ihre Bezahlung war miserabel, die Behandlung noch miserabler. Es war nicht unüblich, besonders bei den arabischstämmigen nordsudanesischen Familien, dass ein Diener mit „ya abid“ gerufen wurde. Ya abid heißt „du Sklave“.

Besser situierte Familien hatten oft einen Koch. Die Köche kamen alle aus dem Norden, aus dem Gebiet, welches historisch als Nubien bekannt ist, das heißt von Merowe in Nordsudan bis Assuan in Ägypten. Sie waren sehr begabte Köche. Alle Köche in den Restaurants der Sudan Railways, ob in Hotels, in den Zügen oder auf Schiffen, stammten aus diesem Gebiet. Ihr Ruhm als Köche reichte bis Ägypten hinauf, wo viele Beschäftigung fanden. Sogar der damalige Chefkoch des ägyptischen Königs Farouk stammte aus Nubien. Aber von dort kamen nicht nur gute Köche, sondern viele in allen Sparten sehr hochbegabte und hochgebildete Menschen. Die Menschen in dieser Gegend sind nämlich die Nachfahren eines uralten Kulturvolkes.

Es gibt sehr viele Spuren von menschlicher Besiedelung entlang des Niltals, in Sudan wurden sogar über 30.000 Jahre alte Siedlungsspuren gefunden. Zur Zeit der Pharaonen entstand in diesem Gebiet, damals wie schon gesagt als Nubien bekannt, ein Königreich mit der Hauptstadt Karma und später das Königreich Kush (sprich Kasch) mit zuerst Napata als Hauptstadt und später Merowe. Dieses Königreich wird auch im Buch der Chronik im Alten Testament erwähnt:

2. Buch der Chronik, Kapitel 14, Verse 12–13: „12 Und Jehova schlug die Kuschiter vor Asa und vor Juda; und die Kuschiter flohen. 13 Und Asa und das Volk, das bei ihm war, jagten ihnen nach bis Gerar. Und es fielen von den Kuschitern so viele, daß …“

Der Prophet Jesaja in Kapitel 37, Vers 9:„9 Und Sanherib hörte von Tirhaka, dem König von Äthiopien, sagen: Er ist ausgezogen, mit dir zu streiten“, (beide Passagen zitiert aus der Elberfelder Bibelübersetzung1905).

Der Grieche Herodot berichtet in seinen „Historien“ im dritten Buch darüber:

„… Nach vierzig Tagen Reise entlang des Flusses nimmt man ein Boot und erreicht nach zwölf Tagen eine große Stadt mit Namen Meroë, die Hauptstadt der Äthiopier“, (meine Übersetzung nach: Forham University, Ancient History Sourcebook, „The Histories“, c. 430 BCE, Book III).

Und der Römer Plinius hat angeblich auch über Kush berichtet. Es ist mir leider nicht gelungen, die entsprechenden Stellen zu finden. Aber überall, wo in den altgriechischen und römischen Texten oder in der Bibel das Wort „Äthiopien“ steht, ist das Land südlich von Ägypten gemeint, also das Gebiet, das heute als Sudan bekannt ist. Die beiden oben erwähnten Königreiche waren altägyptische pharaonische Kulturen, die ähnliche Spuren hinterlassen haben wie die berühmten archäologischen Funde in Ägypten.

Es gab sehr lange Folgen von Pharaonen, sowohl weibliche als auch männliche. Der bekannteste unter ihnen war der Pharao Tarhaka, der von Meroë aus auch über Ägypten bis zum Mittelmeer herrschte. Ich habe die Ruinen in Meroë, die rund 3000 Jahre alt sind, zweimal besucht. Das Beeindruckendste dort sind die Pyramiden, obwohl sie nicht so groß sind wie in Ägypten. Es gibt Palast- und Tempelruinen, wo man Reste von Wasserversorgungs- und -entsorgungssystemen sehen kann, ein Beweis dafür, dass die Stadt sehr gut organisiert war.

Es befindet sich dort auch eine Anlage mit mehreren kleinen Hochöfen, in denen Eisen aus Eisenerz gewonnen wurde. Damit wurden Werkzeuge für den eigenen Bedarf erzeugt, aber auch nach Ägypten exportiert. Ebenso Gold und Eisen, auch Weihrauch, Elfenbein und Ebenholz, die von dort in andere Mittelmeerländer gelangten. Weil Handel ein wichtiger Teil der Kultur war, waren Frieden und gute Beziehungen zu den Nachbarn sehr wichtig.

Die Kultur hat sich wenig von der in Ägypten unterschieden, obwohl Einflüsse aus anderen Teilen Afrikas nicht zu verkennen sind. Die Menschen haben sich ähnlich gekleidet und die gleichen Götter verehrt, allerdings sprachen sie unterschiedliche Sprachen.

Es würde alle Grenzen dieser Erzählung sprengen, würde ich auf weitere Details eingehen. Es genügt für den Moment zu wissen, dass der endgültige Niedergang dieser Kultur im 5. Jahrhundert nach Christus begann. Aber es dauerte nicht lange, da entstand ein neues Königreich, das koptische Königreich in Dongola, das viele Ruinen koptisch-orthodoxer Kirchen hinterließ. Dongola blieb bis ins 13. Jahrhundert christlich und unabhängig. Nach seinem Niedergang zerfiel das Land in Stammesstrukturen.

Aber zurück ins 20. Jahrhundert: Es gab eine weitere Gruppe von Menschen, die häufig in Sudan anzutreffen waren, die Jamani (Jemeniten). Wie der Name schon sagt, kamen sie aus dem Jemen. Ob sie ständig in Sudan lebten, also als Einwanderer anzusehen sind, oder ob sie nur ein paar Jahre blieben, um Geld zu verdienen, und später in ihre Heimat zurückkehrten, ist mir nicht bekannt. Ich bin sicher, dass es auch sonst niemand wusste.

Wie alle anderen Einwanderergruppen waren auch die Jamani spezialisiert. Sie eröffneten kleine Lebensmittelgeschäfte und waren die Haupt-Nahversorger des täglichen Bedarfs wie Zucker, Käse, Oliven, Öl, Salz, Brot, Foul und Getränke wie Coca Cola, Pepsi Cola etc. Foul ist Vicia faba, eine Hülsenfrucht, auch in Europa als Faba im Handel erhältlich, aber besser unter den Namen Saubohnen oder Pferdebohnen bekannt. Die trockenen Bohnen werden in Sudan Foul masri (ägyptische Bohnen) genannt, das Gericht wird aber Foul medames genannt. Die Zubereitung war eine zeitaufwendige Angelegenheit, weil die Bohnen eine ziemlich dicke trockene Haut haben und sehr lange gekocht werden müssen, um weich zu werden. Schnell und sehr heiß kochen in einem Dampfkochtopf bringt sehr unbefriedigende Ergebnisse. Foul wurde in einem großen Metalltopf, der die Form eines umgekehrten Montgolfier-Ballons hatte, mit dem arabischen Namen Gidrat al-ful al-medames, der prominent vor dem Geschäft stand, über Nacht auf einem Holzkohleofen langsam gekocht. In der Früh war sogar die harte trockene Schale ganz weich. „Il Jamani“ war nicht nur der kleine Laden an jedem Eck, sondern gleichzeitig die nächste Imbissstube. Zu den Mahlzeiten sah man Trauben von Männern herumhockend oder auf einem Angareib lümmelnd, die Foul aus flachen Aluminiumtellern oder kleinen Schüsseln aßen. Ein Angareib ist ein Bett aus Holzbalken mit Seilen aus Naturbast oder Palmenwedeln bespannt mit kurzen, sehr schön verzierten Beinen.

Foul war – und ist wahrscheinlich noch immer – die Standardmahlzeit, die zu jeder Tageszeit gegessen wurde. Es wurde mit einer Schöpfkelle aus dem großen Topf genommen, mit Baumwollsamenöl, Salz, vielleicht shatta (Chili) gewürzt, und hie und da vielleicht mit ein paar Zwiebelringen garniert. Wenn auch ein paar Krümel Schafkäse oder eine Tomatenspalte dabei waren, galt es als Festessen. Ein Stück aus dem runden flachen Fladenbrot, das man dazukaufen musste, wurde mit den bloßen Fingern in das Essen getunkt. Zum Trinken gab es Wasser aus einem Zier, der neben dem Geschäft stand. Ein Zier ist ein Terrakottagefäß mit konischem Unterteil, das auf einem Metallgestell aufgestellt wird. Das Wasser wird durch die Verdampfung an der Oberfläche gekühlt. Ein Aluminiumbecher war mit einer langen Schnur an dem Gestell befestigt. Er wurde von allen Kunden ohne viel Aufhebens zum Trinken benutzt. Rülpsen ist ganz normal, ist sogar das Zeichen dafür, dass man satt und zufrieden ist, besonders dann, wenn man eingeladen worden ist.

Eins muss ich noch erzählen. Der Islam hat sehr strenge Reinheitsgebote. Hier will ich nur von denen, die das Essen betreffen, reden. Vor und nach dem Essen muss man sich die Hände ordentlich waschen. Wo es fließendes Wasser gibt, geht man zum Wasserhahn, ansonsten ist immer ein Krug mit einem langen dünnen Schnabel in der Nähe, und die Männer, Frauen essen ja getrennt, wechseln sich ab beim Wassergießen, sodass ein anderer die Hände waschen kann, und zwar mit Seife. Nach dem Essen nimmt man eine Handvoll Seifenwasser in den Mund und „bürstet“ die Zähne mit dem Zeigefinger. Das Wasser wird dann in großem Bogen ausgespuckt. Die Sudanesen sind auch sonst sehr fleißig beim Zähneputzen. Dazu wird al-Miswak verwendet. Miswak oder Meswak sind fingerdicke, 15 bis 18 Zentimeter lange Stücke von den Ästen eines kleinen Baumes, des Zahnbürstenbaums (Salvadora persica L., Familie Salvadoraceae), die zuerst an einem Ende solange gekaut werden, bis es so ausgefranst ist, dass es wie eine Bürste ausschaut und ebenso funktioniert.

Aber nochmal zurück zum Jamani. Er hatte ein eigenes ausgeprägtes Erscheinungsbild. Er war immer in einer halblangen Gallabiya, sprich Dschallabija, ein hemdartiges Gewand, gekleidet, und mit einer langen weiten Hose, die zugleich auch Unterhose war (oder vice versa), und am Kopf einen breiten Turban. Sämtliche Bekleidungsstücke hatten die gleiche Farbe. Nun, wie soll ich die Farbe beschreiben? Also, hmm, die Farbe war … nun ja, leicht bräunlich, nicht ganz gleichmäßig, aber nicht erkennbar fleckig. Ich habe einen Verdacht. Nun, ich will dem guten Mann ja kein Unrecht tun, aber ich denke mir, die Farbe sah verdächtig dem umliegenden Staub ähnlich aus, vielleicht war sie einmal, nun ja, vor langer Zeit vielleicht … doch weiß.

Wenn man zu seinem Geschäft kam, sah man den Jamani von Weitem zur Straße schauend, auf einer Seite liegend, seinen Kopf mit der angewinkelten Hand stützend auf einem Angareib liegend.

Er war immer ganz starr, er bewegte sich nie. Der Anblick erinnerte mich an eine auf der Seite liegende Sphinx. Doch er bewegte sich, wenn man sich ihm näherte, er bewegte seine Augen, aber er sah weg. Er sah immer weg. Nachdem man ihn laut mehrmals begrüßt hatte, erwies er einem nach langer Überlegung die Gnade, stand langsam auf und bewegte sich im Schneckentempo zu den Kisten, die als Verkaufstheke dienten. Nachdem er die Bestellung erledigt hatte und das Geld kassiert, eilte er sofort, aber doch mit langsamen Schritten, zu seinem Bett und begab sich in seine Grundstellung zurück, der liegenden Jamani-Sphinx. Das Geschäft befand sich immer an einer Straßenkreuzung in einem gemieteten Eckzimmer, meistens war es eine ungenutzte Garage.

Der Jamani war ein einsamer Mann, man hörte ihn nie sprechen. Im Normalfall hatten alle anderen Menschen seines Alters, woher sie auch kamen, eine Familie. Das wusste man, weil man sie manchmal zusammen auf der Straße sah. Der Jamani wurde nie mit einer Familie gesehen. Vielleicht hatte er keine Familie. Vielleicht lebte er allein in seinem Laden. Er war ja immer, tagein, tagaus im Geschäft. Vielleicht hatte er seine Familie im Jemen zurückgelassen, wahrscheinlich weil Frauen im Allgemeinen und orientalische im Besonderen in ihrer Mobilität durch die Kinder eingeschränkt sind, und seine Frau deshalb im Jemen bleiben musste.

Es gab noch eine andere Gruppe von vermeintlichen Einwanderern aus Afrika: Die Fellata, wie man sie in Sudan nannte. Die Fellata kamen meistens als Durchreisende und nicht als Einwanderer, aber da sie immer und überall zu sehen waren, hatte man den Eindruck, dass sie ständig in Sudan lebten. Vielleicht lebten auch welche ständig da, wer will das so genau wissen? Es gab ja keine polizeiliche Meldepflicht. Es handelte sich um Mitglieder verschiedener westafrikanischer Stämme, aus Sudan, Tschad und bis Nigeria hin, die unter dem Oberbegriff Fula-, Fulani- oder Fulbe-Völker zusammengefasst werden. Diese Menschen waren meistens auf der Pilgerreise nach Mekka. Sie machten Halt in Khartum, um Geld für die weitere Reise zu verdienen. Die Männer haben hie und da Arbeit als Tagelöhner bekommen, da für Fremde nur die härtesten und niedrigsten Arbeiten möglich waren, Sand schaufeln, Baumaterial schleppen, Graben, und das in der ärgsten Hitze und nur für ein paar Millimes. Die Frauen haben entweder gebettelt – oder waren Unternehmerinnen! Es klingt unglaubwürdig, Unternehmerinnen? Ist das ein Witz? Nein, gar nicht. Tatsache ist: Die Frauen verkauften Waren und sie hatten für ihre Geschäfte ganz bestimmte, sorgfältig ausgesuchte Standorte.

Die Fellata-Frauen wurden „al-Hagga“ genannt, „die Pilgerin“. Sie saßen an bestimmten Straßenecken, bevorzugt in der Nähe von Schulen. Neben ihnen stand meistens eine Guffa mit verschiedenen Stoffbeuteln, weil es damals keine Plastiksackerln gab. Eine Guffa ist ein bauchiger Korb, geflochten aus Palmwedeln. Al-Haggas boten eine breite Palette an Naschereien, die sie in kleine Teller aus Aluminium oder aus geflochtenem Bast aus den Stoffbeuteln leerten. Es waren: Tamrehindi, Nabaq, Laloob, Gungulez, Dom, Libb und Foul-sudani (Erdnüsse). Die Erdnüsse waren eine ganz besondere Delikatesse, wer die Erdnüsse von al-Haggas nicht kennt, weiß nicht, welche himmlischen Aromen in diesen kleinen Samen einer Hülsenfrucht stecken. Die Erdnuss, Arachis hypogea, ist eine Erbsenverwandte, gehört zur Familie Fabaceae und hat botanisch mit Nüssen überhaupt nichts zu tun, was im arabischen Namen zum Ausdruck kommt, Foul-sudani heißt nämlich sudanesische Bohnen. Die Erdnüsse werden samt dem Häutchen in Holzkohlenasche geröstet. Sie schauen nicht besonders elegant aus, haben eine graue Farbe, eben wie die Asche, in der sie geröstet wurden, aber der Geschmack – oh! oh! Mmmmmmmm!

Ich habe mich seit meiner Kindheit für Pflanzen interessiert, ich habe mir lange Jahre sehr viel Mühe gegeben, Botanik zu studieren, und habe es unter widrigsten Umständen geschafft, mein Studium erfolgreich zu beenden, und wozu? Um mit meinem botanischen Wissen angeben zu können! Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, also bitte darf ich?

Es wurden sehr viele Garten- und Nutzpflanzen vom indischen Subkontinent, zum Beispiel Neembaum (Azadirachta indica), Mango (Mangifera indica) und viele andere nach Sudan eingeführt und eingebürgert. Aus Zentralamerika wurde Pithecellobium dulce importiert, in Sudan Tamrehindi genannt, sie wird als Hecke verwendet. Tamarindus indica, in der arabischen Welt als Tamrehindi bekannt (tamr = Datteln, hindi = indische) wird dagegen in Sudan Aradeeb genannt. Beide gehören zur selben Familie: Fabaceae. Aus der Frucht von Tamarindus wird ein wunderbares Getränke, ebenfalls „Tamrehindi“ genannt, hergestellt.

Die Frucht von Pithecellobium ist bei Kindern eine sehr beliebte Nascherei. Die Frucht ist eine Hülse mit vier bis zehn schwarzen Kernen, die von einem Arillus umhüllt sind. Der Arillus ist der essbare Teil. Er besteht aus einem relativ trockenen, aber weichen Gewebe und hat einen leicht süßen und sehr angenehmen Geschmack. Die anderen Naschereien sind auch Früchte oder Samen von in Sudan wachsenden Pflanzen. Das obige Durcheinander von Namen, Tamrehindi!, ist ein Beweis für die Notwendigkeit der lateinisch-botanischen Benennung von Pflanzen, sonst würde sich kein Mensch auskennen.

Nabaq ist die Frucht von Ziziphus spina-cristi aus der Familie Rhamnaceae, der syrische Christusdorn ist in Sudan weitverbreitet. In Sudan heißt der Baum Sidr, seine Früchte Nabaq. Eine verwandte Gattung aus Asien, die in Europa bekannt ist, und manchmal sogar in Gärten anzutreffen ist, ist Ziziphus jujuba, die sogenannte chinesische Dattel. Da darf ich mich noch einmal, aber sehr kurz, aufregen, bitte, weil das schon wieder eine irreführende Benennung ist, weil es sich hier nicht um eine Dattel handelt. Warum kann man nicht einfach bei dem Namen Jujuba bleiben? Warum muss man einen deutschen Namen erfinden, der absolut falsche Assoziationen hervorruft? Ich finde Namen, ob von Menschen, Städten oder Bäumen, sind integre Bestandteile ihrer Identität und dürfen deswegen nicht übersetzt oder verändert werden. Aus Achtung heraus muss man sich die Mühe machen, den richtigen Namen zu verwenden und richtig auszusprechen. Namen sind dazu da, um Sachen oder Personen eindeutig zu identifizieren.

Um nochmal auf die Naschereien zurückzukommen: Nabaq sind kleine trockene, kugelige Steinfrüchte von circa fünfzig bis siebzig Millimetern Durchmesser. Der essbare Teil dieser Frucht ist das Mesokarp, eine dünne Schicht von mehligem, süßlichem, angenehm schmeckendem Fruchtfleisch, wenn man das Wenige um den holzigen Kern Fruchtfleisch nennen kann. Laloob ist die Frucht vom Hegligbaum Balanites aegyptiaca, deutsch Zachunbaum, Familie Zygophyllaceae, Jochblattgewächse. Die Frucht ist etwa so groß wie eine kleinere Walnuss, ist aber nicht rund wie diese, sondern zylindrisch mit einem dünnen trockenen, aber nicht sehr harten Exokarp. Der große Samen ist umhüllt von einem harten Endokarp, das mit dem essbaren dünnen, etwas klebrigen bitter-süß-sauren Mesokarp überzogen ist. Gungulez ist die Frucht vom Tebaldibaum, Adansonia digitata, Familie Malvaceae. Sein bekannter Name Boabab kommt aus dem arabischen „bu-hubub“, der Vater der (vielen) Samen. Die Frucht ist voll mit sehr vielen steinharten Samen, die mit einem weißen pulvrigen Überzug bedeckt sind. Dieser Überzug schmeckt leicht sauer und wird ausgelutscht.

Dom ist eine Palme, endlich einmal eine echte Palme! Hyphaene thebaica, Familie Arecaceae. Wie oben erwähnt haben viele Bäume und deren Früchte im Arabischen verschiedene Namen. Aber es kommt schon vor, dass ein Baum und seine Früchte den gleichen Namen haben so wie bei Dom. Die Frucht ist wieder steinhart, wie könnte es anders sein bei den Regenmengen und der Hitze, die in diesen Gebieten herrschen! Sie ist braun und glänzt ein bisschen und hat die Form eines gerupften, in die Längsrichtung zusammengestauchten Hühnchens ohne Extremitäten. Der essbare Teil ist auch hier das Mesokarp, auch dünn, aber sehr, sehr hart. Man braucht wirklich sehr gute Zähne, um das anknabbern zu können. Und schließlich fehlt noch Libb. Das ist der generische Name für die Kerne, den Samen von Wasser- oder Zuckermelonen, aber auch von Kürbiskernen. Diese werden geröstet und gesalzen. Was al-Haggas anbieten sind meistens Kerne von Wassermelonen. Übrigens, das sind die Produkte, die den Reichtum vieler Kopten in Sudan begründeten.

Es klingt so, als ob Khartum nur von Einwanderern bevölkert war. Das sieht aber nur so aus. Denn wie überall in Afrika, so hat es der polnische Autor Ryszard Kapuściński, der in den 1950er und 1960er Jahren häufig dort unterwegs war, beschrieben, setzten die Kolonialherren eine Art Apartheidsystem durch. Sie teilten die Wohnviertel in den Städten so auf, dass das Ergebnis praktisch eine Rassentrennung der Bewohner war. Eine genaue Beschreibung, wie es in Khartum aussah, folgt später. In seinen Büchern gibt Kapuściński eine sehr gute Beschreibung von den Umständen und Ereignissen in den afrikanischen Ländern, die er besuchte. Sehr lesenswert! Zum Beispiel „Afrikanisches Fieber“, 2001 im Piper Verlag erschienen.

Aber eins muss ich noch erzählen. Als ich Khartum 2009 besuchte, war das Straßenbild von einer anderen Erscheinung geprägt, die vom Unternehmergeist der sudanesischen Frauen zeugt. Mindestens an jeder Straßenecke saßen Frauen auf einem niedrigen Hocker, „Banbar“ genannt, mit einem kleinen Holzkohleofen lokaler Provenienz vor sich, mit einem Wasserkrug aus Aluminium darauf. Auf einen kleinen niedrigen Tisch hatten sie ein paar große Konservengläser, eins mit losen Teeblättern, das andere voll mit Zucker, und daneben mehrere kleine Teegläser, wie sie überall im Orient verwendet werden. Außerdem hatten sie einen Kübel für Teewasser und einen zweiten mit Wasser zum Abwaschen der Gläser. Diese Frauen machten Tee und verkauften ihn an die Passanten und verdienten damit sicher nur ein karges Einkommen. Und ich war erstaunt und schockiert, als ich hörte, dass das Finanzamt von ihnen Steuern verlangt. Ich kann nur mit höchster Bewunderung und Hochachtung an diese Frauen denken. Die sudanesischen Frauen sind sicher viel emanzipierter und waren es schon immer als Frauen in den meisten anderen arabischen Ländern.

Es bleibt noch (mindestens) eine Frage zur Migration, Einoder Auswanderung, zu beantworten. Wenn solche paradiesischen Zustände geherrscht haben, wenn die Menschen in himmlischer Harmonie miteinander gelebt haben, warum haben viele Anfang der sechziger Jahre begonnen, Sudan zu verlassen? Die Juden waren die ersten. Nach dem anglo-französischen Angriff auf Ägypten mit israelischer Beteiligung 1956 haben sie langsam angefangen, einer nach dem anderen sich heimlich davonzustehlen.

Ein anderer Faktor, der die Lust, wieder einmal auszuwandern weckte, war der durch die Erlangung der Unabhängigkeit 1956 erwachte bzw. verstärkte Nationalismus oder besser gesagt das verstärkt um sich greifende nationalistische Gehabe. Es hat damit angefangen, dass sehr viele höhere Beamte mit Migrationshintergrund (um ein in Europa momentan sehr beliebtes Wort zu verwenden) durch „echte“ Sudanesen ersetzt wurden. In Österreich nennt man diesen Prozess der Neubesetzung von hohen Ämtern nach „Regime“-Wechseln Umfärbeln. Gleichzeitig begann die Wirtschaft zu schwächeln, unter anderem wegen des Verfalls des Baumwollpreises, da die weltweite Textilindustrie angefangen hatte, die Baumwollfaser durch Nylon zu ersetzen.

Wesentlich zu der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage haben natürlich Vetternwirtschaft und Korruption beigetragen. Diese Zustände haben wiederum dazu geführt, dass Widerstand sich in dem Wiedererwachen islamistischer Gedanken zu formieren begann bis hin zur Einführung von Scharia-Gesetzen 1983 durch Präsident Numeiri. Das aber machte das Leben für Bürger mit Migrationshintergrund zumindest unbequem, wenn nicht gefährlich. Also, was blieb ihnen übrig, als wieder zu emigrieren?

Von Kopftüchern und Scheuklappen

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