Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 12
Оглавление3. Atbara oder Wer ist Emir Mahmud Ahmad?
Wann immer wir mit dem Zug nach al-Giza zu meinen Großeltern auf Urlaub fuhren, sind wir in Atbara ausgestiegen, weil Tante Victoria mit ihrer Familie dort wohnte. Der Zug blieb dort mehrere Stunden. Aber nicht nur deshalb war Atbara interessant für mich, denn die Stadt an der Stelle, wo der Fluss Atbara in den Nil einmündet, war das Zentrum für die Eisenbahnindustrie in Sudan. Hier befanden sich alle Institutionen, die mit der Verwaltung und dem Betrieb der Eisenbahn zu tun hatten. Hier waren die großen Werkstätten, wo alle Lokomotiven, natürlich Dampflokomotiven, und Wagons repariert und instand gehalten wurden.
Hier in Atbara gab es seit 1946 Tausende in starken Gewerkschaften organisierte Arbeiter. Hier war die kommunistische Partei sehr stark, dominierend. Hier fanden große Demonstrationen und Streiks gegen die Engländer während der Okkupation und später gegen die sich abwechselnden Militärmachthaber statt. Damals hatte Atbara um die dreißigtausend Einwohner, 1956 waren es 36.000 und bis 2007 sind es schon 111.000 geworden.
Atbara hat auch eine historische Bedeutung. 1898 besiegte der britische Feldmarschall Kitchener hier die Mahdi-Armee unter Emir Mahmud Ahmad. Für Kontinentaleuropäer haben diese Namen überhaupt keine Bedeutung. In England kennt man vielleicht den Kriegshelden Lord Kitchener noch. Man kennt keine afrikanischen Helden, weil sie für Europäer keine Helden sind, sondern Schurken, schließlich haben sie gegen sie gekämpft. Das waren die primitiven, unzivilisierten, brutalen Wilden, die mit Schwertern und Speeren gegen deren zivilisierte Armee kämpften, die ordentlichen europäischen Truppen, die mit den neu entwickelten automatischen Gewehren ausgestattet waren, um die Afrikaner daran zu hindern, ihnen ihr gottgegebenes Recht zu nehmen, Land zu besetzen und es auszubeuten.
Und außerdem: Europa hat Afrika entdeckt. Vor Hunderten von Jahren. Vorher war „eh nix“. Europa ist bis heute dabei, Afrika zu entdecken. Ohne Europa hätte niemand gewusst, dass es Afrika gibt, nicht einmal die Afrikaner selber. Es ist dies kein Vorwurf, nur eine Feststellung. Jeder kann das, was er sieht, nur so beurteilen, wie die Lage sich aus seiner Sicht präsentiert. Es ist aber wichtig, dies zu erkennen. Dann kann man die Sichtweise anderer auch irgendwann einmal berücksichtigen.
Also, uns Europäern sind nur europäische Persönlichkeiten bekannt. Aber Emir Mahmud Ahmad? Emir wos? Nie gehört. Wenn in Europa über die Geschichte des Mahdi-Aufstands berichtet wird, dann tauchen Namen wie der von Kitchener, von Gordon, Slatin, Hicks sehr oft auf und vielleicht zweimal Muhammad Ahmad al-Mahdi und vielleicht einmal der Name seines Nachfolgers Abdalla at-Taishi auf. Aber Emir Mahmud Ahmad? Osman Digna? Oder Abd ar-Rahman an-Nujumi? Das waren die Kommandanten, die die Armeen des al-Mahdi geführt haben. Alle drei haben eine große Rolle während des Mahdi-Aufstands gespielt und waren in viele Schlachten gegen die angloägyptische Armee verwickelt, von denen die wichtigsten die Schlacht um eben Atbara und um Omdurman waren.
Von Atbara sind es nur zehn Kilometer in südlicher Richtung bis Ad-Damir. Manche Erinnerungen an meine Kindheit beschränken sich auf nur ein einziges Bild oder auf eine Serie von Bildern oder sogar nur auf einen Eindruck. Einige solcher Bilder tauchen in meiner Erinnerung immer im Zusammenhang mit dem Ortsnamen Ad-Damir auf. So zum Beispiel ein Ritt auf einem Esel eine nicht befestigte, sehr sandige Straße mit einstöckigen ummauerten Lehmhäusern entlang, mit sehr hübsch gestalteten und bunt bemalten, einladenden Eingangstoren, wie sie heute noch in Nordsudan am Land überall zu sehen sind.
Ad-Damir, die Hauptstadt der Provinz Nahr an-Nil, war eine kleine Stadt am rechten Nilufer, sie liegt ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von Khartum. Entweder waren wir dort auf Besuch bei Tante Victoria und haben einfach der Jugendstadt meines Vaters einen Besuch abgestattet oder … In Ad-Damir hatte Onkel Nagib in den 1920er Jahren als Verwaltungsbeamter gearbeitet.
Nagib, der älteste Sohn, übernahm die Sorge für die Familie nach dem Tod von Großvater Abdalla Mansour. Er schickte seine drei jüngeren Brüder, also auch meinen Vater Habib in die „Kitchener School of Medicine“ in Khartum. Alle drei wurden Ärzte. Später übersiedelte Onkel Nagib nach Wad Madani und in den späten 1940er Jahren nach Khartum.
Aber sachte, sachte, der Reihe nach, da muss ich wieder zurück nach Atbara, ich bin mit Atbara noch nicht fertig.
Wie oben erwähnt, wenn wir auf Urlaub nach al-Giza in Ägypten fuhren, machte der Zug mehrere Stunden Pause und wir hatten die Gelegenheit, Tante Victoria zu besuchen, die mit Fahim Fahmy, einem Beamten in der Eisenbahnverwaltung, verheiratet war.
Von diesen Besuchen ist mir nur eins in Erinnerung geblieben. Eines der Kinder Tante Victorias, höchstwahrscheinlich war es Nadia, hatte einen Kreisel. Das war ein um eine Achse nach oben und nach unten gewölbtes, also doppelt kegelförmiges, bunt bemaltes Metallgehäuse mit etlichen Löchern rundherum. Die Löcher haben summende Geräusche verursacht, wenn das Ding sich drehte. Das Ding hatte oben einen Griff, der an einem spiralförmigen Stift derart angebracht war, dass der Kreisel sich drehte, wenn man ihn nach unten drückte. Es hieß, der Kreisel sei in Kairo gekauft worden. Jahrelang träumte ich von so einem Kreisel. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen bekam. Das Ding faszinierte mich und ich muss gestehen, dass ich bis heute Kreisel jeder Art sehr faszinierend finde. Es hat sich mit der Zeit eine Sammlung angehäuft.
Aber lasst mich über die Zugreise nach Ägypten erzählen. Wir fuhren mit der Eisenbahn von Khartum über Atbara bis Wadi Halfa im Norden Sudans. Der Zug war sehr lang und bestand aus einer Dampflokomotive und circa 20 Wagons. Zwei oder drei davon waren Erste Klasse, dann kamen die zweite und dann die Dritte-(!)-Klasse-Wagons. Damals war ein Restaurantwagon an jeden Zug angehängt. Die Reise konnte 24 Stunden oder auch länger dauern, je nach Jahreszeit. Wenn es geregnet hatte, sind die Gleise unterspült worden, wenn der Wind blies, sind die Gleise mit Sand zugeschüttet worden. Diese Hindernisse mussten beseitigt werden, bevor der Zug die Reise fortsetzte. Die Erste-Klasse-Wagons waren mit Abteilen ausgestattet, während die Wagons der anderen zwei Klassen nicht unterteilt waren. Sie unterschieden sich auch in der Gestaltung der Sitzbänke. Bei der Ersten Klasse konnte man das ganze Abteil buchen. Hier konnte man die Rückenlehnen der Sitze so hochklappen, dass zwei Stockbetten entstanden, die für vier Personen die Möglichkeit zu liegen boten. Das war natürlich eine sehr große Sache, weil man manchmal zwei Nächte im Zug verbringen musste, wenn alles gut ging. Ab und zu hatte der Zug eine Panne und es wurden dann drei Nächte. Das war in der zweiten und dritten Klasse nicht möglich, die Sitze in den Wagons der dritten Klasse waren überhaupt nur hölzerne Sitzbänke.
Die Züge waren nicht besonders schnell, damals gab es keine Eile, man hatte unendlich viel Zeit. Ein paar der Stationen hatten keine Namen, nur eine Nummer, weil das Stationen waren, wo eine Wasserquelle gefunden wurde, und der Zug blieb dort stehen, nur um Wasser zu tanken, denn es war eine Dampflokomotive, die brauchte viel Wasser. An manchen Dörfern ist der Zug einfach vorbeigefahren, aber wenn er stehenblieb, waren nicht viele Leute am Bahnhof. In den meisten Stationen gab es keine oder vereinzelt aus- oder zusteigende Reisende. Der Zug blieb meistens nur stehen, um die Post oder Waren ab- oder aufzuladen. In manchen Orten gab es auch fliegende Verkäufer, die meistens Tee oder Wasser, manchmal auch Datteln oder andere Produkte aus der Gegend sowie handwerkliche Produkte anboten.
Die Reise mit dem Zug endete in Wadi Halfa, wo wir auf den Nildampfer umsteigen mussten. Die Fahrt auf dem Nildampfer war ein besonderes Erlebnis. Da gab es keine Elefanten, Nilpferde oder andere große Tiere zu bewundern, wie bei einer späteren Reise zwischen Juba und Kusti, dafür aber eine sehr abwechslungsreiche und geheimnisvolle Landschaft. Sie war sehr hügelig und sandig und die Flusswindungen erweckten den Eindruck, als ob das Schiff sich in einer Sackgasse befände, so als ob wir uns in einem See zwischen den Hügeln befänden, ohne Ausgang in irgendeine Richtung. Der Sand hat die Farbe ständig gewechselt, kam manchmal bis zum Wasserrand und die Hügel haben sehr unterschiedliche Gestalten angenommen. Es gab zwei sehr interessante im Wasser schwimmende Pflanzen, die hie und da auftauchten: Pistia stratiotes aus der Familie der Araceae, eine einheimische Pflanze.
Als Botaniker und Florist möchte ich gern mit meinen Wissen prahlen, also: Die Familie Araceae ist eine sehr große Familie mit Hunderten von sehr schönen dekorativen Pflanzen, viele davon sind uns allen als Zimmerpflanzen sehr gut bekannt und sehr beliebt, wie Calla, Anthurium, Caladium, Monstera, Spathiphyllum, Philodendron, Zamioculcas und Diefenbachia. Pistia stratiotes, Pistia (pistos, Griechisch = flüssig, wässrig, und startiotes, Griechisch = Soldaten, wegen der schwertförmigen Blätter) ist vielleicht nicht so spektakulär wie Anthurium oder Monstera, aber es ist eine sehr schöne Pflanze und wird auch in Europa in Aquarien verwendet. Mich hat die Pflanze jedenfalls fasziniert und ich hielt immer Ausschau danach, wie auch nach der zweiten Pflanze: Eichhornia crassipes, eine aus dem Amazonas eingeschleppte Art, die nach dem preußischen Kultusminister Johann von Eichhorn (!) benannt wurde. Eichhornia ist etwas auffälliger wegen der Blätter, die nach unten blasenartig verdickt sind und die deswegen den Artnamen crassipes = Dickfuß bekommen hat, und natürlich wegen der blauen Blütenstände. Eichhornia gehört zur Familie Pontendriaceae, die nur Wasserpflanzen einschließt und nicht so viele Arten aufweist wie die Araceae.
Aber zurück aufs Schiff. Unsere Reise endete in Assuan, wo wir wieder in einen Zug umsteigen mussten. Das dauerte ziemlich lange, weil wir uns den Einreiseformalitäten unterziehen mussten. Heute in Europa hat man sowas langsam vergessen, zumindest in den Schengen-Staaten, wo man normalerweise, wenn es zum Beispiel keine Corona-Pandemie gibt wie 2020, einfach über die Grenze fährt. An der sudanesisch-ägyptischen Grenze dagegen hat das damals stundenlang gedauert. Es waren nicht nur die Reisepässe vorzuzeigen und das Gepäck durchzuchecken, sondern jede Person hatte ihren Impfpass vorzuzeigen und wurde einer genauen Gesundheitsuntersuchung unterzogen. Natürlich hatten die Ägypter Angst vor der Einschleppung mancher in bestimmten Gegenden Sudans verbreiteten Krankheiten wie Cholera, Pocken oder Gelbfieber. Man musste sich vor Antritt der Reise gegen diese Krankheiten rechtzeitig impfen lassen, weil manche Impfungen erst nach einer bestimmten Zeit wirksam werden. Für Gelbfieber waren es drei Monate, wenn ich mich richtig erinnern kann. Die Impfbestätigung musste dann bei der Einreise in Ägypten gezeigt werden.
Übrigens, die Pockenimpfung war damals weltweit Pflicht und jeder Mensch hatte eine charakteristische Narbe, entweder auf der Schulter (die Männer) oder seitlich auf dem Oberschenkel (die Frauen, weil sie die „hässliche“ Narbe auf der Schulter vermeiden wollten, wenn sie ein schulterfreies Kleid trugen). Die Pocken wurden ausgerottet, was ein Beweis dafür ist, dass Menschen es schaffen, eine Krankheit auszumerzen. Ja, die Forschung arbeitet auf Hochtouren, um Mittel gegen mehrere sehr tückische Krankheiten, zum Beispiel Krebs oder Aids, zu entwickeln. Aber leider tut kein Mensch irgendetwas gegen die heimtückischste aller Krankheiten. Eine Krankheit, die Hunger und Krieg, die das meiste Elend auf der Welt verursacht hat und noch immer verursacht, die Krankheit, die ich gern Lateinisch „Cupiditas pecuniae“ taufen möchte. Das ist die pathologische Profitmaximierungssucht, die sich über den ganzen Globus pandemisch ausgebreitet hat.
Aber wir waren auf der Reise nach al-Giza zu meinen Großeltern. Auf einer unserer Reisen entdeckte ich, bevor wir in den Zug in Richtung al-Giza stiegen, ein paar kleine juckende runde Pusteln auf meinem Gesicht und sonst wo am Körper. Da ich damals gerade ein klein bisschen an Akne litt, schenkte ich dem nicht viel Aufmerksamkeit, obwohl diese Pusteln sich von Akne-Pusteln wesentlich unterschieden. Als wir zwei Tage später an die Grenze kamen, war nicht nur mein Gesicht dicht mit Pusteln bedeckt, sondern mein ganzer Körper und es hat höllisch gejuckt. Erschwerend zu dieser prekären Situation kam dazu, dass wir diesmal ohne Vater unterwegs waren. Mutter tat alles, um zu vermeiden, dass die Gesundheitsbeamten mich zu Gesicht bekamen. Es gelang und wir waren endlich in unserem Schlafwagenabteil, das wir bei Thomas Cook, einer britischen Firma, die auf Schlafwagen spezialisiert war und sie weltweit betrieb, gebucht hatten.
Die Reise nach al-Giza war genauso aufregend wie die Etappen vorher. Da war die Landschaft komplett eine andere, eine Märchenlandschaft, überall Grün mit hohen Palmen und hie und da Maulbeerbäumen und vielen Wasserkanälen und asphaltierten Straßen mit relativ vielen Autos und LKWs. Es gab auch viele Menschen, die auf den Feldern arbeiteten oder einfach auf den Straßen gingen, entweder zu Fuß oder auf einem Esel reitend. Manche Menschen zogen schwarze Wasserbüffel an einer Leine oder waren sogar darauf reitend zu sehen. Besonders faszinierend waren die Sagias und Shadufs. Al-Sagia ist ein sehr pittoreskes Wasserrad – von einem Stier oder Büffel angetrieben. Das Tier läuft im Kreis, dabei treibt es ein großes horizontal liegendes Zahnrad, welches ein vertikal stehendes zweites Rad antreibt. Auf dem zweiten Rad hängt eine Kette mit vielen Wasserbehältern, die in den Fluss oder Kanal eintauchen und Wasser auf eine höhere Ebene hinaufbefördern. Auch mit dem Shaduf befördert man Wasser auf eine höhere Ebene. Der Shaduf ist nicht so effizient wie die Sagia, weil er mit Menschenkraft und nicht mit Tierkraft betrieben wird. Der Shaduf ist ein sehr langer kräftiger Stock, der eigentlich nur als Hebel dient. Zu diesem Zweck wird der vertikal stehende Hebel ungefähr in Brusthöhe an einer horizontal liegenden Achse befestigt. Am kürzeren Ende wird ein Gewicht befestigt, am längeren ein Kübel. Wenn man den kürzeren Arm hebt, senkt sich der längere mit dem Kübel in die Wasserquelle hinein. Das Gewicht hilft dann, den mit Wasser gefüllten Kübel wieder hochzuheben.
In den Bahnhöfen gab es viel mehr Getümmel und Geschiebe und Geschrei als in den Stationen in Sudan. Es gab allerhand Menschen, die Essbares oder Trinkbares verkaufen wollten. In einem bestimmten Bahnhof war es für uns Ägyptenreisende Tradition, Joghurt zu kaufen. Es war eine besondere Spezialität, nicht sauer, aber auch nicht süß, nicht flüssig und nicht fest, so cremig, mit einer unglaublich schmackhaften dicken Haut drauf, einfach köstlich. Vielleicht war es aus Büffelmilch? Das war jedenfalls das köstlichste Joghurt, das ich jemals in meinem Leben genossen habe. Es wurde in flachen kleinen Terrakotta-Schüsseln verkauft. Der Zug blieb an diesem Ort Gott sei Dank so lange stehen, bis wir unser Joghurt gegessen hatten und die Schüssel zurückgeben konnten.
In al-Giza angekommen hat giddi, Arabisch für Großpapa, auf uns am Bahnhof gewartet. Taita, also meine Großmama, blieb immer zu Hause, um die vielen Köstlichkeiten zum Essen und zum Trinken vorzubereiten. Bei taita war es immer wie im Schlaraffenland, so viele Köstlichkeiten und das solange, wie wir dort Zeit verbrachten.