Читать книгу Von Kopftüchern und Scheuklappen - Nasr Abdalla - Страница 14
Оглавление5. Die Zisterne gurgelt oder Was fange ich mit den zehn Geboten an?
Circa ein Jahr, bevor wir Juba endgültig verließen, fuhren wir im Sommer des Jahres 1948 nach Khartum, wo wir einige Wochen bei Onkel Nagib blieben. Bei dieser Gelegenheit wurden Huda und Saad getauft. Onkel Nagib war ein sehr frommer Mann und Mitglied der Synode der evangelischen Kirche in Khartum. Er hatte ein Orgelpositiv, eine kleine Orgel, daheim und spielte uns Kirchenlieder vor, und die, die singen konnten, sangen dazu. Die Musikliebe war also nicht auf meinen Vater beschränkt. So hatte Onkel Nagibs Sohn Abdalla Nagib, in späteren Jahren ein sehr einflussreicher Rechtsanwalt in Khartum, in den 1970er Jahren eine Art Weihnachtsoratorium komponiert, das von der evangelischen Jugend in Khartum aufgeführt wurde. Abdalla Nagibs Sohn Nagib wiederum gründete eine Musikband und spielte sowohl die gängigen Hits als auch eigene Kompositionen in Khartum. Die ganze Familie Abdalla Nagib emigrierte in den späten 1990er Jahren nach Australien, wo beide, Abdalla und Nagib, vor ein paar Jahren kurz nacheinander gestorben sind.
Während unseres Aufenthalts überlegten meine Eltern, mich und Rida bei Onkel Nagib und seiner Familie zurückzulassen, um in Khartum in die Schule zu gehen. Als wir dort waren, erzählte ich mama, dass Tante Badia ihrem Sohn Makram, mein Cousin und der Bruder von Abdalla, der ein oder zwei Jahre älter war als ich, etwas zum Essen gab, was sie mir nicht gab. Diese Geschichte ist eine sehr heikle Sache, ich will Tante Badia keinesfalls schlecht machen, denn ob sie mir mit Absicht nichts gegeben hat oder ob es nur Unachtsamkeit war, die genauen Umstände des Vorfalls sind nicht mehr zu klären. Und sie sind auch überhaupt nicht wichtig. Ich erzähle sie nur, um zu zeigen, von welchen Banalitäten das Schicksal eines Menschen abhängen kann. Daraufhin haben meine Eltern beschlossen, mich und Rida nicht bei Onkel Nagib zurückzulassen, sondern zu Onkel Labib nach Port Sudan zu schicken, um dort die Schule zu besuchen. Wie hat diese Entscheidung mein Leben und das von Rida beeinflusst? Was wäre gewesen, wenn wir in Khartum geblieben wären?
Um nach Port Sudan zu kommen, steckte man uns allein in ein Zugabteil und gab uns in die Obhut des „Kellners“ des Zugrestaurants. Damals war ein Restaurantwagon an jedem Zug angehängt. Für uns war es ein großer Schock, allein in diesem Zug zu sein, wir kannten niemanden. Wir fühlten uns sehr verlassen, umklammerten einander und weinten. Mein drittes Trennungstrauma nach der Geburt und der Trennung von Dada. Dada war Kindermädchen bei der Familie George Haggars, ich teilte mit ihr ein sehr schönes Erlebnis.
In Port Sudan haben Onkel Labib und Tante Suad uns vom Bahnhof abgeholt. Die Familie wohnte in einem zweistöckigen Haus aus quadratischen Steinen mit der Hafenklinik im Erdgeschoss, die Wohnung war im ersten Stock.
Onkel Labib leitete diese Klinik oder das Gesundheitszentrum, das für den Hafenbereich zuständig war. Das Haus stand knapp außerhalb des Hafengeländes. Vom Fenster aus sahen wir tagsüber die riesigen Schiffe, die am Kai anlegten und mit ebenso riesigen Kränen beladen und entladen wurden. Tag und Nacht hörten wir ihre lauten Horn- bzw. Pfeifsignale. Der kürzeste Weg in die Stadt war es, zum Hafen hinüberzugehen und mit einem Boot zur anderen Seite über die Bucht zu fahren.
Nebenan war ein imposanter Wasserturm, bestehend aus einer Säule, einer viereckigen Gitterstahlkonstruktion, mit einer Zisterne in einem fünfeckigen Holzbau darauf. Der Wasserturm gab andauernd Anlass zum Staunen, weil die Konstruktion für mich nicht durchschaubar und in ihrer Größe imposant war. Auch für Verwunderung, weil das Ding immer wieder unheimliche Geräusche von sich gab. Die Geräusche wurden beim Aufpumpen des Wassers erzeugt, um die Zisterne wieder zu befüllen, es hörte sich an, als ob ein Riese gurgelte.
Zwischen Turm und Haus war eine mit Sand bedeckte freie Fläche, die wir Kinder als Spielplatz nutzten. Der Sand war übersät mit kleinen Muscheln und Schneckenhäusern, die wir sammelten. Auf der linken Seite des Hauses war die gemauerte Stiege zur Wohnung in den ersten Stock. Die Stiege führte auf eine breite Veranda, die bis zu einem Zimmer am anderen Ende des Gebäudes führte, dem Kinderzimmer. Die Zimmer reihten sich entlang dieser Veranda und hatten alle eine Tür. Am Eck zwischen Kinderzimmer und Elternzimmer lagen Bad und Toilette. Von der Stiege aus gesehen kam zuerst die Küche, dann ein Sitzzimmer, wo Gäste empfangen wurden, anschließend ein Schlafzimmer, dann das Esszimmer. Wir verbrachten sehr viel Zeit in der Veranda, die für uns Wohn- und Spielzimmer war. Es gibt noch zwei Bilder von Rida und mir und Samir auf dieser Veranda. Wir hatten damals gerade unsere Plastilinphase, wir formten allerhand Sachen daraus, unter anderem Lastwägen, die wir am Hafen sahen, mit denen wir auf Straßen fuhren, die wir auf dem breiten Geländer der Veranda mit Kreide gezeichnet hatten. Wir haben auch sehr oft unterhalb des Wasserturms gespielt und dort im Sand unsere Straßen begradigt, allerdings nicht mit den Plastilin-LKWs. Es war eine sehr schöne Zeit. Onkel Labib und Tante Suad waren sehr liebevoll und fürsorglich, einfach großartig. Sie waren der ideale Ersatz für unsere Eltern, weil wir sie noch aus Juba und Yei sehr gut kannten und weil sie eigene Kinder hatten, nämlich Samir und Mimi (Ilham), die ungefähr in unserem Alter waren. Sie haben uns in kürzester Zeit die Eltern ersetzt, wir fühlten uns schnell daheim, wir gehörten dazu und wurden genauso liebevoll umsorgt wie die eigenen Kinder. Uns hat es an nichts gefehlt.
Aber leider war es wieder Rida, die wieder einmal Pech hatte und an Diphtherie erkrankte. Sie bekam hohes Fieber, das auf keine Medikamente reagierte. Onkel Labib sah keine andere Möglichkeit, das Fieber in den Griff zu bekommen, als Rida in der Badewanne in Eiswasser zu legen. Das hat ihr das Leben gerettet. Es waren zwei oder drei kritische Tage, die in meiner Erinnerung wie eine Ewigkeit waren. Auch uns Kindern war die Katastrophenstimmung sehr bewusst, weil nicht nur Onkel Labib und Tante Suad Tag und Nacht hin und her gerannt sind, sondern auch andere Ärzte, die Onkel Labib zu Rate gezogen hatte.
Wir vier Kinder gingen in die Schule, in das Comboni College. Es war eine von katholischen Mönchen und Nonnen geführte Volks- und Mittelschule. Es war eine Privatschule, eine Filiale sozusagen von der 1929 in Khartum gegründeten und nach Daniel Comboni benannten Schule. Daniel Comboni war ein italienischer Missionar, der im Jahre 1858 nach Khartum gekommen war, Bischof von Khartum wurde und dort 1881 starb.
Das Gebäude war sehr hübsch, rote Ziegel weiß eingefasst. Auf einer Seite gab es die Verwaltungsgebäude und darüber die Wohnräume für die Nonnen, auf der anderen Seite war die Kirche. Wie oft wir in diese Kirche gehen mussten, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich an einen einzigen Kirchenbesuch noch genau erinnern, da kamen alle Besucher zum Altar, wo nacheinander Öl und Asche auf ihre Köpfe gesprenkelt wurden. Aber in der evangelischen Kirche waren wir sehr oft.
Für mich war die Zeit, die ich in der Schule verbringen musste, die schrecklichste Quälerei, die ich mir vorstellen konnte, der schlimmste Kontrast zum idyllischen Leben, das wir sonst hatten. Es war mit acht Jahren das erste Mal, dass ich in einer Klasse mit vielen anderen Schülern stillsitzen musste. Ich kann nicht beurteilen, was ich bei Vaters Unterricht gelernt habe, aber ich konnte lesen und schreiben. Ich habe nichts von dem, was der Lehrer da vorne sagte, verstanden, und oft hatte ich sehr mit dem Schlaf zu kämpfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich während dieses Schuljahres ein einziges Wort dazugelernt habe.
Aber ich kann mich an eine Lehrerin, eine Nonne, sehr gut erinnern. Schwester Florentina ist in meiner Erinnerung eine sehr hübsche (aber das sind alle Frauen, an die ich mich erinnern kann!) große Frau, sehr ruhig und sanft. Sie wusste natürlich, dass Rida und ich sehr weit weg von unseren Eltern waren. An einem Tag vor Weihnachten hat sie Rida und mich auf ihr Zimmer mitgenommen, uns Süßigkeiten kredenzt und uns dazu animiert und dabei geholfen, eine Grußkarte an unsere Eltern zu malen und zu schreiben. Das ist auch die einzige Gelegenheit, bei der ich Rida mit der Schule in Verbindung bringen kann.
In Port Sudan gab es eine Kaserne. Onkel Labib und Tante Suad hatten Freunde, die in dieser Kaserne wohnten. Wir besuchten sie oft. Man konnte nicht einfach in die Kaserne hineinfahren, man brauchte ein Passwort, das Onkel Labib in einem bestimmten Büro bekam. In der Kaserne sind wir auf Schritt und Tritt auf Wachen gestoßen, die keinen Spaß kannten. Sie schrien „Halt!“ und brachten ihr Gewehr in Schießstellung. Dann haben sie nach dem Passwort gefragt und wir durften weiterfahren. Diese Prozedur war für uns Kinder jedes Mal ein aufregendes und spannendes, aber auch ein beängstigendes Erlebnis.
Abgesehen von den Familienmitgliedern und Schwester Florentina kann ich mich nur an eine einzige Person aus Port Sudan erinnern, und das war, wie konnte es anders sein, ein Mädchen oder eine junge Frau, Josephine. Ob Josephine sechzehn Jahre alt war oder nur vierzehn, kann ich heute nicht mit Sicherheit sagen, sie war jedenfalls viel älter, als wir es waren. So oft wir ihre Familie Zaki Abdel Massieh besuchten, spielte Josephine mit uns, erzählte uns Geschichten und tat das, was ich am meisten mit ihr in Verbindung bringe, sie sang mit uns. Ich hatte eine Plastikpanflöte und sie brachte mir einfache Lieder bei, wie „Baa Baa Black Sheep have you any Wool“ oder „Twinkle, Twinkle Little Star“. Wir sangen auch evangelische Kirchenlieder, die ich aber alle vergessen habe.
Josephine gehört, neben Dada, Lily und Florentina, zu den vier Menschen, zu denen ich als Kind eine emotionale Bindung hatte, abgesehen von Familienmitgliedern. Die Trennung von ihnen empfand ich als sehr schmerzhaft. An diese Menschen dachte ich lange und immer wieder mit Sehnsucht. Natürlich kamen später viele andere dazu, die ich auch liebte und an die ich mich auch erinnere. Von den Vieren habe ich nur Lily Basyouni später im Leben wiedergesehen, wir haben sogar viel Zeit in Khartum miteinander verbracht, aber sie hatte nie mehr die gleiche Bedeutung für mich, die sie in Juba hatte.
In Port Sudan sind wir jeden Sonntag in die Kirche gegangen, Onkel Labib und Tante Suad waren sehr gläubig. Die Kirche war ein Holzbau auf niederen Stelzen, vermutlich war sie zeitweise der Gefahr einer Überschwemmung ausgesetzt, weil das Areal rundherum mit feinem Schotter und Sand, mit vielen Muschelschalen und Schneckenhäuser bedeckt war. Die Stelzen waren vielleicht einen Meter hoch, sodass wir Kinder unterhalb kriechen konnten. Im Gebäude drinnen war es ein besonderes Vergnügen, hin und her zu laufen, weil der Holzboden wegen der Stelzen laut rumpelte und alles bebte.
Ich bin gern in die Kirche gegangen, es war eine Abwechslung. Dort trafen wir auch Josephine und wir haben gesungen. Die Predigt allerdings d a a a u e e e r r t e e stundenlang. Und ich verstand kein Wort davon, der Pastor hätte genauso gut Chinesisch sprechen können. Aber es gab Wörter, die ziemlich oft wiederholt wurden und mir gut in Erinnerung blieben, darunter z.B. Ehebruch. Dieses Wort konnten Tante Suad und Onkel Labib mir nicht schlüssig erklären. Ich wusste nur: Es war etwas sehr, sehr Schlimmes. Beruhigend für mich war die Erklärung, dass ich als Achtjähriger von dem Gebot, die Ehe nicht zu brechen, gar nicht betroffen war.
Heute, im Nachhinein betrachtet, glaube ich, dass der Pastor nur Fleißaufgaben erledigt hat. Es kann damals für die Handvoll Protestanten in Port Sudan, wenn man die Lebens- und Wohnbedingungen in Betracht zieht und wenn man an ihre streng negative Haltung zu all dem, was mit körperlichem Vergnügen zu tun hat, denkt, weder ein Bedürfnis noch eine Gelegenheit, die Ehe zu brechen, gegeben haben. Der Pastor hätte genauso gut gegen eine Reise zum Mond predigen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass eins von beiden hätte passieren können, ist gleich groß, nämlich gleich null. Aber vielleicht hat er auch nur seine Phantasien verarbeitet? Die Phantasie ist frei, und es kann sein, dass alle über das phantasierten, was sie im wirklichen Leben gern getan hätten, aber nicht gewagt haben oder wozu sie keine Gelegenheit hatten. Wie George Bernard Shaw so schön sagte: „Virtue is more often than not merely lack of opportunity“ („Tugend ist oft bloß Mangel an Gelegenheit.“). Möglicherweise war allein der Gedanke, dass so etwas Undenkbares doch zumindest für andere denkbar wäre, für alle Beteiligten schon aufregend genug! Ich war auf jeden Fall sehr erleichtert, dass ich unmöglich irgendeine Ehe hätte brechen können.
Für mich waren die Zehn Gebote, über die immer und immer wieder geredet wurde, abgesehen von diesem sechsten und vom dem besonders rätselhaften zehnten Gebot, kein Problem. Für die, die die Zehn Gebote nicht im Gedächtnis parat haben:
1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. 2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. 3. Du sollst den Feiertag heiligen. 4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. 5. Du sollst nicht töten. 6. Du sollst nicht ehebrechen. 7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. 10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.
Und das dachte ich damals dazu:
1. Ich kannte keine anderen Götter, so konnte ich neben Gott sowieso keinen anderen haben.
2. Den Namen Gottes könnte ich nicht missbrauchen, wie auch, ich dachte an ihn nur kurz und selten, v.a., wenn der Pastor ihn erwähnte am Sonntag in der Kirche.
3. Der Feiertag war natürlich für uns alle heilig. Das Beste daran war, dass wir nach der Kirche ins Schwimmbad gegangen sind oder Freunde besucht haben.
4. Mutter und Vater habe ich geliebt, aber auch Onkel Labib und Tante Suad und Schwester Florentina und Josephine. Habe ich jemand vergessen? Ja gewiss, auch Rida habe ich geliebt und Samir und Ilham, aber das ist doch ganz normal, oder?
5. Ich hatte nie die Lust verspürt, jemanden zu töten, so etwas ist mir damals einfach noch nicht eingefallen.
6. Da war ich aufgrund meines Alters befreit. Ehebrechen und so.
7. Auf die Idee zu stehlen, war ich noch nicht gekommen. Ich bekam alles, was ich brauchte.
8. Das mit dem falschen Zeugnis, das war ein bisschen heikel. Die Schuld auf andere schieben, wer kann da widerstehen?
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Da war aber kein Haus neben uns.
10. Auf solche perversen Ideen, meines nächsten Knecht oder Vieh zu begehren, darauf wäre ich nie gekommen. Was soll ich mit Knecht oder Vieh anfangen? Außerdem gab es weit und breit weder Knecht noch Vieh.
Die Geschichte mit der Himmelfahrt in Wad Madani, als ich die Dampfwolke einer Lokomotive dafür hielt, die hatte ich schon längst vergessen. Aber die Idee von der Himmelfahrt an sich muss mich sehr beeindruckt haben, sie hat mich lange beschäftigt. Die Geschichte muss ich in der Kirche in Port Sudan auch wieder gehört haben.
Überall, wo es in Sudan Eisenbahnen gab, gab es Wohnsiedlungen für die Eisenbahner. Onkel Labib und Tante Suad hatten Freunde, die in der Eisenbahnersiedlung wohnten. Die Häuser in diesen Siedlungen wurden alle nach einem bestimmten Plan gebaut und waren sehr auffällig. Ich erzähle sicher nichts Neues, wenn ich sage, dass das Klima in Sudan heiß ist. Zu jener Zeit gab es elektrischen Strom nur in sehr wenigen Städten. Dort, wo Strom zur Verfügung stand, man es sich leisten konnte, war mit dem Einsatz von Ventilatoren ein wenig Linderung gegen die Hitze zu finden. Dort, wo kein Strom zur Verfügung stand, musste man, so wie all die Generationen vor uns, die Hitze einfach ertragen. Oder man konnte durch Tricks in der Bauweise, um Luftbewegung zu ermöglichen, oder durch die Verwendung von wärmedämmendem Material eine Verbesserung der Umstände erreichen. Bei diesen Eisenbahnerhäusern wurden die Zimmer getrennt voneinander in einen kreisrunden Grundriss gebaut, das Dach hatte eine Kegelform. Dadurch erreichte man, dass die Fläche, die von den Sonnenstrahlen direkt getroffen wurde, auf das Minimum reduziert wurde. Die Kegelform des Daches, das nach oben eine Öffnung hatte, wirkte wie ein Kamin und ließ einen Luftzug entstehen, der einen Ventilator überflüssig machte. Raffiniert, was?
Wir gingen also die Freunde von Onkel Labib und Tante Suad besuchen, die in so einem Haus wohnten. Was sah ich da von der Spitze des Daches aufsteigen? Richtig erraten, eine Seele! Man könnte fragen, woran ich erkannt habe, dass es eine Seele war. Klar, jeder hat eine, jeder erkennt doch eine Seele, wenn er eine trifft, oder? Ich hab sie einfach erkannt. Ich habe an das Wenige, was ich in der Kirche aufschnappte, fest geglaubt, zum Beispiel an Seelen und an die Himmelfahrt von Seelen, der Pastor hat es uns doch erzählt. In diesem Glauben habe ich auch von meiner Beobachtung erzählt. Zu meiner sehr großen Überraschung glaubte niemand sonst, dass das, was ich gesehen hatte, eine Seele war, die in den Himmel aufgestiegen ist. Ich bestand darauf, man lachte mich aus. Meine Schlussfolgerung: „Du darfst nie mehr das glauben, was der Pastor in der Kirche erzählt, sonst lachen dich die anderen nur aus.“ Es blieb ein Rätsel ohne Lösung: „Warum gehen die Menschen dann regelmäßig in die Kirche und sitzen drinnen mit so ernsten Mienen und hören anscheinend aufmerksam stundenlang dem Pastor zu, wenn sie kein Wort von dem glauben, was er sagt?“ „Geheimnis des Glaubens“ würden Katholiken wahrscheinlich darauf antworten, aber hier war ich unter Protestanten.
Es gab in Port Sudan ein Schwimmbad. Wir waren einige Male dort, aber schwimmen habe ich nicht gelernt. Ein anderer Zeitvertreib war es, mit dem Auto der Küste entlang zu fahren. Da gab es Stellen, wo kilometerlang riesige eigenartige schwarze Kugeln übereinander gestapelt waren. Es war die Rede von Minen, so erinnere ich mich, die während des Krieges zum Schutz des Hafens im Meer ausgesetzt worden waren. Aber es wurde auch von Bojen geredet, die gefährliche Stellen markiert haben sollen. Vielleicht waren es sowohl Minen als auch Bojen?
Mindestens einmal sind wir mit einem Boot mit Glasboden aufs Meer hinausgefahren. Es war ein unvergessliches Erlebnis, alle diese bunten Fische, Korallen, Anemonen und alle anderen kuriosen Tiere zu sehen. Wir sind auch ins Kino gegangen. Es war das erste Mal, dass ich in einem richtigen Kino war, anders als in Juba, wo ich eine Filmvorführung im Krankenhaus miterlebt hatte. Das war irgendein Klamaukstreifen, „Dick und Doof“ oder eines von den unbedeutenden frühen Werken Charlie Chaplins. In Port Sudan war es ein richtiger Film, mit Handlung und so. Es war ein traumatisches Erlebnis. Es war die Geschichte von jemand, der in einer Burg gefangen gehalten und gefoltert worden ist. Die Folterszenen waren sehr realistisch, besonders eine Szene mit dem Gefangenen auf ein Folterrad gespannt ist mir in Erinnerung geblieben. Diese Folterszenen haben mich sehr beunruhigt und lange verfolgt.
Noch etwas passierte in Port Sudan, das mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben ist. Eines Tages nahm Tante Suad ein Kleid aus dem Schrank, schaute es genau an und sagte sinngemäß: „Schade, du altes Kleid, ich hatte dich sehr gern, jetzt muss ich dich wegschmeißen.“ Mich erfasste so ein Gefühl der Trauer, dass ich weglief, mich versteckte und bitterlich weinte. Es war für mich, als ob ein lieber Mensch mich verlassen würde. Ich fühlte mich sehr einsam und verlassen. Ich wartete, bis niemand in der Nähe des Müllkorbs war, holte das Kleid heraus und versteckte es in der Küche ausgerechnet hinter dem Ofen, weil ich dachte, dort schaut eh niemand hin. Immer wieder, in unbeobachteten Momenten, schaute ich nach und war direkt glücklich, wenn ich sah, dass das Kleid noch da war.
Im Nachhinein kann ich dieses Verhalten nur damit erklären, dass das alte Kleid für mich die Verkörperung meines Trennungstraumas darstellte. Es kam, wie es kommen musste. Irgendwann wurde der Ofen, mit Holz befeuert, in Betrieb genommen. Nach einer Weile kam Tante Suad aus der Küche gelaufen und schrie aufgeregt: „Der Ofen brennt, der Ofen brennt.“ Wir liefen alle in die Küche und ich erkannte sofort, dass mein alter Freund, Tante Suads Kleid, Feuer gefangen hatte. Natürlich herrschte große Verwunderung: Wie kam das Kleid hinter den Ofen?
Nach einem Jahr war unsere Schulzeit in Port Sudan beendet. Irgendwie kamen Rida und ich nach Khartum. Dort sind wir in ein Flugzeug, eine achtsitzige „De Havilland Dove“, gesetzt worden und flogen nach Juba. Das waren die Flugzeuge, die am Boden schief standen, weil sie durch ein Rad hinten gestützt wurden. Schon allein das Sitzen in der halbliegenden Position war sehr beunruhigend. Die Reise mit Zwischenlandung in Malakal war sehr beängstigend, weil das kleine Flugzeug vom Wind hin und her gerüttelt wurde und wir gehörig durcheinandergeschüttelt wurden. Ich dachte, ich werde nie mehr im Leben in ein Flugzeug steigen …
In Juba haben Vater, Mutter, Huda und Saad auf uns gewartet. Vom Flughafen sind wir direkt in das Stadtzentrum gefahren und mein Vater ist in ein Geschäft hineingegangen. Er kam zurück mit einem Paket in der Hand und hat es Rida überreicht. Was darin war, weiß ich nicht mehr. Er ist ins Auto gestiegen und wir fuhren weiter nach Hause. In diesem Augenblick hat sich der Boden unter meinen Füßen gespalten und ich stürzte im freien Fall für eine ganze Ewigkeit. Ich befand mich plötzlich in einer Wüste, einer flachen Ebene, weit und breit und bis zum Horizont nichts, nicht ein Steinchen, vollkommene Stille. Ich hörte und sah nichts mehr, ich war ein Nichts.
Nach einer Ewigkeit tauchte bei mir die Frage auf: „Warum?“ Und wieder: „Warum?“ Und wieder und wieder und wieder. Es dämmerte mir langsam: Ich gehöre einfach nicht dazu. Ich bin ein Fremder. Alle waren mir plötzlich fremd. Ich wollte weglaufen, aber wir saßen im Auto. Wohin laufen? Es ist ganz schwarz um mich geworden. Ein Gefühl der tiefsten Trauer überkam mich. Ich habe die ganze Fahrt über keinen Ton von mir gegeben.
Wenn ich daran denke, werde ich heute noch von Gefühlen der Verlassenheit und der Trauer überwältigt. Natürlich erinnere ich mich selten an den spezifischen Vorfall, und der Schmerz, den ich empfinde, ist kein chronisches Leiden. Er ist wie ein Stachel, der schon lange im Fleisch steckt, der erst wieder wahrgenommen wird, wenn er gestoßen wird. Es bedarf eines Auslösers, das kann ein Film im Kino oder im Fernseher, eine Geschichte über hilflose oder einsame Menschen sein. Es sind die gleichen aufgewühlten Gefühle, die unkontrolliert hochkommen und mich überwältigen, oft auch, wenn ich Musik von Ludwig van Beethoven oder Gustav Mahler höre.
Wenn das Leid anderer Menschen mich so aufwühlt, ist das Empathie oder Selbstmitleid? Wäre ich jemals dazu fähig geworden, Empathie mit anderen Menschen zu empfinden, wenn ich nicht die Erfahrung der hilflosen Verlassenheit selbst erlebt hätte? Wird die Fähigkeit, bestimmte Gefühle zu empfinden, in der Kindheit gelegt oder nur offen gelegt?
Als wir in Port Sudan waren, ist die Welt nicht stillgestanden. Meine Eltern sind in Juba in ein anderes Haus gezogen, wo es zusätzlich zwei Kinderzimmer gab. Irgendwann nach unserer Ankunft forderte Vater mich auf, einen Kasten aufzumachen. Ich machte dessen Tür auf und sah im Kasten einen Fotoapparat liegen, eine „Kodak Box Camera“. „Das gehört Dir“, sagte er. Ich finde heute noch keine Worte für die Gefühle, die mich überwältigten. Es war ein unbeschreibliches Gefühl der Freude. Es war nicht nur damals eine riesige Freude, ich hatte viele Jahre sehr große Freude mit diesem Apparat. Dieses Geschenk hat aber die Trauer aus meinem Herzen nicht gebannt und die Wunde nicht geheilt. Bis heute nicht.
Das Jahr auf dem Comboni College war meine erste Erfahrung mit der Schule. Es blieb dabei, ich war ein sehr schlechter Schüler. Ich ging insgesamt elf Jahre zur Schule. Neun davon waren vollkommen verlorene Jahre. Es war für mich immer die reinste Quälerei. Ich habe nichts verstanden und es hat mich alles nicht interessiert. Plötzlich – im vorletzten Schuljahr – fing alles an, mich zu interessieren, ich verstand alles, was ich hörte oder las. Alles, was ich an „Schulbildung“ habe (hatte), habe ich sicherlich nur in den letzten zwei Jahren erworben. Ich glaube, das Problem mit der Regelschule besteht darin, dass man annimmt, alle Kinder entwickelten sich synchron. Was einen Elfjährigen interessiert, muss alle anderen Elfjährigen auch interessieren.
Im Leben ist selten etwas nur schwarz-weiß zu sehen und wenn wir im Leben doch vieles nur schwarz oder weiß sehen, dann nur, weil unser inneres Auge die Schattierungen nicht erkennt. Meine Schuljahre waren sicher eine Qual, eine Tortur, doch es gab Stunden, die für mich sehr genussvoll und wichtig waren, die „English literature“-Stunden. Ich las für mein Leben gern, seitdem ich als Zehnjähriger nach England gekommen war, und verschlang alle Bücher der klassischen englischen Literatur wie Charles Dickens, Daniel Defoe, Robert Lewis Stevenson, Joseph Conrad, Frederick Marryat und …und … Die Musik. Die Pflanzen im Garten, ja doch, es gab Sachen, die mich sehr interessierten, aber nicht der Schulunterricht.