Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 13
Оглавление4. Juba – einst Provinzhauptstadt, jetzt Hauptstadt Südsudans
A) Das Haus
Wenige Monate nach meiner „Einschulung“ in Wad Madani wurde Vater nach Juba geschickt. Dort bewohnten wir ein Haus, das gleich auf der Straßenseite gegenüber dem Krankenhaus stand. Nicht weit davon gab es eine katholische Kirche. Ich kann mich an Nonnen erinnern, aber nicht in Zusammenhang mit der Kirche, sondern mit dem Krankenhaus. Dort arbeiteten sie.
Auf der rechten Seite war eine kurze Sackgasse, ein bisschen weiter war eine Bibliothek und/oder ein Bücherladen. Um das Gebäude des Bücherladens verlief eine Hecke aus Cascabela thevetia, früher unter Thevetia peruviana bekannt. Übrigens Cascabela gehört in dieselbe Familie Apocynaceae wie der uns sehr bekannte Oleander (Nerium oleander), auch Immergrün (Vinca minor), Madagaskar-Immergrün (Catharanthus roseus) und noch eine sehr beliebte Zierpflanze (Mandevilla sanderi), früher als Dipladenia bekannt.
Die Bestimmung dieser Pflanzen nahm ich aus meinen ganz klaren Erinnerungen an die Blüten und Früchte der Pflanze 35 Jahre später vor. Cascabela ist in den Tropen in vielen Gärten weitverbreitet und leicht zu erkennen an ihren gelben trompetenförmigen Blüten, mit denen der buschige Strauch fast das ganze Jahr übersät ist, und der charakteristischen bischofsmützenartigen Gestalt ihrer etwa walnussgroßen Früchte. Über diesen Blüten schwebten kleine Vögel mit sehr langen Schnäbeln. Diese Vögel waren Jahre später Anlass für eine große Peinlichkeit für mich.
Wir waren bei Freunden und sahen gemeinsam eine TV-Sendung über Kolibris.
„Die habe ich schon in Echt gesehen“, sagte ich,
„Wo, im Zoo?“ fragte Louis.
„Nein im Freien in Sudan.“
Alle Anwesenden brachen in lautes Gelächter aus und ich stand sehr dumm da. Ich, der einzige Naturwissenschaftler in der Runde, wusste nicht, dass der afrikanische Analog zu den Kolibris nicht Kolibri genannt wird, sondern Nektarvogel. Alle anderen lachten, weil sie von der Existenz der Nektarvögel nichts wussten, sodass eine für mich sehr absurde und peinliche Diskussion folgte, denn sie bestritten, dass ich irgendeinen Kolibri ähnlichen Vogel in Sudan gesehen haben könnte. Ich habe es überstanden.
Das Haus in Juba hatte einen Garten, der in meiner Erinnerung riesig groß war. Wir Kinder, damit meine ich meine Schwester Rida und mich, Huda und Saad waren nicht dabei, waren immer draußen und meistens nicht im Blickfeld unserer Eltern.
Kinder wollen ihre Eltern wahrscheinlich tunlichst meiden, außer wenn sie Hunger haben, weil sie ihnen ansonsten immer sagen, dass man das nicht tun darf, was man gerade tut, oder einen zwingen wollen, etwas zu tun, was man nicht tun will. Meine Eltern waren offensichtlich auch erleichtert, dass wir Kinder nicht dauernd neben ihnen wie die Kletten pickten und Wünsche äußerten. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie an dem Zustand etwas zu ändern versuchten. Vater war sowieso den ganzen Tag im Krankenhaus und mama hatte genug zu tun mit dem Haushalt.
Jetzt höre ich schon die lauten Proteste der verhinderten Möchtegern-Beamten der Jugendaufsichtsbehörde: „Vernachlässigung der Aufsichtspflicht“ oder etwas Ähnliches. Das war aber keinesfalls der Fall. Wir haben sicher mehr Freiheiten genossen als europäische Kinder, die in einer Wohnung in einer Stadt leben und ständig unter Beobachtung stehen, aber ähnliche Freiheiten haben auch europäische Kinder, die am Land aufwachsen. Man lernt, etwas selbstständiger – und vielleicht auch mutiger und neugieriger zu sein – und sich nicht zu einem Nesthocker zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht auf andere Weise auch dressiert wurden. Auch später als Teenager waren wir überwiegend uns selbst überlassen. Damals in Sudan ging das, weil alle Häuser einen eingezäunten oder ummauerten Hof oder Garten hatten, wo die Kinder immer spielten oder sich aufhielten. Und auf den Straßen gab es kaum Autos, außerdem waren sie meistens nicht asphaltiert und so holprig, dass Autos sehr langsam fahren mussten, sodass auch dann, wenn Kinder auf die Straße gingen oder dort spielten, wenig Gefahr bestand, dass sie überfahren wurden. Später haben wir in Khartum sogar mit den Nachbarbuben auf der Straße Fußball gespielt, allerdings in einer Seitenstraße in einer Wohngegend. Heute ist das natürlich nicht mehr möglich.
Hinter dem Haus war ein großes freies Areal, wo ein sicher mehr als ein Meter hohes Gras wuchs, es war jedenfalls höher, als ich damals war. Durch dieses Grasfeld führten kreuz und quer mehrere sehr schmale, durch viele Füße festgestampfte Wege. Es war für mich eine ebenso große Versuchung wie Herausforderung hineinzugehen, um zu schauen, wohin die verschiedenen Wege führten. Das Grasfeld war wie ein Irrgarten und manchmal geriet ich fast in Panik, weil ich lange brauchte, bis ich wieder herausfand.
Es gab eine ähnliche freie Fläche auf der rechten Seite zwischen unserem Haus und der Bibliothek bzw. dem Buchladen. Dort gab es eine Hütte, wie sie überall in Südsudan zu sehen sind. Die Hütten sind aus aufrecht aufgestellten Ästen gebaut und mit Stroh bedeckt, wahrscheinlich mit dem hohen Gras, das überall, wie auch in dem Feld nebenan, wuchs. Diese Hütte war deswegen bemerkenswert, weil sie erstens mitten im bebauten Stadtgebiet lag und weil sie zweitens nicht auf dem Boden stand, sondern auf Stelzen. Ich weiß nicht warum. Es haben Menschen darin gelebt und ich sah sie oft hin und her und hinauf und hinunter gehen. Es waren „Eingeborene“. Die Kinder liefen ganz nackt herum, die Eltern waren mit wenigen Fetzen kaum verhüllt. Die Fetzen waren wahrscheinlich nur eine Anpassung an die „Zivilisation“, wahrscheinlich von den sie umgebenden Menschen aufgezwungen, denn überall sonst liefen Angehörige der lokalen Stämme ganz nackt herum. Aus der Hütte kam oft Rauch, es war eigentlich nicht viel davon zu sehen, umso mehr zu riechen, und es duftete sehr angenehm. Ich habe diesen Duft sehr gemocht. Aber ich sah die Frauen vor der Hütte, wo sie am Boden Feuer zum Kochen machten. Was also hatte es auf sich mit diesem Rauch, der aus der Hütte kam? Ich war sehr neugierig. Eines Tages stieg ich die Leiter hinauf und guckte mich in der Hütte um. Es hockten einige Menschen auf dem Boden und einer oder zwei von ihnen hielten Pfeifen oder Pfeifen-ähnliche Gegenstände in ihren Händen. Jetzt wusste ich, woher der duftende Rauch kam.
Auch viel Geschirr aus Holz und besonders Kalebassen sind mir in Erinnerung geblieben. Es gab kleine Tassen-förmige, kleine lang gestielte Schöpfer-artige und verschiedene andere in allen möglichen Größen. Die Menschen müssen sehr freundlich gewesen sein, denn ich vergaß die Zeit und wurde schon gesucht. Man fand mich noch dort in der Hütte.
Es war das einzige Mal, an das ich mich erinnere, dass ich körperliche Züchtigung genoss und zwar nicht sofort im Affekt, sondern erst zu Hause mit einer Rute. Es wurde mir strikt verboten, wieder zu dieser Hütte zu gehen oder gar in deren Nähe. Schade. Immer sind interessante Sachen verboten!
Viele Jahre später erfuhr ich, welche Bewandtnis es mit dem Duft des Rauches aus der Hütte hatte. Es war der Duft einer in Südsudan verbreiteten Droge namens Bungo (Bango). Vielleicht war das der Grund, warum mein Vater so aufgebracht war. Bungo ist die in Sudan und in Ägypten verbreitete Cannabis-Art, die angeblich weniger THC (Tetrahydrocannabinol) als andere Sorten beinhaltet.
In unser Wohnhaus kam man durch eine kleine Veranda in die Küche. Links davon war ein großes Esszimmer, danach kam ein Sitzzimmer (Wohnzimmer), in dem allerdings nur Besucher empfangen wurden, und ganz hinten ein Schlafzimmer. Anschließend gab es wieder eine Veranda mit Zugang rechts zum Bad und links zum Klo. Wir haben als kleine Kinder im Schlafzimmer der Eltern geschlafen, später in der dahinterliegenden Veranda.
Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, welchen meine Eltern vehement bestritten, als ich viele Jahre später davon erzählte. Meine Eltern waren begeisterte Tänzer. Es hat Partys gegeben in Juba, auf denen auch getanzt wurde. Unsere Eltern nahmen Rida und mich manchmal mit, für uns eine Quälerei, weil wir schläfrig wurden und bis zum sehr späten Ende in einem Sessel herumlümmeln mussten. Mindestens einmal haben sie uns aber zu Hause gelassen. Einer von uns wachte auf und weckte wahrscheinlich den anderen, denn ich kann mich sehr gut erinnern, wie wir am Fenster in Angst und Schrecken gesessen sind, uns umarmten und weinten. Mir war die Vorstellung, dass ein Löwe kommt und uns auffrisst, sehr erschreckend real. Das kam daher, weil es immer wieder Geschichten gab, dass in Gärten herumstreunende wilde Tiere, auch Hyänen und Löwen, gesichtet worden waren. Tatsächlich gab es aber zu keiner Zeit die geringste Gefahr. Das hat unsere Angst aber gar nicht gemindert.
In Sudan sind Fenster und Türen, die ins Freie schauen, häufig vergittert und mit Moskitonetzen überzogen, auch die Veranden. Moskitogitter und Moskitonetze waren allgegenwärtig. Da es oft regnete, gab es überall genug Tümpel, in denen die Moskitos von der Gattung Anopheles sich vermehren konnten. Und was tun Moskitos am liebsten? Richtig, unser Blut saugen. Aber nur die weiblichen! Schon wieder die Weiber! Sie stechen zu und pumpen eine Substanz in unsere Blutgefäße, um die Blutgerinnung zu verhindern. In dieser Flüssigkeit befinden sich Blutparasiten von der Gattung Plasmodium. Das verursacht zuerst einmal eine allergische Reaktion, es juckt fürchterlich, allerdings nicht sofort, denn sonst würden die Moskitos die Aktion nicht überleben. Um dies zu verhindern, wird beim Stich ein Betäubungsmittel mit einem Gerinnungshemmer mitgeliefert. Das Jucken wäre das geringste Problem, das Problem sind die Blutparasiten. Plasmodium dringt in die roten Blutkörperchen ein, um sich darin zu vermehren, die Blutkörperchen werden dadurch zerstört, es treten arge Symptome auf, hohes Fieber, Gliederschmerzen und es kann auch zum Tod führen. Malaria heißt die Krankheit und sie ist eine der schlimmsten Bedrohungen für die Menschen in den Tropen. Um eine Infektion zu vermeiden, müssen die Moskitos daran gehindert werden, an unsere Haut zu gelangen. Also werden alle Fenster und Türen mit Moskitogittern gesichert.
Irgendwie schlüpfen doch ein paar Moskitos ins Haus hinein, und um die Schlafenden vor ihren Stichen zu schützen, spannt man Moskitonetze über und um die Betten. Und irgendwann einmal wird man doch gestochen und erkrankt an Malaria. Ein letzter Versuch dies zu verhindern, war die Einnahme von Chinin als Malariaprophylaxe. Obwohl das eines der unangenehmsten Erlebnisse war, das sich zudem regelmäßig wiederholte, weiß ich nicht mehr, wie oft wir Chinin haben einnehmen müssen. Mindestens einmal pro Woche, schätze ich. Chinin ist ein Alkaloid, das aus der Rinde des Chinarindenbaums (Cinchona pubescens) gewonnen wird. (Zu der Familie Rubiaceae gehört auch der Kaffeestrauch Coffea arabica.) Viele Jahre später verbrachte mein Bruder Saad mehrere Jahre in Gambia, wo er über Malaria forschte. Er hat ein Buch darüber verfasst: „Malaria. A Hematological Perspective“.
Nicht nur Malaria war eine Bedrohung für unsere Gesundheit, sondern auch Entzündungen der Mund- und Nasenschleimhäute und der Mandeln, unter dem Namen Erkältung allgemein bekannt. Die prophylaktische Maßnahme dagegen war das Gurgeln mit Thymol. Thymol ist ein Bestandteil der ätherischen Öle von Majoran, Thymian und anderen verwandten Gattungen der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Thymol haben wir als große schwer lösliche Kristalle bekommen, die, in einen Stoffsack verpackt, in eine Flasche hineingepresst wurden, die mit Wasser gefüllt wurde. Nach ein paar Tagen konnte man eine kleine Menge der Flüssigkeit, die sehr stark nach Thymian roch und schmeckte, entnehmen, mit Wasser verdünnen und damit gurgeln. Schon die alten Ägypter wussten anscheinend von der keimtötenden Wirkung des Thymols, sie haben Thymol für die Mumifizierung von Leichen verwendet!
Unser Haus hatte, wie die meisten damals in Sudan aus gebrannten Ziegeln gebauten Häuser, ein Schrägdach aus verzinktem Wellblech. Es gab Öffnungen auf beiden Seiten, wahrscheinlich, um durch Luftdurchzug einen Hitzestau zu verhindern. Wo es viele Insekten gibt, gibt es auch Fledermäuse, und jeden Tag, wenn es zu dämmern anfing, sind Schwärme von hunderten, vielleicht sogar tausenden von Fledermäusen aus diesen Öffnungen hinausgeflogen. Rida und mich hat das fasziniert, und es war jeden Tag ein Pflichttermin, das Ausschwärmen der Fledermäuse zu beobachten. Eines Tages kamen wir auf die Idee, den Fledermäusen einen Besuch abzustatten. Ich weiß nicht mehr, wie wir aufs Dach gelangten, aber es gelang uns. Auf dem Holzgerüst des Daches sahen wir tausende von Fledermäusen aufgereiht – mit dem Kopf nach unten hängend. Wir nahmen sie in die Hände und die Wärme der weichen samtigen Tierkörper vermittelte uns ein sehr angenehmes Gefühl. Es hat eigenartig gestunken und der Boden war komplett mit Kot bedeckt, das hat uns aber nicht gestört. Heute denke ich mit Schaudern an die Bakterien und Viren, die dort gewesen sein mögen, und die gefährlichen Infektionen, die wir hätten bekommen können, die uns aber glücklicherweise erspart blieben.
Rosemarie erinnert sich daran, dass Rida und ich von unserem Leben in Juba erzählten. Dieses Gespräch ist ihr deswegen in Erinnerung geblieben, weil das ein so großer Kontrast zu ihrer ruhigen Kindheit war.
Ach ja, der Wetterbericht. Für Juba fällt er relativ kurz aus. Warm, sonnig, ab und zu von Gewittern unterbrochen. Die Regenperiode dauerte neun Monate. Gewitter kommen meistens gegen Abend, mit heftigen Regenfällen, ununterbrochen spektakulären Blitzschlägen, begleitet von sehr lautem Donner. Mich hat das immer in Angst und Schrecken versetzt. Überhaupt hatte ich damals sehr viel Angst, besonders vor der Dunkelheit. Die Dämmerung war jeden Tag für mich ein Schrecken. Wenn ich zu Bett gehen musste, habe ich mich allein gefühlt und war von einem schrecklichen Gefühl des Verlassenseins und der Trauer erfüllt. Diese Gefühle wurden durch den Klang entfernter Trommeln verstärkt. In Sudan, am Land, versammeln sich die Dorfbewohner am Abend am Dorfplatz, wo sie Musik machen, singen und tanzen bis tief in die Nacht. Von weit weg hört man nur die Trommeln, unterbrochen von Hundegebell, nicht laut, gerade noch wahrnehmbar. Das wirkte auf mich deprimierend und beängstigend.
Neben den wilden Tieren, die angeblich in der Nacht herumliefen, neben Blitz und Donner gab es noch eine weitere Quelle für Ängste. Nicht weit von Juba gibt es einen Vulkan, aber die Geschichte von diesem Vulkan ist mir ein Rätsel. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich ein dumpfes, sehr entferntes Grollen und leichte Bodenerschütterungen vernommen habe und so etwas wie Blitzschläge, immer an der gleichen Stelle am Horizont. Aber wenn ich jetzt nach Rejaf im Internet suche, finde ich Bilder von einem maximal 200 Meter hohen Kegel, der zwar wie ein Zwergvulkan aussieht, aber es ist nirgends ein Bericht über heutige oder vergangene vulkanische Tätigkeiten zu finden. Habe ich da etwas verwechselt?
Ich kann mich heute noch an die sehr aufwühlenden, beängstigenden, jedoch ganz abstrakten Träume erinnern, die mich damals in der Nacht plagten. Ich träumte von mehreren, ja vielen Kreisen, dünnen Reifen, die im Raum schwebten und immer wieder durch einander (nicht durcheinander) schlüpften. Ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl der Verlorenheit und des Verlassenseins, das mich damals überwältigte. Auch Kinder können in eine Depression fallen. Eine mögliche Erklärung dafür habe ich vor einigen Jahren beim großartigen Psychologen und Philosophen Erich Fromm gefunden. Trennungstrauma.
Später, als ich circa 16 Jahre alt war, las ich sein Buch „Die Kunst des Liebens“. In jenem Alter waren meine Aufklärungsbedürfnisse sicher andere, sodass meine Erwartungen zuerst etwas enttäuscht waren. Dann aber gefiel mir langsam, was ich da las. In noch späteren Jahren habe ich das Buch mindestens zehnmal verschenkt und sicher mindestens dreimal gelesen.
Apropos lesen: Mama las uns Märchen aus einem Buch mit wunderschönen bunten Bildern vor. Ich bin fast sicher, dass es Märchen von den Brüdern Grimm waren, wahrscheinlich waren auch Märchen von Hans Christian Andersen dabei. Ich kann mich weder an die Märchen noch die Bilder genau erinnern, aber an die Emotionen, die sie hervorgerufen haben sehr wohl. Viele Märchen haben ein glückliches Ende und man freut sich, aber dieses Happy End kommt oft erst nach angsteinflößenden Ereignissen oder ungerechter Behandlung. Ich weiß noch, dass ein Gefühl der Trauer und des Verlassenseins mich immer wieder überwältigte, wenn sie uns eine Geschichte vorlas, in der Kinder allein gelassen oder ungerecht behandelt wurden. Ein Gefühl, das ich ein paar Jahre später umso intensiver erlebte, als es aus einer persönlichen Situation heraus entstanden war. Es war die Trennung von den Eltern, als Rida und ich zu Onkel Labib nach Port Sudan geschickt wurden, weil es in Juba keine Schulen gab. Aber davon später.
Ich glaube, dass die Emotionen, die durch Märchen in mir erzeugt wurden, prägend waren. Um Empathie zu empfinden, muss man die gleiche oder zumindest eine ähnliche Situation erlebt haben wie die Menschen, mit denen ein Mitgefühl entsteht (entstehen soll). Das ist im realen Leben nicht immer allen Menschen möglich. Manche Kinder haben viel Glück und müssen nie negative Erlebnisse erleiden. Es kann aber sein, dass das dazu führt, dass sie sich das Leiden anderer gar nicht vorstellen können. Aber es ist möglich, dass durch das Miterleben von Märchen in einem Alter, in dem Kinder noch frei von Zynismus sind und noch genug Fantasie haben für Empfindsamkeit, für echte Gefühle für andere Menschen, das Fundament für Empathie gelegt wird. Ich kann mich an die unergiebigen Diskussionen über Märchen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erinnern, bei denen die Märchen ob ihrer Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten kritisiert wurden. Ich glaube, man soll, darf und kann Kinder nicht mit den Grausamkeiten des Lebens verschonen, sonst werden sie nie die Stärke entwickeln können, mit der sie Widrigkeiten überstehen und Empathie im Allgemeinen und für Benachteiligte im Besonderen empfinden können. Empathie ist aber für ein friedliches, gerechtes und menschenwürdiges Zusammenleben von Menschen von entscheidender Bedeutung.
Mama las uns nicht nur Märchen vor, sie sang uns auch Lieder vor und spielte Spiele mit uns. Mama strickte auch gerne und hat uns mit allerhand Kleidungsstücken versorgt, denn, ob gestrickt oder genäht, sie hat alle selber gemacht, es gab keine fertigen Sachen zu kaufen. Sie hat, zumindest für mich, wunderschöne Stofftiere genäht, die ich sehr gern hatte. Es gibt sogar Bilder davon. Auf dem Foto unten bin ich mit meiner Mutter und den Tieren zu sehen.
Mama, ich und die Stofftiere
Mama war aber nicht den ganzen Tag „nur“ mit dem Haushalt beschäftigt, sie war die Rettung, wenn kind mit einem Dorn in der Fußsohle kam, sich den Finger geschnitten oder das Hemd schmutzig gemacht hatte, wenn kind Hunger hatte oder wenn kind Durst hatte. Mama war immer da. Haben wir einmal „Danke mama“, gesagt? Ich glaube nicht. Kind nimmt mama für eine Selbstverständlichkeit. Sie ist da, etwas anderes kann ein Kind sich gar nicht vorstellen. Sie ist ein Teil von einem selbst. Umso schmerzlicher ist die Trennung, jede Trennung, auch wenn nur für ein paar Minuten, wenn sie ihre Aufmerksamkeit jemand anderem widmet.
Es gab damals in Juba mehrere zugereiste Familien mit Migrationshintergrund, wie man heutzutage sagen würde. Es waren Verwaltungsbeamte oder Geschäftsleute, die aus Ägypten, dem Libanon, Italien und Griechenland emigriert sind. Meine Eltern haben alle diese Familien zu ihrem Freundeskreis gezählt. Man darf nicht vergessen: Mein Vater war der Arzt, ihn haben alle irgendwann einmal gebraucht.
Eine besonders enge Freundschaft verband meine Eltern mit der aus dem Libanon stammenden Familie von Alice und George Haggar. Meine Geschwister sind noch immer mit deren Kindern in Freundschaft verbunden, während ich, weil ich in Österreich lebe, den Kontakt leider verloren habe.
Phillip Haggar, der Bruder von George, war auch in Südsudan, in Wau, glaube ich. Es gab andere Familien, z.B. Marika und George Souris aus Griechenland und eine koptische Familie, Younan (Michael?), die zu dem engeren Freundeskreis zählten.
Die frühesten klaren Erinnerungen an meine Eltern sind von Juba, ich muss circa sechs Jahre alt gewesen sein. So kann ich mich an meine Eltern bei Familie Haggar, im Sitzzimmer, um einen Tisch sitzend und Whist spielend, erinnern. Whist ist sehr beliebt in Sudan, ein aus England stammendes Kartenspiel für vier Personen in zwei gegnerische Teams. Whist ist eine vereinfachte Form von „Bridge“. Das muss auch die Zeit gewesen sein, als mir bewusst wurde, dass Kinder ihre Eltern erst ab einem gewissen Alter als separate Personen wahrnehmen, aber auch dann erst in Anwesenheit von fremden Personen. Zu Hause ist man unter sich, man genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit. Sobald fremde Erwachsene da sind, ist man vergessen.
George Haggar war ein sehr emsiger und ideenreicher Unternehmer. Er hatte unter anderem eine große Plantage namens Iwatoka, irgendwo nahe Yei, etwa 120 Kilometer südlich von Juba. Dort produzierte er Tabak, Kaffee und Tee. In dieser Plantage hatte er auch ein Wohnhaus und gleich daneben war eine Zigarettenfabrik. Eines Tages nahmen mich Onkel George und Tante Alice, als Kind nannte ich auch Nicht-Verwandte Onkel und Tante, mit nach Iwatoka. Es war sehr aufregend. Von diesem Besuch ist mir besonders in Erinnerung geblieben, dass es sehr strikt verboten war, barfuß zu gehen oder die Erde in irgendeiner Weise mit der bloßen Haut zu berühren. Es gab dort nämlich winzig kleine Insekten, die sich durch die Haut bohrten und arge Krankheiten verursachten.
Juba liegt in einer Landschaft, die ich als Baumsavanne charakterisieren würde. Es waren viele Bäume da, aber mit zum Teil ausgedehnten offenen Grasflächen dazwischen, wo stellenweise ein mannshohes Gras wuchs. Iwatoka dagegen lag mitten im Urwald, so habe ich es zumindest in Erinnerung. Die riesigen Bäume standen dicht beieinander und es gab auch einen dichten Unterwuchs. Jahrelang habe ich mir eingebildet, ich hätte im Wald nicht weit von Onkel Georges Haus Caladium, eine Araceae und einen Strauch mit winzig kleinen Tomaten gesehen. Ich habe ein Gedächtnis für Pflanzen, diese Pflanzen habe ich sicher gesehen in Iwatoka, die Frage ist nur, wo genau. Beide Pflanzen kommen nämlich in Sudan in der Natur nicht vor, entweder habe ich sie also im Garten des Hauses gesehen oder es waren verwilderte Exemplare dieser Gattungen.
Es gab noch mehr Aufregendes zu erleben in Iwatoka und zwar die schon erwähnte Zigarettenfabrik. Dort haben die Arbeiter Zigaretten händisch gedreht. Es gab lange Bänke, an denen die Arbeiter und Arbeiterinnen nebeneinander saßen. Am Tisch vor ihnen waren biegsame Lederriemen befestigt. Sie legten das Zigarettenpapier und einen Haufen Tabak darauf. Es hat Erfahrung bedurft, den Riemen so zu ziehen, dass aus dem Papier und dem Tabak eine Zigarette wurde. Ich hab es probiert, aber ich habe mich geärgert, denn es ist mir nie gelungen, auch nur eine einzige Zigarette zu drehen.
Von den Märchen bin ich bei der Zigarettenproduktion gelandet! Die Zigaretten wurden übrigens unter der Marke „Haggar“ in Sudan und den Nachbarländern verkauft. Onkel George baute später in den 1960er Jahren in Khartum Nord nicht nur eine moderne Zigarettenfabrik, sondern auch andere Fabriken, unter anderem eine für Plastikerzeugnisse. Er ernannte Vater zum Betriebsarzt, eine Aufgabe, die Vater trotz seiner vielen anderen Funktionen bis zu seinem Tod sehr gewissenhaft erfüllte, sowie er alles gewissenhaft erledigte, was er auf sich nahm.
Ich kann mich an ein gewagtes Experiment Onkel Georges’ erinnern, weil das eine Zeitlang in aller Munde war; er mischte Tee mit Kaffee und versuchte das Ergebnis unter dem Namen „Shaibun“ auf den Markt zu bringen. „Shai“ ist Tee und „Bunn“ ist Kaffee(pulver) auf Arabisch. Dieses Produkt ist nicht der erhoffte Schlager geworden! Wen wundert’s!
Auch viel später hatte ich noch Kontakt zu den Haggars, 1971 etwa, als Rosemarie und ich nach Khartum gefahren sind, wo Rosemarie fast ein ganzes Jahr als Musiklehrerin arbeitete. Sie brauchte ein Klavier, um zu üben. Da wir kein Klavier hatten, aber Tante Alice, hat sie Rosemarie erlaubt, jederzeit zum Üben zu kommen.
Aber zurück zu den Tieren: Eines Tages fanden wir im Garten einen Igel, den nahmen wir ins Haus und sperrten ihn in die lange Veranda mit Zugang zu einem großen Abstellraum. Dort befand sich ein großer 40-Liter-Kanister voll mit Butterschmalz, das Mutter zum Braten brauchte. Eines Tages verschwand der Igel. Wir durchsuchten das Haus Zentimeter für Zentimeter. Kein Igel. Wir wunderten uns ein paar Tage und vergaßen die Sache, bis mama eines Tages laut lachend aus dem Abstellraum herausstürmte mit einem großen Batzen Butterschmalz auf einem Teller. Der Igel hatte sich im Schmalz eingegraben. Ob er noch lebte oder ob er erstickt war, weiß ich nicht mehr.
In dem Abstellraum gab es auch einen Kühlschrank. Die Kühlschränke zur damaligen Zeit waren Absorptionskühlschränke, die ohne Strom und ohne Kompressor funktionierten. Unser Kühlschrank wurde mit Kerosin betrieben. Im unteren Teil gab es ein Fach mit einem langen Behälter für das Kerosin, an dessen Ende es eine Vorrichtung gab, um das Kerosin zu verbrennen. Darüber war ein Behälter mit einem Ammoniak-Wasser-Gemisch gefüllt. Durch die Erhitzung verdampfte das Ammoniak, wurde vom Wasser getrennt und durch verschiedene Vorrichtungen geführt, wo durch abwechselnde Verdichtung und Verdampfung eine Kühlwirkung erzielt wurde. Da diese Kühlschränke keine beweglichen Teile hatten, waren sie ganz leise, eigentlich lautlos.
Kerosin brauchte man auch zum Kochen. Obwohl Juba zum Teil mit Elektrizität versorgt war, gab es keine Elektro-Öfen oder zumindest hatten wir keinen. Gekocht wurde auf einem Kerosinkocher, der ungefähr so ausschaute wie die Gas-Campingkocher von heute, nur größer, mit einem Kerosintank statt einer Gasflasche. Für die Beleuchtung gab es eine Kerosinlaterne, genannt Fanus, im Haus. Besonders effizient ist die Bauart, bei der das Kerosin durch eine am Tank eingebaute kleine Pumpe unter Druck gesetzt wird. Das Kerosin wird so durch eine Düse zerstäubt und verbrennt dann fast vollständig, ohne Rußbildung, ohne ersichtliche Flamme. Man sieht keine Flamme, weil das Kerosin in einem Stoffnetz verbrennt, welches in einer Lösung aus Salzen der seltenen Erden, darunter Thorium, getränkt wurde. Beim ersten Mal verbrennt der Stoff und es bleibt ein feines Gitter, das nicht berührt oder erschüttert werden darf, sonst zerfällt es sofort zu Staub. Das Kerosin brennt innerhalb dieses Gitters, bringt es zum Glühen und strahlt so ein starkes weißes Licht aus. Viele Informationen über diese Kerosingeräte findet man im Internet unter dem Stichwort „Primus“, der schwedischen Firma, deren Produkte damals in Sudan sehr weit verbreitet waren, weil die Versorgung mit Elektrizität sehr mangelhaft war.
Die Geschichte mit dem Igel war nicht meine einzige Erfahrung mit eingesperrten Tieren. Es gab im Haus eine Käfigfalle mit einer Rampe, die umkippte, wenn ein Tier darauf stieg. Das Tier fiel dann in den Käfig hinein und konnte nicht mehr heraus. Ich beobachtete, wie sich unter einem Zyziphus-Baum (Nabaq) viele Vögel tummelten, und ich kam auf die Idee, die Falle mit Körnern zu füllen und dort hinzustellen, wo die Vögel sich tummelten. Die Falle stand nicht lange und schon war sie voll mit Vögeln. Ich nahm den Käfig mit ins Haus und leerte seinen Inhalt in der kleinen Veranda hinter dem Schlafzimmer aus. Dieses wiederholte ich mehrmals, sodass die Veranda bald so voll von herumschwirrenden und quietschenden Vögeln war, dass man nicht mehr hineingehen konnte. Das umso mehr, da der ganze Boden und alles, was sonst im Raum war, unsere Betten etc., langsam mit Vogelkot bedeckte wurde.
Viele Stunden verbrachte ich auch vor einem großen Käfig, wo wir Kaninchen hielten, die Kaninchen beobachtend, die sehr viele Löcher und Gänge in die Erde gruben. Ab und zu fanden wir welche außerhalb des Käfigs, weil sie die Mauer rund ums Gehege untergruben und so ins Freie gelangten.
Mich interessierten aber nicht nur die Tiere. Im Garten waren ein paar Papaya, Limetten, Orangen, Nabaq und viele andere Bäume und Zierpflanzen wie Cyrtanthus elatus (besser bekannt unter dem Namen Vallotia speciosa), eine Zwiebelpflanze aus der Familie Amaryllidaceae, der Amaryllisgewächse. Auf einem Stiel sind bis zu acht Blüten, dunkelrot, aber kleiner als die Amaryllis-Blüten. Es waren zehn bis zwanzig Pflanzen in einem Blumenbeet vor dem Haus. Ich kann mich nicht erinnern, dass diese jemals zu blühen aufgehört hätten, wie auch die Zinnien in einem anderen Beet.
An andere Pflanzen kann ich mich sehr gut erinnern, obwohl ich deren Namen erst viel später erfahren habe. Es waren Spathodia campanulata (Familie Bignoniaceae), Senna (früher Cassia) didymobotrya und Bougainvillea.
Im Garten gab es nicht nur Zierpflanzen, sondern auch Obst und Gemüse. Gleich vorne im Obst- und Gemüsegarten stand ein Limettenbaum (Citrus × aurantiifolia). Limetten mussten immer in der Nähe sein, weil damit alles Essen gesäuert wurde, welches zum Säuern war, nicht nur der Salat. Essig gab es nicht. Limetten hat es das ganze Jahr hindurch gegeben, ein Limettenbaum kann den Bedarf eines kleinen Dorfes decken, weil die Bäume immer mehrere hundert Früchte tragen. Der Baum hört nie auf zu blühen und trägt gleichzeitig Blüten und Früchte. Es gab auch einen Orangenbaum (Citrus sinensis L.), aber der spannendste Baum war der Papayabaum (Carica papaya). Der war ziemlich hoch und schlank und hatte sehr schöne große Blätter. Die Früchte waren dicht gedrängt von oben nach unten in zunehmender Größe um den Stamm arrangiert, und die Farbe der Früchte hat sich auch von oben nach unten, von den kleinen grünen ganz oben zunehmend in ein immer intensiver werdendes Gelb verwandelt. Rida stand einmal davor, sah hinauf und schrie: „Der Baum reicht bis zu Gott hinauf.“
Ich betätigte mich auch gerne als Gärtner. Einmal bat ich Rida, einen ausladenden Zweig eines großen Bougainvillea-Busches, den ich kürzen wollte, zu halten. „Klipps“ und die Kuppe von Ridas Finger war auch weg. Natürlich gab es sofort ein fürchterliches Geschrei und dann weinte und schluchzte sie laut und wiederholte „Seyaht dammi“, „Du hast mein Blut vergossen!“. Ich hielt sie bei der Hand, zerrte sie zum Krankenhaus gegenüber unserem Haus, wo sie sofort versorgt wurde.
Mein bis heute intensives Interesse an Pflanzen wurde, glaube ich, zur damaligen Zeit gelegt. Ich kann mich sehr gut erinnern, den Begriff „Khabeer Zirayi“ damals gehört zu haben. Viele Jahre wollte ich ein Khabeer Zirayi werden. Ich wusste nicht, was er genau tat, nur, dass er mit Pflanzen zu tun hatte. Und der Name klang so gut und wichtig: Khabeer Zirayi, das ist ein Landwirtschaftsingenieur.
Im Garten gab es auch sehr viele Insekten zu sehen. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir rote Wanzen, die weitverbreitet waren und wie ein mit Samt überzogenes Minipolster aussahen, wahrscheinlich aus der Gattung Dinothrombium. Insekten waren nicht nur sichtbar, sondern manchmal auch spürbar. Rida wurde von einem Skorpion gestochen. Das kam so. Es gab eine Stelle im Hof, wo die Erde aus sandigem Lehm war. Es war sehr leicht, darin zu graben, ohne dass die Ränder der „Ausgrabungen“ einstürzten. Wir bauten die Straße zwischen Juba und Yei nach. Es lagen auch einige Steine herum, Rida hob einen Stein auf und schrie. Ich schaute hin und sah einen großen Skorpion und viele sehr kleine Skorpione, die herumkribbelten. Rida hörte nicht auf zu schreien, so rannten wir ins Haus, wo sie versorgt wurde. Ein Skorpionstich ist sehr schmerzhaft und kann, abhängig von der Art, Species, sehr gefährlich werden. Die Art, die es in Juba gab, war angeblich nicht so gefährlich, sodass Schmerzbekämpfung die einzige angesagte Behandlung war.
Ab und zu sind wir nach Yei gefahren. Yei war ein Dorf oder eine kleine Stadt circa 130 Kilometer von Juba. Dort lebten damals Onkel Labib und Tante Suad, mit ihrem Sohn Samir und vielleicht auch ihrer Tochter Ilham, ich weiß nicht, ob sie schon geboren war, als er als Arzt dort arbeitete. Am deutlichsten habe ich von Yei die Erinnerung an Eukalyptusbäume, wahrscheinlich Eucalyptus globulus, die im Garten wuchsen. Ich erinnere mich an die helle Rinde, die sich teilweise sehr leicht hat ablösen lassen, und an das darunterliegende Holz, das einen eigenen rötlichen Ton hatte, und natürlich an den Geruch von Eukalyptusöl. Es gab auch sehr viele Mangobäume, die reifen Mangofrüchte lagen tonnenweise überall am Boden, ein Paradies für Fliegen und andere Insekten, aber auch für allerhand Kleingetier. Wenn ich jetzt in Graz Mangos stückweise kaufe, erinnere ich mich an diese Menge an Früchten, die am Boden einfach verfaulten, aber auch an die guten Sorten, die man hier nie bekommt. Die Sorten, die man hier bekommt, sind eigentlich die schlechtesten Sorten, die, die wir in Sudan nicht aßen.
Von Yei ist mir auch noch das Bad in Onkel Labibs Haus in Erinnerung geblieben. Das Bad lag außerhalb des Hauses und da es kein Wassersystem gab, stand eine Tonne auf dem Dach, die immer wieder mit Wasser aus einem nahen Brunnen befüllt werden musste. In Yei gab es vielleicht drei Autos, die alle drei Tage einmal benutzt wurden. Es gab, wie sonst überall, keine asphaltierten Straßen. Aber eine Kreisverkehrsanlage hat es gegeben! Die Anlage, eine Art Dorfplatz, war groß, mit Blumen in der Mitte und vielen Flaggen rundherum, es können nur britische gewesen sein, die Anlage war eher Dekoration als Funktion.
Oh je, die Skorpione, die Rida gestochen hatten, sind schon lange geflüchtet, bevor ich darüber berichten konnte. Nein, mit Insekten hatten wir niemals Erbarmen. Welche immer das waren, man vernichtete sie auf der Stelle. Insekten waren größere Feinde als Löwen und Krokodile, weil sie allgegenwärtig waren und schmerzhafte Zustände, wenn nicht tödliche Krankheiten verbreiteten und weil sie ihre Attacken heimtückisch, still und leise durchführten, ohne einem die Gelegenheit zu geben, zu flüchten oder sich zu wehren. Nicht nur Malaria hatte man zu befürchten, auch Gelbfieber, Schlafkrankheit und eine Menge anderer Krankheiten wurden von Insekten verbreitet.
B) Krankenhaus, Schule oder Theater?
Nicht nur wegen des Notfalls verbinde ich viele Erinnerungen mit dem Krankenhaus in Juba.
Irgendwann, ich vermute, es war zu Weihnachten, wurde im Krankenhaus Theater gespielt unter der Mitwirkung des Personals. Die Schauspieler spielten hinter einer weißen Leintuchwand, es war also ein Schattentheater. Ich war sehr beeindruckt. Lange Zeit war es mein größter Wunsch, wieder so etwas zu sehen. Es dauerte einige Jahre, bis ich zu meinem nächsten Theatererlebnis kam, es war 1952 in London. Dort durfte ich die Aufführung einer Pantomime erleben, eine Aufführung von „Dick Whittington“. Die Aufführung war so märchenhaft, tolle Kostüme und die Musik, dass ich wünschte, die Vorstellung würde nie aufhören. Es ist eine Märchengeschichte, die im vierzehnten Jahrhundert spielt, von dem Jungen Dick aus ärmlichen Verhältnissen, der einen Kater hat, mit dem er nach London zieht, wo gerade eine schlimme Rattenplage herrscht. Der Kater bringt die Rattenplage so schnell unter Kontrolle, dass Dick zum Bürgermeister von London gewählt wird.
Aber zurück nach Juba, wo auch irgendwann ein Film gezeigt wurde. Woran ich mich besonders erinnern kann, ist die „Röntgenabteilung“. Radiologie scheint meinen Vater Habib sehr interessiert zu haben, denn 1949 ist er nach London gereist, um sich in der diagnostischen Radiologie zu spezialisieren. Er ist der erste sudanesische Radiologe geworden. Habib Abdalla haben technische Sachen immer interessiert. Er hat alles selber repariert, von Kerosinlaternen oder -kochern bis zum Motorrad oder Auto, alles hat er auseinandergenommen und wieder zusammengebaut auch. Spielzeug machte er für mich aus alten Blechkanistern.
Apropos Spielzeug, die einheimischen Kinder haben ihre eigenen Spielsachen gemacht, indem sie aus ihrem Lebensbereich und in Nachahmung der Erwachsenen Dinge kopiert haben. Ich kann mich noch sehr gut erinnern an sehr schöne raffinierte Nachbildungen von Autos und Lastwägen, mit denen die Kinder spielten. Sie machten sie aus dem Mark von einem Gras. Es war ein hoch wachsendes Gras, dessen Rinde weggeschält wurde. Dabei blieben lange Stangen, unserem heutigen Styropor zum Verwechseln ähnlich, übrig. Sie wurden in verschieden lange Stücke geschnitten und mit der in schmale Streifen geschnittenen Rinde zusammengesteckt. Das muss man gesehen haben, es waren künstlerisch hochwertige Meisterstücke. Leider kam kein Mensch auf die Idee, diese Kunstwerke zu fotografieren.
Hier ist das Stichwort „fotografieren“ gefallen. Vater war ein sehr begeisterter und fleißiger Fotograf, der seine Filme selber entwickelte und die Abzüge selber anfertigte. Er hatte eine Kamera, mit der er jeweils nur ein Negativ, das sich in einer dafür bestimmten Kassette befand, belichten konnte.
Jetzt bin ich mehrmals vom Thema abgewichen, habe aber doch einen Bogen über die Fotografie zurück zur Röntgenabteilung im Krankenhaus geschafft! Wie? Das werden wir gleich sehen. Die Röntgenabteilung war ein schlichtes Zimmer mit einem Untersuchungstisch in der Mitte, darüber das Röntgengerät. Die Geräte waren sehr schwer, weil viele Teile aus Gusseisen waren. An einer Seite war ein circa anderthalb Meter hoher schwarzer Kubus, auch aus Gusseisen, ein Transformator mit armdicken Kabeln, die von der Anschlussstelle an der Wand kamen und zum Röntgengerät führten.
An der anderen Seite des Zimmers war eine kleine Dunkelkammer, ein Zimmer im Zimmer, wo die Röntgenbilder entwickelt wurden. In diesem Zimmer habe ich sehr viel Zeit verbracht, als ich im Alter von sieben oder acht Jahren meine ersten Erfahrungen mit der Fotografie sammelte. Es ist sehr dunkel in einer Dunkelkammer, daher der Name! Die Dunkelkammer hatte natürlich keine Fenster und die Tür war durch einen Vorhang so verdeckt, dass ja kein Licht durch Fugen oder Schlüsselloch eindringen konnte. Absolute Dunkelheit. Unheimlich. Man ging hinein, schaltete ein sehr schwaches Rotlicht ein, so schwach, dass man am Anfang gar nichts sehen konnte. Langsam fingen Konturen an zu erscheinen, und wenn die Augen sich einigermaßen an die Dunkelheit und das rote Licht akkommodiert hatten, sah man relativ gut und deutlich. Nur im Dunkeln konnte man das Fotomaterial, welches gegen Rotlicht unempfindlich war, vor Beschädigung durch unerwünschte Lichteinwirkung schützen. Es gab einige Behälter für die Chemikalien, die für die Entwicklung und Fixierung von Fotomaterial notwendig waren.
Für alle, die im Zeitalter der Digitalfotografie geboren wurden und die Fotografie auf Basis von lichtempfindlichen Silberverbindungen nicht erlebt haben, hier eine kurze Erklärung. Irgendein aufmerksamer Mensch beobachtete, wie bestimmte Silberverbindungen unter dem Einfluss von Licht schwarz wurden. Daraus entwickelte sich ein Verfahren, Silberverbindungen auf Zellulose oder Papier aufzutragen. So entstanden die Vorlagen für Negative und Abzüge. Sie mussten vor Licht geschützt in den Fotoapparat kommen und nach der Belichtung wurden durch eine Chemikalie, den Entwickler, die nicht belichteten Teile der Silberverbindungen entfernt.
Ich war fasziniert von den Bildern, die langsam auf den belichteten Blättern unter der Einwirkung der Entwicklerflüssigkeit erschienen. Die Filme, die zuerst im schwachen Rotlicht in der Dunkelkammer undurchsichtig erscheinen, fangen an, Konturen zu zeigen und werden durchlässiger. Wir haben dort nicht nur Röntgenbilder, sondern auch unsere Fotos entwickelt, sodass ich mit sieben oder acht Jahren schon mit einem Vergrößerungsapparat umgehen konnte. Später baute Vater einen leistungsfähigeren Vergrößerungsapparat unter Verwendung des auf Balgen (zusammengefaltete Konstruktion, die man auseinanderziehen kann, wie bei einem Akkordeon bzw. einer Ziehharmonika im Kleinformat) montierten Objektives eines alten Fotoapparats für die Dunkelkammer.
Als Vater seine Ordination bzw. Arztpraxis später in Khartum aufmachte, übernahm ich (gegen Bezahlung! Kinderarbeit?, habe ich aber freiwillig und sehr gern getan) für mehrere Jahre die Entwicklung der Röntgenaufnahmen. Auch dort entwickelten wir unsere Filme selber. Auch später in Graz habe ich weiter, natürlich schwarzweiße, Bilder entwickelt: Es gab im Afroasiatischen Institut eine Dunkelkammer, die man gegen einen geringen Betrag benutzen durfte.
Und auch das gehört zu meinen Erinnerungen an das Krankenhaus in Juba: An vielen Tagen saß ich im Büro meines Vaters – nicht freiwillig – an seinem Tisch mit einem Heft vor mir. Ich musste entweder lesen oder schreiben. Das war so, weil es zur damaligen Zeit keine Schulen in Juba gab, oder nicht solche, die mein Vater für geeignet hielt, seine Erwartungen für mich zu erfüllen. Das Büro war sehr geräumig mit zwei massiven Schreibtischen, an einem saß ich, während Vater seine Arbeit erledigte.
Vater war nicht der einzige Arzt im Krankenhaus, es waren auch andere Ärzte da, zum Beispiel Onkel Labib oder der Freund meines Vaters Suleiman Bassyouni. Aber er war der „Chefarzt“ und als solcher für alles verantwortlich. Er war im Ambulatorium, bei der Visite, er übernahm die Rolle des Röntgenologen, er war der Chirurg, er musste die Obduktionen vornehmen und auch bei Hinrichtungen dabei sein. Das muss ihn sehr belastet haben, obwohl ich mich nicht an einzelne Ereignisse erinnern kann, war er an solchen Tagen sehr still. Aber auch die Tätigkeit als Chirurg muss sehr bedrückend gewesen sein. Er erzählte von den fürchterlichen LKW-Unfällen, die sehr häufig passierten, weil die Straßen sehr schlecht, die Fahrer nicht ordentlich ausgebildet waren oder unverantwortlich handelten, z.B. betrunken gefahren sind. Wir Kinder sind auch mit zu den total demolierten und mit Blut verschmierten LKW-Wracks gefahren. Warum? Entweder wollte Vater uns die Konsequenzen von unverantwortlichem Handeln zeigen oder wir waren zufällig dabei.
Das Krankenhaus war für mich die Universal-Bildungsanstalt. Wie lang ich in Vaters Büro tatsächlich bleiben musste, weiß ich nicht mehr, aber es war eine Ewigkeit. Der Eindruck von Langeweile ist bis heute noch sehr gegenwärtig, und doch war es nicht die ganze Zeit so. Ich hatte ein Buch mit Zeichnungen von pharaonischen Tempeln und mit Bildern von Menschen aus damaliger Zeit. Die Geschichten über die Pharaonen und über das Leben damals haben mich sehr aufgewühlt, genauso wie die Märchen, die mama uns vorlas. Ich habe immer lange über diese Geschichten gegrübelt und mir alles sehr real vorgestellt, so, als ob ich dort sei, ich habe mich in diese Zeit versetzt und alles richtig miterlebt. Bis heute finde ich alles, was mit der pharaonischen Geschichte zu tun hat, sehr faszinierend, die Tempel, die Zeichnungen, die Malerei, die Papyri, die Hieroglyphen. Umso mehr bedaure ich, dass ich sehr wenig von diesen historischen Sehenswürdigkeiten gesehen habe. Dabei hatte ich doch Glück. Den Tempel von Abu Simbel konnte ich noch an seinem Originalstandort besuchen, bevor er in den 1960er Jahren versetzt wurde. Bei einer unserer vielen Reisen nach al-Giza zu den Großeltern in Ägypten hat das Nilboot bei Abu Simbel einen Halt gemacht und die Passagiere konnten an Land gehen. Die Anlage war nicht weit vom Ufer. Gewaltig! Eine Erfahrung, die man nie mehr vergessen kann. Leider durften wir nicht in den Tempel hinein, aber schon die Fassade mit den riesigen Statuen ist eine Reise wert. Man fühlt sich so winzig klein daneben.
C) Bildung und Kultur in Juba
Noch etwas wollte ich über meinen Heimunterricht erzählen: Ich bekam auch Unterricht in englischer Sprache. Ich hatte ein Englischbuch mit vielen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Damit ich die Vokabeln leichter lernte, erfand Vater rhythmische Wortkombinationen, die ich oft wiederholen musste, um die Wörter in mein Gedächtnis einzuprägen. Eine ist mir in Erinnerung geblieben: „Fig-teena, pin-dabbuus“: „Feige = teena, Nadel = dabbuus“.
Diese Methode, etwas umgewandelt, hat er auch später verwendet, um uns Melodien aus Beethovens Werken, aber auch aus anderen Kompositionen einzuprägen. Er sang die Melodie mit eigens dafür erfundenen Sätzen immer wieder, sodass ich mich bis heute an manche seiner Worte erinnere, wenn ich die Musik höre. Vater war ein großer Liebhaber europäischer klassischer Musik.
In Juba hatten wir ein „His Master’s Voice“-Grammophon und viele „Schellacks“ bzw. Schellackplatten mit klassischer und mit ägyptischer Musik. Da ich mit dem Titellesen und -merken Probleme hatte, markierte ich die Schellacks, die mir gefielen, mit einer Kritzelei am Label. Einige Schellacks aus den 1950er Jahren habe ich noch immer.
Aber was ist ein Grammophon? Und was sind Schellacks? Für die Nachgeborenen, die so ein Gerät noch nie gesehen haben: Ein Grammophon war so etwas wie ein in Größe und Betriebsweise sehr umständlicher „MP3-Player“ zur Zeit meiner Kindheit. Das Grammophon war eine rein mechanische Vorrichtung, bestehend aus einem mechanischen Laufwerk, das durch eine Feder, die immer wieder gezogen werden musste, einen Teller zum Drehen brachte, auf den die Schallplatte gelegt wurde, und dem Tonabnehmer. Er bestand aus einer auf einem langen Arm befestigten Stahlnadel, die in die Rillen der sich drehenden Platte gesetzt wurde. Die Nadel lief die Spiralrillen entlang von außen nach innen und tastete die in die Rillen eingeritzten Töne ab und übertrug sie auf eine Membran. Die dadurch verursachten Schwingungen der Membran erzeugten Schallwellen, die durch einen großen geschwungenen Trichter verstärkt und so hörbar gemacht wurden.
Schellackplatten, in der Umgangssprache Schellacks oder einfach Schallplatten genannt, waren Scheiben, die in zwei Größen, zehn und zwölf Zoll, zu haben waren. Sie haben diesen Namen bekommen, weil zumindest ihre Oberfläche mit einem harzigen Lack namens Schellack überzogen war, das aus den Ausscheidungen einer Laus gewonnen wurde, einer Laus, welche besonders zahlreich in Thailand vorkommt. Auf diesen Schellackplatten wurde Musik aufgenommen, derart, dass die Musik durch die Wirkung einer Nadel wellige Ritzen in Rillen auf die Plattenoberfläche geprägt hat, sodass die Platte durch Abspielen auf einem Grammophon die Musik wiedergeben konnte.
Mama legte nur Schellacks mit ägyptischer Musik auf und Vater nur die mit klassischer Musik, daran kann ich mich erinnern, aber nicht an die Musik selbst, obwohl mir einige Stücke sehr gut gefielen. Die ersten Musikstücke, an die ich mich sehr gut erinnern kann, stammen aus einer späteren Zeit, da war ich schon elf Jahre alt. Es sind dies, aber benennen konnte ich die Musikstücke erst viel später, als erstes Mozarts Fagottkonzert in B-Dur op. 191, Vincenzo Bellinis Oboen-Konzert in Es-Dur und eine Sonate von Domenico Scarlatti, die Sonate in E-Dur K 380 (Longo-Verzeichnis 23) – unbedingt auf dem Cembalo gespielt, bis heute für mich eine der schönsten Kompositionen, die es überhaupt gibt, die mich jedes Mal zu Tränen rührt. Es ist ein in seiner Vollkommenheit in Worte nicht fassbarer Ausdruck der Zärtlichkeit, begleitet von Sehnsucht und stiller Trauer. Aber die Sonate ist so großartig, dass sie auch auf jedem anderen Instrument gespielt wunderschön klingt.
Diese Sonate hatte ich in London im Radio gehört. Es hat mich jahrelang gequält, dass ich von der Komposition keinen Titel wusste und den Komponisten nicht kannte, bis ich zehn Jahre später entdeckte, dass es eine Sonate von Scarlatti ist. Ich weiß nicht, ob jemand sich vorstellen kann, was das für eine Qual ist, wenn Musik dauernd im Gehirn herumgeistert, ohne dass man sie wirklich hören kann. Das erlebe ich oft, ich wache auf in der Früh und das Erste, was ich wahrnehme, ist eine Melodie in meinem Kopf. Ich muss das Stück hören, sonst schwirrt es in meinem Kopf den ganzen Tag herum. Eines Tages hat mich mein Freund Khalid angerufen, es muss 1957 gewesen sein, und spielte mir am Telefon eine Schallplatte vor. Die Melodien, die ich da hörte, haben sich sofort in meinem Gehirn festgesetzt und es nie mehr verlassen. Es war Beethovens neunte Symphonie.
Aber zurück nach Juba. Ich genoss zu Hause nicht nur „Schulbildung“ und musikalische Bildung, sondern auch eine allgemeine Bildung. Es gab ein großes Bücherregal, in dem ich sehr gerne stöberte, weil es viele Bücher mit interessanten Bildern gab. Besonders interessiert hat mich ein Buch mit vielen Abbildungen von Fischen, mein Vater war ein sehr fleißiger Angler. Wir sind sehr oft am Nilufer gesessen, haben dort lange Stunden verbracht und viele Fische geangelt. Gefischt haben wir später auch während der Nilfahrten von Juba nach Kosti bzw. von Kosti nach Juba. Die Reisen dauerten mehrere Tage, mit vielen mehrstündigen Stopps an verschiedenen Orten, um Reiselustige einsteigen bzw. aussteigen zu lassen oder Waren aufzuladen bzw. zu entladen. Was tun während dieser langen Aufenthalte, um die Langeweile zu vertreiben? Angeln! Natürlich könnte man das aufgeregte Treiben der Menschen zwischen Schiff und Anlegeplatz beobachten, aber doch nicht vier oder fünf Stunden lang. Da war angeln befriedigender.
Es gab noch eine andere Quelle, um die Nahrung abwechslungsreicher zu machen und die Freizeit spannender, nämlich die Jagd. Geschossen wurde mit einer Schrottflinte mit Doppellauf nur auf Tauben und Hasen. Diese Flinte muss daheim leicht zugänglich abgestellt gewesen sein, weil ich eines Tages die Flinte nahm, lud und auf einen Schwarm Vögel im Garten schoss. Mit einer Schrottflinte auf einen Vogelschwarm vom Boden aus zu schießen, ist eine todsichere Sache. Es fallen immer ein paar Vögel tot um. Ich tat es nie mehr wieder.
Zum Jagen sind wir ein paar Kilometer außerhalb Jubas gefahren. Das Gelände, eine Baumsavanne, bot offene Flächen, wo Vogelschwärme Samenkörner vom Boden pickten. Darunter waren immer Tauben oder Rebhühner. Es war sehr aufregend, hier herumzugehen, die vielen verschiedenen Büsche und Bäume und duftenden Gräser anzuschauen. An Tieren gab es meistens Mäuse oder ihre Verwandten, eine Schlange, ab und zu ein Hase, aber auch sehr viele verschiedene Vögel. Die Farbe des Bodens dort änderte sich sehr oft. Meistens war er rot mit schotterbedeckten Stellen. Dort, wo sich das Wasser offensichtlich kleine flache Betten gebahnt hatte, war die Erde braun bis schwarz. Es gab viele solcher Flächen, die mit feinem Sand oder Lehm bedeckt waren, da es neun Monate des Jahres häufig regnete.
Wo bleibt die Kultur?
Für Kultur und allgemeine Bildung sorgten jede Menge englische und arabische Zeitschriften, die überall im Haus herumlagen. Ich habe in zwei ägyptischen Wochenzeitschriften, Achir-Saa und Al-Mussawar, sehr gern geblättert, weil sie reich bebildert waren, meistens mit Bildern von Schauspielern und Sängern. Es gab aber auch oft Bilder und Berichte über den ägyptischen König Faruk, damals auch König Sudans. Über Faruk haben die Erwachsenen oft geredet. Sehr oft in Verbindung mit Faruk fiel der Name Mustafa an-Nahhas Basha, damals Ministerpräsident. Es gab zwischen den Erwachsenen sehr lange und heftige politische Diskussionen. Namen wie Hitler, Mussolini, Churchill, Mossadegh sind sehr oft gefallen und mir in Erinnerung geblieben.
Ein Buch, das mich faszinierte, war ein Anatomiebuch. Darin blätterte ich häufig, ohne einen direkten Bezug zu meinem eigenen Körper herzustellen. Ich habe mir nämlich vorgestellt, dass mein Bauch voll von parallel verlaufenden Schläuchen ist! Die Zeichnungen von den Knochen empfand ich damals als besonders schön. Später studierte ich in Graz mit Begeisterung Anatomie, aber Arzt wollte ich trotzdem nicht werden.
Meine frühe Kindheit fällt in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Im Juni 1940 haben italienische Truppen die britische Armee in Somaliland (wie es damals hieß) und Sudan angegriffen. Da Sudan und Ägypten damals unter britischer Herrschaft litten und der Nationalismus viel an Schwungkraft gewonnen hatte, glaube ich, dass die Sympathien der Bevölkerung eher auf deutscher (also auch italienischer) Seite waren. Ich kann mir vorstellen, dass etwaige Berichte über Konzentrationslager und Gräueltaten in Deutschland als Kriegspropaganda verstanden und missachtet wurden. Aber das ist nur eine Vermutung. Ich kann mich erinnern, dass ich in den 1950er Jahren einige Bücher über den Zweiten Weltkrieg las, darunter welche über Göring, Goebbels und andere. Damals waren diese Personen mir nicht unsympathisch. Die Propaganda gegen die Engländer war Anfang der 1950er Jahre in Sudan an ihrem Höhepunkt angelangt und es wurde von nichts anderem als von Befreiung und Unabhängigkeit geredet und geschrieben. Die Engländer waren die Feinde, und der Feind deines Feindes ist dein Freund. Auch dann, wenn er vernichtend besiegt wurde.
Aber zurück zu meiner frühen Kindheit. In den 1940er Jahren versteckten die Engländer einen Teil ihrer Royal Air Force in Juba, Es gehörte für uns zur Freizeitgestaltung, zum Flughafen zu fahren, um die Flugzeuge anzuschauen. Warum hatten wir so leicht Zugang zu diesen militärischen Anlagen? Heute wäre es undenkbar, Zivilisten einfach auf einem Militärflughafen spazierengehen zu lassen. Der Name Spitfire ist mir von den Besuchen in Erinnerung geblieben, damals war das die am meisten verwendete Jagdmaschine der Royal Air Force. Daheim blätterte ich oft in einem Buch mit vielen Abbildungen von Militärflugzeugen.
Ich war auch Zeuge eines historischen Ereignisses, der „Juba-Konferenz“. Im Juni 1947 hat die britische Verwaltung in Sudan eine Konferenz einberufen, um die Zukunft Südsudans zu diskutieren. Von 1930 bis 1947 haben die Engländer Nord- und Südsudan als zwei getrennte politische Einheiten verwaltet. Da sie aber annahmen, dass Südsudan ohne Nordsudan nicht lebensfähig sei, haben sie bei dieser Konferenz die Einheit der zwei „Staaten“ propagiert. Die Nordsudanesen waren auch dafür, so wurden die südsudanesischen Delegierten, die Bedenken geäußert hatten, umgestimmt – durch eine Einladung meines Vaters zu sich nach Hause. Er war auch Delegierter und unterstützte die Einheit Sudans. Tim Niblock, mein britischer Schwager, der emeritierter Professor für Studien des Nahen Ostens und des Islam ist, behauptet, die Einladung habe sehr viel dazu beigetragen, die Südsudanesen umzustimmen, da mein Vater, der 17 Jahre als Arzt in Südsudan gearbeitet hatte, weit bekannt und beliebt war und großes Vertrauen unter den Südsudanesen genoss (Tim Niblock: Class and Power in Sudan. The MacMillan Press Ltd. 1987. S. 318–319, Anmerkung 170).
Mein Vater nahm mich mit zur Konferenz, wahrscheinlich ist die ganze Familie mitgefahren. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass die Konferenz mindestens zum Teil im Freien an einem großen offenen Platz in Juba abgehalten wurde. Jetzt denke ich, dass das, woran ich mich erinnere, nur die Eröffnungs- oder die Abschlussfeier war. Es haben Menschen aus verschiedenen Stämmen getanzt, die Stammeshäuptlinge saßen auf ihren eigentümlichen einbeinigen Sesseln oder Hockern, geschmückt mit bunten Federn und Glasperlenketten auf dem Kopf und mit langen Speeren in der Hand, während die Engländer dort in ihren Khakiuniformen, kurzen Hosen und Wadenstrümpfen saßen, mit der eigentümlichen helmartigen Kopfbedeckung aus mit Khaki überzogenem Kork.
Leider haben sich die Dinge letztendlich nicht so entwickelt, wie sich Vater es meiner Meinung nach gewünscht hätte. Die jüngste Geschichte und die aktuellen Ereignisse, Thema in der täglichen Berichterstattung, zeigen ein sehr düsteres Bild, eine krankhafte Selbstzerstörung: lange Jahre Bürgerkrieg, Millionen von Toten, entwurzelten Einwanderern und Vertriebenen. Und selbst jetzt, wo Südsudan unabhängig ist, gibt es keine Entwicklung zum Besseren, das Land ist nicht lebensfähiger als 1947.
Aber zurück zu meiner Familie, zu Onkel Labib. Der wohnte zeitweise in dem Haus schräg hinter unserem, mit Tante Suad und Samir. Ich weiß nicht, ob Mimi, so nannten wir Ilham, damals schon geboren war oder nicht. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter mit Tante Suad ein Arrangement getroffen hatte, das den beiden Frauen Vorteile brachte. Mama bereitete eine Woche lang das Essen für beide Familien vor und Suad übernahm dann die nächste Woche diese Pflichten. Ich sagte „für beide Familien“, das ist anders als bei der europäischen Auffassung von Familie: Vater, Mutter, Kinder. Hier zeigt sich, wie ein Begriff verschiedene Bedeutungen haben kann. Habib und Labib waren Brüder. Habib und Labib sind Mitglieder einer Familie. Nach ägyptisch-sudanesischer Sicht erstreckt sich die Familie auf alle ihre Vorfahren und Nachkommen.
In diesem Haus habe ich meine ersten Doktorspiele erlebt. Meine Eltern und Familie Labib hatten gemeinsame Freunde, die Familie Dawood Basyouni, er war der Bruder von dem Arzt Suleiman Basyouni. Dawood und Alegra Basyouni hatten damals zwei Töchter. Die älteste, Lily, war einige Monate jünger als ich. Die Familien trafen sich oft, an Wochenenden verbrachten sie den ganzen Samstag oder Sonntag zusammen. Die Erwachsenen spielten alle leidenschaftlich Whist, sie haben den ganzen Tag gespielt und dabei heftig gestritten und waren so vertieft in das Spiel, dass sie uns Kinder völlig vergessen haben. Wir sind einfach in ein anderes Zimmer gegangen und haben eben Doktor gespielt, uns ausgezogen (natürlich nur teilweise) und uns gegenseitig „Spritzen“ verpasst. Ich kann mich allerdings überhaupt nicht daran erinnern, ob da irgendeine sexuelle Komponente eine Rolle spielte oder Lustempfindungen. Aber an Lily kann ich mich in einem anderen Zusammenhang sehr gut erinnern. Lily und ich lagen zusammen in einem Bett in der Veranda, das unser Schlafzimmer war. Wir kuschelten aneinander und es war einfach ein wunderschönes Gefühl.
Was ist für Kinder „sexuell“ und was nicht, bis zu ihren zwölften Lebensjahr, bis zum Anfang der Pubertät? Wenn die Erwachsenen keine Affäre daraus machen, sind für Kinder alle Körperteile gleich interessant, oder auch nicht. Kinder erkunden ihre Körper und den Körper der Menschen, die sie umgeben, so wie auch ihre Stofftiere oder was auch immer sonst ihre Aufmerksamkeit gerade erregt. Der Mund kommt wahrscheinlich als erster dran. Das Erste, was ein Baby spürt, ist Hunger, und Hunger wird durch den Mund, durch den Kontakt zur Mutterbrust befriedigt. Es sind sehr angenehme Empfindungen damit verbunden. Darum wird alles, was ein Baby in seine kleinen Hände bekommt, zuerst einmal in den Mund gesteckt. Nach und nach werden andere Organe erkundet und irgendwann auch die Ausscheidungsorgane. Diese haben für Erwachsene noch einen anderen, einen sexuellen Bezug. Für das Kind ist das erst einmal nicht der Fall, es interessiert sich zuerst lediglich dafür, dass da etwas aus ihm herauskommt, was es nicht übersehen kann. Es mag sein, dass die Erleichterung, die dabei zu spüren ist, die Entspannung, die dabei eintritt, auch als lustvoll empfunden wird. Die Betonung liegt sicher zuerst auf der Entspannung, Lust entwickelt sich etwas später. Ich glaube, dass es einem Kind erst im Alter von circa sechs Jahren bewusst wird, dass diese Teile seines Körpers besondere angenehme Empfindungen bescheren können. Neugier mischt sich mit einer langsam sich herauskristallisierenden Lustempfindung, die es schwer macht, das Tun der Kinder richtig einzuordnen. War das jetzt Lust oder Neugierde? Und ist es wichtig, da einen Unterschied zu machen? Nur dann, wenn frau oder man die Sache mit der moralischen Keule angehen will.
Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, es war um 1976 herum, ein Familientreffen in Khartum, es waren circa 40 Personen anwesend. Wir saßen alle in einem großen Kreis. Vor mir saß die sechsjährige Tochter eines Cousins, neben ihr zwei andere Kinder. Ich konnte nicht hören, was die Kinder sagten, aber ich sah, wie das Mädchen ihr Höschen beiseiteschob und ihrer Nachbarin ihre Vulva zeigte. Die Mutter des Mädchens saß neben mir auf der anderen Seite. Sie hat das Geschehen auch beobachtet, stand auf, ging zu ihrer Tochter und schlug auf sie so heftig ein, dass ich mich gezwungen sah, mich einzumischen und die Mutter zurückzuhalten. Was soll ein Kind denken oder empfinden angesichts einer solchen Reaktion seiner Mutter?
Noch einige Jahre später, es war 1982, wenn ich mich recht erinnere, sind wir mit einem befreundeten Paar, das zwei Kinder im Alter von drei und vier Jahren hatte, an die Küste in Istrien zu einem FKK-Strand gefahren. Eines Tages lagen wir am Strand und schauten um uns herum. Einige Meter weiter lagen zwei (für mich damals) ältere Leute, eine Frau, ein Mann und zwei Kinder, ein Bub circa neun und ein Mädchen circa acht Jahre alt, offensichtlich Großeltern mit ihren Enkelkindern. Der Bub spielte im Sand ein paar Schritte weiter. Das Mädchen nahm eine Flasche Sonnencreme und fing an, den Opa, der auf den Rücken lag, sorgfältig einzucremen. Sie fing beim Gesicht an und arbeitete sich langsam seinen Körper hinunter. Wir vier Erwachsenen schauten erst richtig gespannt hin, als sie zu seinem Bauch kam. Was kommt jetzt?, war die Frage, die sicher nicht nur in meinem Kopf auftauchte. Das Mädchen machte ganz seelenruhig und natürlich weiter und nahm Opas Penis in die Hand und cremte ihn genauso sorgfältig ein. Der Opa war offensichtlich sehr verlegen, schaute links und rechts und wusste nicht, was er tun soll, aber er behielt die Nerven, bis sein Penis anfing, eine Reaktion zu zeigen, da drehte er sich langsam um, legte sich auf seinen Bauch und das Mädchen cremte seinen Rücken weiter ein. Was will ich damit sagen? Einfach dies: Kinder unterscheiden nicht zwischen Körperteilen, sie teilen sie nicht in Kategorien von „Berührbare“ und Unberührbare oder Reine und Unreine, von erlaubt und verboten, zumindest nicht bis zur Pubertät. Erst die Reaktion der Erwachsenen kann sie zu einer bestimmten Haltung bewegen oder zwingen. Für ein Kind ist die zärtliche Berührung der Mutter oder einer vertrauten Person lustvoll, ob die Hand, der Popo oder sonst was berührt wird.
In indirektem Zusammenhang mit Sexualität oder besser dem Schweigen darüber steht folgende Geschichte. Die Eltern zogen sich nachmittags ins Schlafzimmer zurück. Ich oder wir, ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Geschwister zu damaliger Zeit, spielten in der Veranda nebenan. Eines Tages vernahm ich Geräusche, die auf ein heftiges Geschehen im Zimmer schließen ließen und auch solche, die als Ausdruck von Schmerz gedeutet werden konnten. Ich deutete sie so. Die Folge war, dass ich für sehr viele Jahre ein Misstrauen gegen meinen Vater hegte und Furcht vor ihm, weil er meiner Mutter wehtat, wie ich dachte. Erst zwei Jahrzehnte oder noch später kam ich darauf, was für ein Irrtum mir unterlaufen ist, wie falsch meine Interpretation des Geschehens damals war. Das kommt davon, wenn frau oder man Kinder im Dunkeln lässt und ihnen wichtige Dinge des Lebens nicht erklärt. Noch einige Jahrzehnte später erzählte uns eine Freundin, bei deren Familie Liebe und Sex nicht zum Schämen und Verstecken waren, dass das Einzige, was die damals sechsjährige Tochter dazu zu sagen hatte, war: „Mama, warum grunzt der Papa so in der Nacht?!“
D) Von Freigängern und Kupferverzinkern
Es gab in Juba ein Gefängnis. Die Gefangenen mit den leichteren Delikten wurden als Freigänger Beamten oder Institutionen zugeteilt und mussten dort die Aufgaben verrichten, zu denen man sie eingeteilt hatte. Unser Freigänger hieß Lado und war ein großer, kräftiger Mann, der hauptsächlich Gartenarbeiten verrichtete, aber auch zum Wäschewaschen oder Bügeln eingeteilt wurde. Zum Wäschewaschen brauchte man damals ein „Tisht“. Ein Tisht war eine runde Wanne aus Kupfer von bis zu 1,5 Metern Durchmesser mit Seitenwänden von bis zu 30, vielleicht 35 Zentimetern Höhe. Die Wanne hatte aber eine silberne Farbe, von dem Kupfer sah man nur nach sehr langem Gebrauch hie und da Flecken, weil der Zinn, mit dem die ganze Wanne überzogen war, langsam abgerieben war. Es gab Spezialisten, die von Haus zu Haus gingen, um Kupfergefäße zu verzinnen, auch die Kochtöpfe und Pfannen, weil auch die aus Kupfer waren – heutzutage ein Vermögen.
Der Kupferverzinner erinnert mich an andere herumwandernde Spezialisten: die Messerschleifer und die, die … die …, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Nennen wir sie Matratzenrenovierer. In Sudan, auch in Ägypten, waren alle Matratzen und Polster mit Baumwolle gefüllt. Klar, in beiden Ländern hat man Baumwolle in riesigen Mengen produziert. Aber Baumwolle als Füllmaterial für Matratzen hat einen Nachteil, sie wird über kurz oder lang zusammengedrückt, verfilzt und verklumpt sich ungleichmäßig, die Matratze wird hart, nicht lustig. Der M-Renovierer nimmt die Baumwolle heraus, haut darauf mit einem langen, dünnen Bambusrohr und die Baumwollklumpen fliegen in Flocken auseinander. Das muss man gesehen haben. Wenn der M-Renovierer kam, wurde ein Zimmer ganz ausgeleert und der ganze Inhalt sämtlicher Matratzen und Polster auf einen Haufen geworfen. Der Mann hatte mindestens einen Assistenten dabei und sie fingen an, abwechselnd rhythmisch auf den Haufen zu hauen: Die Fetzen flogen und verteilten sich gleichmäßig über den ganzen Raum. Es dauerte den ganzen Tag, bis die Matratzen wieder gefüllt und zugenäht waren, danach war es wieder lustig, darauf zu liegen. Für uns Kinder war das ein Erlebnis, wie ein Besuch in Disneyland für Kinder heute. Der Kupfermann war auch sehenswert, aber nicht halb so spektakulär wie der Matratzenrenovierer.
Aber zurück zu Lado: Ich kann mich an Lado deswegen noch gut erinnern, weil er eine wichtige Rolle bei meinen Versuchen, das Fahrradfahren zu lernen, spielte. Irgendwann bei einem Besuch in Khartum hatte ich angefangen, Radfahren zu lernen. Es gab keine Kinderfahrräder und natürlich auch keine Frauenfahrräder, sodass Kinder Männerfahrräder benutzen mussten, indem sie ein Bein durch den Fahrradrahmen hindurch steckten und das Fahrrad ein bisschen schräg hielten. So konnten Kinder auch Rad fahren. Es sah aus wie eine kleine Zirkusnummer. Oder man, besser gesagt kind, konnte über den Rahmen steigen, sich aber natürlich nicht hinsetzen. So fuhr kind stehend Rad. Das Problem bei dieser Methode war, dass man zum Aufsteigen und Absteigen gestützt werden musste. Aufsteigen ging, wenn man das Fahrrad an eine Mauer lehnte, Absteigen war fast nicht möglich, man musste schon sehr geschickt sein, um nicht mit der Mauer zu kollidieren oder sich bei so einem Manöver keine Abschürfungen zuzuziehen. Das Problem war gelöst, sobald es jemanden gab, der einen stützen konnte. Der Urlaub in Khartum war sicher nicht lang genug, um ein perfekter Radfahrer zu werden. In Juba hatte ich auch nur ein Erwachsenenfahrrad zur Verfügung und da trat Lado ins Spiel. Lado stützte das Fahrrad für mich zum Aufsteigen und wenn ich absteigen wollte, rief ich: „Lado, Lado“. Und Lado kam dahergerannt und fing mich auf.
Autofahren hatte auch seine Tücken. Es gab in ganz Südsudan keine asphaltierten Straßen und auch nicht in den angrenzenden Staaten. Außer auf ein paar präparierten Pisten musste man einfach durchs Gelände fahren. Nicht vergessen, wir sind in Equatoria, da regnet es öfters. Die Straßen oder Wege kreuzten oft kleinere oder größere Bäche. Natürlich gab es da auch keine Brücken. Die Autos oder Lastwägen mussten einfach durchfahren. Je nach Größe des Baches, je nach Breite und Tiefe, war die Spannung bei der Überquerung. Man konnte manchmal einfach drüberfahren, manchmal mussten Passagiere aussteigen und zu Fuß queren, während der Fahrer mit dem Auto alleine durch die Fluten fuhr. Ich habe ein Foto, auf dem ein Haufen Menschen ein Auto durch einen größeren Bach schiebt.
Aber die Reisen in Südsudan waren nicht nur deswegen aufregend, es gab oft wilde Tiere zu sehen. Einmal durchquerte eine laufende Büffelherde die Straße nur wenige Meter vor unserem Auto. Vater war rechtzeitig stehen geblieben, weil wir schon vorher den Lärm gehört und die Staubwolke gesehen hatten. Es war furchterregend, nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir mitten in diese Herde aus mehreren hundert Büffeln geraten wären.
Wir sind oft herumgereist, ich weiß, dass wir in Maridi, Torit, Kapoita, Wau, Rumbek, Yambio und sicher noch ein paar anderen Orte waren. Es gab sehr viele Fotos von dieser Zeit, Vater war ein begeisterter und fleißiger Fotograf. Die Fotos haben wir in der Dunkelkammer im Krankenhaus ausgearbeitet. Es hat sehr viele Bilder gegeben. Die meisten dieser Bilder gibt es leider, leider, leider nicht mehr. Das kam so:
Viele Jahre später, es muss 1953 gewesen sein, wohnten wir in Khartum. Wir hatten nacheinander mehrere Hunde. Der erste, einige wenige Monate alt, fragt mich nicht, welche Rasse, in Sudan gab es wahrscheinlich nur Mischlinge, jedenfalls mit weißem, weichem flauschigem Fell, sehr spielerisch, ist auf die Straße gelaufen und wurde vom einzigen Auto, das an diesem Tag in dieser Straße fuhr, vor unseren Augen niedergefahren und war auf der Stelle tot. Wir Kinder weinten sehr, aber es gab einen nächsten Hund. Er war ein bisschen älter, aber doch noch sehr verspielt. Dieser Hund erwischte einmal einen Polster und zerfetzte ihn. Er war mit Baumwolle gefüllt. Die Baumwollfetzen lagen über das ganze Zimmer verstreut, und es war Vater, der das Vergnügen hatte, sie zu entdecken und wegzuräumen. Er sammelte das Zeug und trug es in eine Abstellkammer, wo ich am selben Tag in einem Koffer voller Bilder herumgestöbert und den Koffer offen gelassen hatte. Im Koffer waren viele hundert Fotos. In diesen offenen Koffer schmiss Vater die Baumwollhaufen. Vater hat damals geraucht … Ahnt ihr schon etwas? Wahrscheinlich ist Asche – leider – von seiner Zigarette hinuntergefallen. Es brach kein Feuer aus, die Baumwolle glühte einfach vor sich hin. Damals fuhr ich mit dem Fahrrad in die Schule. Als ich mein Fahrrad in der Früh aus dem Abstellraum nehmen wollte, öffnete ich die Tür und erstickte fast in einer dichten Rauchwolke.
Das Schlimme war, dass sowohl die Abzüge als auch die Negative im selben Koffer waren. Wenige Bilder konnten gerettet werden. Ich fühlte mich auch schuldig, weil ich den Koffer offen gelassen hatte. Vater zog seine Konsequenzen daraus und hörte mit dem Rauchen auf.
Ach ja, ich weiß nicht, was mit diesem Hund passierte; ich weiß nur, dass der nächste, der dritte und letzte Hund, nicht mehr ins Haus durfte; er lebte nur einige Monate. Eines Tages legte er sich unter einem Baum im Garten hin und wollte den ganzen Tag nicht aufstehen. Am nächsten Tag war er tot. Wir haben sehr viel getrauert um diese Hunde und so beschlossen wir, keine Haustiere mehr zu haben.
Ich erzählte schon vom Besuch bei Onkel Labib in Yei. Yei war nur etwa 30 bis 40 Kilometer von der Grenze sowohl zu Uganda als auch zum damaligen Belgisch-Kongo entfernt. Eines Tages sind wir nach einer kleinen Stadt namens Aba in Belgisch-Kongo gefahren. Dort sah ich etwas sehr Verstörendes. Ich sah lange Kolonnen von Menschen, die mit Eisenketten aneinandergekettet waren, die Straße entlang gehen. An diese Szene habe ich mich jahrelang immer wieder erinnert.
In den späten 1950er Jahren gab es in Khartum eine Buchhandlung, von einer griechischen Familie namens Falanginis geführt. Der Sohn war ein Schulkollege von mir, ich hatte dort Kredit, natürlich mit Vaters Einverständnis. Ich konnte mir jederzeit Bücher holen und am Ende des Monats zahlte Vater die Rechnung. Ich war die fleißigste Leseratte, die es jemals in Sudan gab. Ich las hunderte von Büchern: die klassische englische Literatur, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, Shakespeare, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling, J. B. Priestly, die Brontë-Schwestern und viele andere. Ich las relativ wenige französische Autoren, u.a. Dumas und Hugo, und auch Russen wie Tolstoi und Dostojewski in englischer Übersetzung. Interessanterweise kannte ich von den Deutschen nur Philosophen: Kant, Hegel, Karl Marx, Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und aus Österreich nur Sigmund Freud. Meine erste Begegnung mit amerikanischen Autoren war durch die American Library, die ungefähr 1956 in Khartum eröffnet wurde. Dort habe ich Autoren wie Ernest Hemingway, Tennessee Williams, William Faulkner, John Steinbeck kennengelernt und später ihre Bücher und auch die von Nathaniel Hawthorne, Herman Melville, F. Scott Fitzgerald, Sinclair Lewis und Jack London bei Falanginis gekauft. Jetzt entdeckte ich die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts.
Ich las auch sehr viele Sachbücher, ein schmales bebildertes Büchlein versetzte mich in höchste Aufregung. Es hatte den Titel „King Leopold’s Soliloquy“, übersetzt: „König Leopolds Selbstgespräch“, verfasst von Mark Twain. Mark Twain war bekanntlich nicht nur Geschichtenerzähler, er war auch Journalist und als solcher auch in den Kongo gereist. In „König Leopolds Selbstgespräch“ erzählt Mark Twain die Geschichte der Versklavung der Völker in Belgisch-Kongo in Form eines Selbstgesprächs des belgischen Königs Leopold, der damals alleiniger Besitzer der gesamten riesigen Fläche des Kongo war. Kongo war keine Kolonie des belgischen Staates, sondern Privatbesitz von Leopold. Also, Leopold führt ein Selbstgespräch, in dem er versucht, sich zu rechtfertigen und sein Gewissen zu beruhigen, und erzählt dabei im Detail von der Versklavung, Misshandlung, dem Quälen und der Tötung der kongolesischen Bevölkerung in seinem Auftrag. Einige Bilder in diesem Buch brachten mir die Erinnerung an Aba zurück. Und erst jetzt als (fast) Erwachsener verstand ich, welches schreckliche Schicksal diese Menschen damals erlitten hatten.
E) Expedition und Privileg
Im Jahre 1949, als ich neun war, haben wir Juba endgültig verlassen und sind nach Khartum gezogen. Das war also die letzte Reise von Juba in Richtung Norden. Da meine Eltern nicht alle Möbel und die anderen Einrichtungsgegenstände mitnehmen konnten, veranstalteten sie eine öffentliche Versteigerung. Dies war üblich für Beamte, die alle paar Jahre woandershin umziehen mussten. Es gab Personen, die sich gegen eine prozentuale Beteiligung auf die Durchführung solcher Versteigerungen spezialisiert hatten. An dem Tag kamen sehr viele Leute und es wurde alles verkauft. Das brachte meinen Eltern eine schöne Summe, mit der sie in Zukunft wieder Einrichtungen kaufen konnten. Das Auto hatte Vater nicht verkauft, eine sehr schöne große Limousine. Er hatte sie, wie gewohnt, im schlechten Zustand erstanden und repariert. Das Auto ließ er nach Khartum bringen, wo er die Karosserie neu lackieren und durch einen Kürschner das ganze Innenleben renovieren ließ. Es war ein sehr schönes Auto, auf das er sehr stolz war.
Wir stiegen in Juba auf einen Nildampfer oder ein Motorschiff, ich erinnere mich nicht mehr genau, denn zwischen Kosti und Juba verkehrten damals sowohl Dampfer als auch Schiffe, die mit Dieselmotoren betrieben wurden.
Omdurman. Ein Nilschiff ohne angehängte Bargen
Sie reisten immer in einer festen Formation. Es war nicht einfach ein Schiff, nein, es war ein Komplex aus einem Schiff und mehreren Bargen bzw. Kähnen, die das Schiff mitschleppte. Auf beiden Seiten des Schiffes waren Bargen mit Passagierkabinen befestigt und vorne gab es bis zu drei mit Waren und Gegenständen beladene Bargen. So war es möglich, Waren, die für z.B. Malakal bestimmt waren, auf eine Barge aufzuladen, die in Malakal abgehängt wurde, während eine mit Waren für Khartum angehängt wurde. Das ersparte Ablade- und Aufladezeit. Es gab auf den Kabinenbargen zwei Stockwerke, die unteren Kabinen waren zweite Klasse und die oberen erste Klasse. Auf dem Schiff waren unten die Maschinenräume und eventuell Mannschaftskabinen, oben gab es gar keine Kabinen, sondern einen großen Saal, der als Restaurant diente und Salons, wo die Passagiere sitzen und sich unterhalten konnten und Getränke serviert bekamen.
Die Reise, die drei oder vier Tage dauerte, habe ich, haben wir, mindestens dreimal in beide Richtungen gemacht, Juba – Khartum, Khartum – Juba. In Kosti legte das Schiff an, rund 700 Bahnkilometer südlich von Khartum am westlichen Nilufer. Von dort ging die Reise mit der Eisenbahn weiter. Abgesehen von der Hitze, die wegen der hohen Luftfeuchtigkeit noch unerträglicher war, war die Schiffsreise das Paradies auf Erden. Alle Kabinen und alle Salons und das Restaurant waren ausreichend mit sehr effizienten Ventilatoren ausgestattet, die Tag und Nacht in Betrieb waren.
Die Reise von Juba nach Khartum war und ist wahrscheinlich bis heute einfach ein Erlebnis. Sensationell. Ich weiß nicht, ob es heute mit den vielen Risiken möglich ist, solche Reisen zu machen. Damals gab es keine Bedrohungen, welcher Art auch immer. Und rundherum die Szenerie: die Dörfer mit vielen Strohhütten, die meist vollkommen nackten Menschen, die ihre Kuhherden hüteten oder ihre Felder bearbeiteten, in Kanus unterwegs waren oder einfach im Nil schwammen.
Es gab genug wilde Tiere zu beobachten und zu bewundern. Am meisten waren Krokodile und Nilpferde zu sehen, aber auch Elefantenherden, Büffelherden, Gnus oder sogar Giraffen ab und zu. Es gab Stellen, wo das Ufer aus hohen, steilen Sand- oder Lehmwänden bestand, wo tausende von Vögeln ihre Nester hineingebohrt hatten. Schöner als jede Universum-Sendung, die Natursendung des ORF, da ein „Live“-Erlebnis. Es gab immer wieder aufregende Ereignisse oder Überraschungen. So kam es vor, dass das Schiff auf eine Sandbank auflief und es stundenlang dauerte, bis der Kapitän durch verschiedene Manöver das Schiff wieder flott bekam.
Der vordere Salon war immer voller Passagiere, weil die Szenerie in Fahrtrichtung viel eindrucksvoller zu sehen war und die Brise durch die Fahrbewegung angenehm kühlend war, außerdem war es viel ruhiger. Im hinteren Aufenthaltsraum hörte man nämlich die Maschinengeräusche und spürte die Vibrationen sehr deutlich. Die Schiffe wurden durch große Räder angetrieben, die viel Geräusch erzeugten. Hinten war es also ziemlich laut und heiß.
Nicht nur die Augen wurden mit Sehenswürdigkeiten befriedigt, sondern auch unsere Geruchs- und Geschmackssinne, durch das, was wir zum Trinken und zum Essen bekamen. Sudan Railways, der Betreiber der Eisenbahn und der Nil-Schifffahrt, hatte eigene Fabriken, in denen sie spritzige Getränke mit Orangen-, Zitronen- oder Ingwergeschmack erzeugten. Das Ingwergetränk war ein scharfes, rotorange gefärbtes Getränk, das ich sehr liebte. Bis heute ist Ginger Beer, übrigens alkoholfrei, mein liebstes Getränk. Ich kann literweise davon trinken. In späteren Jahren war es immer das Erste, was ich tat, wenn wir nach England kamen: Schnell zum nächsten Kaufhaus, um Ginger Beer zu kaufen, weil es nur in England zu haben war.
Auf dem Schiff ist zu den Essenszeiten ein Kellner in langer, weißer Soutane-ähnlicher Bekleidung mit einem sehr breiten Gürtel aus einem roten samtenen Stoff und einem Turban auf dem Kopf herumgegangen, einen Gong in der Hand, mit dem er uns zum Essen einläutete. Alle Kellner waren so gekleidet. Die Köche stammten allesamt aus Nubien in Nord-Sudan. In ganz Sudan und bis Ägypten waren die Nubawis als die besten Köche berühmt. Sie stammten allesamt aus der gleichen Schule der Sudan Railways, die nicht nur die Schiffe und Züge, sondern auch sämtliche Hotels mit Köchen ausstattete. Das Essen war sehr schmackhaft, besonders das Mittagessen, und es war ein wichtiger Bestandteil des Reisevergnügens, weil ganz anders, als wir es gewohnt waren. Mamas Küche war im Wesentlichen eine ägyptische, auf dem Schiff war sie mehr nach britischem Geschmack ausgerichtet, aber so adaptiert, dass es für uns trotzdem schmackhaft war.
In Kosti wurden wir mit Autos zum Bahnhof gebracht, von wo wir dann noch viele Stunden mit dem Zug bis Khartum weiterfuhren.
Der Nil windet sich nach Norden durch wechselhafte Landschaften und fließt unter anderem durch ein flaches Gebiet, den Sudd (es wird Sadd ausgesprochen und bedeutet: die Barriere bzw. der Damm), der eine Fläche von circa 55.000 Quadratkilometern hat. Das ist eine Fläche so groß wie fast zwei Drittel von Österreich. Der Nil breitet sich über die ganze Fläche des Sudd und bildet einen seichten See. Die Wasseroberfläche ist fast vollständig mit Papyrus bedeckt. Es gibt zwar tiefere Rinnen, sodass ein Schiff durchfahren kann, aber es gibt nichts, woran man sich orientieren kann. Der Kapitän muss sich sehr gut auskennen, sonst läuft das Schiff aufgrund und bleibt stecken.
Als wir einmal durch den Sudd fuhren, habe ich eine Papyruspflanze erwischt und aufs Schiff geholt. Ich nahm ein Messer und wollte einen Halm in Stücke zerschneiden. Den Halm habe ich auf mein Knie gestützt. Die Papyrushalme sind relativ steif und beim Schneiden verwendete ich viel mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, sodass das Messer abrutschte und meinen Fuß traf. Es spritzte das Blut so heraus, dass ich dachte, ich hätte meinen Fuß abgetrennt. Natürlich schrie ich laut. Ich weiß nicht mehr, wie es danach weiterging, aber dann war mein Vater plötzlich da und sagte, die Wunde sei sehr groß, sie müsse genäht werden. Es gab kein Betäubungsmittel, sodass meine Wunde bei vollem Bewusstsein und ohne irgendein Anästhetikum genäht wurde. Es tat höllisch weh. Die Narbe habe ich noch heute.
Anderen passierte noch Schlimmeres auf der Reise von Juba nach Khartum. An folgendes Ereignis kann ich mich nicht persönlich erinnern, aber davon weiß ich aus Erzählungen meiner mama. Es gab ein Ehepaar mit einer zwölfjährigen Tochter. Die Frau war so besorgt um ihre Tochter, dass sie ihre Hand die ganze Zeit festhielt und das Mädchen nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Als sie einmal auf der Barke die Kabinentür aufmachen wollte, die an der zum Fluss gewandten Seite lag, ließ sie kurz die Hand ihrer Tochter frei. Die Tür klemmte und als sie mit einer heftigen Bewegung die Tür, die nach außen aufging, öffnete, stieß sie ihre Tochter so heftig, dass sie über die Reling in den Fluss stürzte. Sofort sprangen mehrere Männer in den Fluss, aber die Tochter wurde nie gefunden, die Mutter musste mit Gewalt daran gehindert werden, nachzuspringen.