Читать книгу Kein Geld ist auch (k)eine Lösung - Natalie Weckwarth - Страница 10

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„Wie hast du das angestellt? Wofür hast du denn all das Geld ausgegeben?“

Mein Bruder ist nur fünf Jahre älter als ich.

Wenn ich vor seinem Haus stehe, kommt es mir trotzdem jedes Mal so vor, als wäre er mir Jahrzehnte voraus. Im Gegensatz zu mir hat Tim nämlich – für einen Mann untypischerweise – schon sehr früh einen regelrechten Nestbautrieb an den Tag gelegt. Mit siebenundzwanzig, als er so alt war wie ich jetzt, ist er mit seiner Freundin zusammengezogen, hat dann das Projekt Familienplanung gewissenhaft, wie es seine Art ist, in Rekordzeit abgeschlossen und wohnt heute, mit dreiunddreißig, in einem Reihenendhaus mit Vorgarten und Kiesauffahrt. Wäre er nicht mein großer Bruder, den ich mehr als alles auf der Welt liebe (sogar noch mehr als meine Kate-Spade-Tasche, und die ist wirklich mein Ein und Alles!), würde ich ihn für die Ausgeburt des Spießertums halten. Zum Glück ist Tim trotz seines kleinbürgerlich angehauchten Lebenswandels genauso cool drauf wie mit achtzehn, als ihm sämtliche Mädchen der Mittelstufe zu Füßen lagen. Nur mit dem Unterschied, dass ihm heute bloß noch eine zu Füßen liegt und mit ihm das Bett teilt: seine Frau und meine beste Freundin Carolin. Sie und ich kennen uns seit der fünften Klasse, und wenn ich es recht bedenke, müsste sie auf ewig in meiner Schuld stehen. Denn ich bin diejenige gewesen, die Tim und sie zusammengebracht hat. Wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, hätte ich damals nicht das entscheidende Date arrangiert? Zugegeben, ich habe nicht aus reiner Nächstenliebe gehandelt. Dahinter steckte purer Egoismus. So wusste ich Tim erstens in guten Händen und nicht bei einer von diesen aufgetakelten, strohköpfigen Tussis, die er früher oft nach Hause brachte, und zweitens blieb mir Carolins Freundschaft erhalten, weil sie ihre Freizeit nicht allein mit irgendeinem Typen verbrachte, den ich nicht kannte. Auf diesem Weg konnten wir oft etwas zu dritt unternehmen, ohne dass ich mich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen brauchte. Meine beste Freundin mit meinem Bruder zu verkuppeln war der genialste Einfall, den ich je in meinem Leben hatte (vielleicht abgesehen vom Kauf dieses atemberaubenden Miu-Miu-Kleides, in dem mein Busen zwei Körbchen größer erscheint). Die beiden haben durch mich zu ihrem Traumpartner gefunden. Da ist es definitiv an der Zeit für sie, sich bei mir zu revanchieren!

Und der heutige Samstag ist die ideale Gelegenheit dazu. Ich habe extra bis zum Wochenende gewartet, da es die Chancen erhöht, meinen Bruder einigermaßen gutgelaunt, da ausgeschlafen anzutreffen. Frohen Mutes drücke ich auf den Klingelknopf und setze sicherheitshalber ein fröhliches Lächeln auf. Soll ja niemand auf die Idee kommen, ich könne hilfebedürftig sein. Kaum ist die Klingel verstummt, bricht im Haus ein markerschütterndes Gebrüll los, bei dem ich mir selbst hier draußen am liebsten die Ohren zuhalten würde. Einige endlose Sekunden lang geschieht gar nichts. Ich will gerade ein zweites Mal läuten, als sich schließlich doch die Tür öffnet und ein ziemlich zerrupft aussehender Tim mit meinem heulenden Neffen Nick auf dem Arm vor mir steht.

Ein Anblick, an den ich mich immer noch nicht ganz gewöhnen kann, obwohl er sich mir seit über einem halben Jahr in großer Regelmäßigkeit präsentiert. Bis dato hatte Tim als Unternehmensberater für einen gigantischen Konzern gearbeitet. Nicht nur das – er hatte eine regelrechte Spitzenposition inne. Mit seinem Jahresgehalt hätte man einen afrikanischen Kleinstaat von der Hungersnot befreien können. Der Preis dafür war der beinahe vollständige Verzicht auf Freizeit. Siebzig-Stunden-Wochen stellten den Regelfall dar. In seinem kompletten ersten Ehejahr hat er Carolin fast ausschließlich schlafend zu Gesicht bekommen, weil sie bereits im Bett war, wenn er nach Hause kam. Schätzungsweise hätte er ewig so weitergemacht, hätte die Sklavenarbeit vor einem Jahr nicht ihren Tribut gefordert. Nach monatelangen Beschwerden diagnostizierte man ihm ein Magengeschwür, und plötzlich wurde ihm klar, dass er vielleicht einen Gang zurückschalten sollte, wenn er die Einschulung seiner Kinder noch erleben wollte. Nachdem Nick auf die Welt kam, einigten er und Carolin sich darauf, dass er ein Sabbatjahr einlegen würde und sie vorerst zur Alleinverdienerin wird. Mit ihrer Stelle als Immobilienmaklerin verdient sie gerade genug, um eine vierköpfige Familie eine Zeitlang durchzubringen. Seitdem ist Tim in seiner Rolle als Hausmann richtig aufgeblüht. Er sagt, er kann sich gar nicht mehr vorstellen, je wieder etwas anderes zu machen. Ich finde die Vorstellung von ihm beim Bügel oder Putzen zuweilen etwas befremdlich, aber solange es ihn glücklich macht, werde ich einen Teufel tun, ihn davon abzuhalten.

Als er mich nun, verwundert über meinen Überraschungsbesuch, anschaut, behalte ich trotz des enormen Lautstärkepegels mein Lächeln bei und halte die Brötchentüte hoch, die ich auf dem Weg hierher besorgt habe. „Ich wette, ihr habt noch nicht gefrühstückt!“

„Mia?“ Vielleicht glaubt er an eine schlafmangelbedingte Halluzination.

„So nennt man mich, ja. Aber das ist nur meine Tarnidentität. In Wahrheit bin ich Shoppinggirl. Die Frau, die unschuldige Kleidungsstücke aus den Geschäften befreit“, scherze ich.

„Was machst du denn so früh morgens hier?“, erkundigt er sich halb schreiend, um Nicks Krakeelen zu übertönen.

„Es ist acht. Für meine Verhältnisse ist das spät“, entgegne ich und trete unaufgefordert ein. Ich blicke an ihm herab. „Außerdem bist du angezogen. Das heißt, du musst seit mindestens zwei Stunden wach sein.“

Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass es in einem Haushalt mit Baby als Erfolg zu verzeichnen ist, wenn man es schafft, sich vor zehn Uhr morgens halbwegs ansehnlich herzurichten.

Endlich macht sein verwirrter Gesichtsausdruck einem leichten Grinsen Platz. „Seit drei, um genau zu sein.“

„Lass mich raten: Genauso lange schreit er auch schon?“, tippe ich und nicke in Richtung meines weinenden Neffen.

„Ungefähr, ja.“

„Was hat er?“

„Er hat angefangen zu zahnen“, sagt mein Bruder mit diesem stolzen Unterton, den nur Eltern draufhaben und mit dem sie sogar die Erzählung, wie ihr Nachwuchs zum ersten Mal aufs Töpfchen gegangen ist, klingen lassen, als habe er den K2 bezwungen.

„Ein Grund mehr, keine Kinder zu bekommen.“

„Eines fernen Tages wirst auch du die Freuden des Elterndaseins zu schätzen wissen“, orakelt er.

„Mit Betonung auf fern.“

Er lächelt schief. „Kannst du mir bitte mal verraten, warum du am Samstag um acht Uhr bei uns auf der Matte stehst. Wir hätten alle noch schlafen können.“

„Wir wissen beide, dass Wochenenden für euch nicht existieren. Also freu dich lieber, dass du in den seltenen Genuss kommst, mit deiner Schwester frühstücken zu dürfen“, halte ich dagegen und drücke ihm die Brötchen in die freie Hand. „Ich decke sogar den Tisch, wenn du es schaffst, diese Sirene da zum Schweigen zu bringen“, füge ich mit Blick auf Nick hinzu.

Er will etwas antworten, wahrscheinlich: „Rede nicht so gemein über meinen Sohn“, doch er kommt nicht dazu, denn in diesem Moment poltern zwei Kinderfüße die Treppe herunter, gefolgt von nicht weniger lautstarken Erwachsenenschritten.

„Alina! Dein Rock! Wir müssen den Rock noch anziehen“, höre ich Carolin rufen, aber meine Nichte hat anscheinend beschlossen, heute ohne Rock herumzulaufen. Sie kommt bloß mit T-Shirt und Unterhose bekleidet die letzte Stufe heruntergehüpft und springt mir von dort aus direkt in die Arme.

„Mia!“

„Hey, kleine Maus“, lache ich über ihre stürmische Begrüßung und wirbele mit ihr einmal im Kreis herum.

Sie strahlt mich an.

Alina ist das einzige Argument, was mich noch nicht vollends von dem Gedanken abgebracht hat, irgendwann einmal Kinder zu bekommen. Mit ihren honigblonden Haaren und den pazifikblauen Augen sieht sie aus wie eine Miniaturausgabe von Carolin, die die gleichen weichen Gesichtszüge hat. Nick hingegen lässt mit seinen sieben Monaten bereits mehr die markante Kinnpartie und das dichte, braune Haar meines Bruders erkennen. Natürlich benimmt sich Alina keineswegs immer so engelhaft wie sie aussieht. Für ihre vier Jahre ist sie geradezu beängstigend clever und nutzt ihr Pfiffigkeit mit Vorliebe dazu, ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Mich dagegen kann sie mit einem einzigen Augenaufschlag komplett um den Finger wickeln.

„Geht's dir gut?“, erkundige ich mich bei ihr, was sie mir mit einem eifrigen Nicken beantwortet.

Inzwischen ist Carolin mit Alinas Rock wedelnd am unteren Treppenabsatz angekommen und bemerkt mich nun auch.

„Was machst du denn hier?“, bekomme ich zum zweiten Mal an diesem Morgen zu hören. „Ist was passiert?“

„Da will man seinen Lieben einen netten Besuch abstatten, und alle befürchten gleich das Schlimmste.“

„Ein Besuch um diese Uhrzeit ist ja auch etwas ungewöhnlich“, wendet sie ein.

„Was habt ihr nur alle mit der Uhrzeit? Also ich bin ausgeschlafen. Ihr etwa nicht?“, grinse ich in die Runde.

„Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sich ausgeschlafen anfühlt“, sagt Carolin trocken.

„Seht ihr, da könnt ihr doch gut ein Frühstück gebrauchen. Oder was meinst du?“, wende ich mich an Alina.

„Hm-hm“, nickt sie wieder.

„Schön.“ Ich setze die Kleine auf dem Boden ab. „Dann mal los.“

Sie flitzt voraus in die Küche, und ich folge ihr, wobei ich gerade noch aus den Augenwinkeln erkennen kann, dass Tim Carolins fragenden Blick mit einem ratlosen Schulterzucken beantwortet. Natürlich haben sie recht. Es ist ungewöhnlich, an einem Samstag um acht Uhr morgens irgendwo aufzukreuzen, selbst wenn es sich dabei um den engsten Kreis der Familie handelt. Aber ich habe es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten, und das Frühstück ist der perfekte Vorwand, um die Katze aus dem Sack zu lassen.

In der Küche sitzt Alina bereits am leeren Tisch.

„Da hat wohl jemand Hunger“, lächele ich sie an.

„Jaaah. Und wie!“

Carolin und Tim kommen ebenfalls herein, und hat Nick sein Geplärr zum Glück auf ein halbwegs erträgliches Quäken reduziert. Gemeinsam decken wir den Tisch und kochen Kaffee, sodass wir kurz darauf alle zusammensitzen und uns die Brötchen schmecken lassen können.

„Jetzt mal im Ernst“, sagt Tim nach dem ersten Bissen. „Warum bist du hier? Nur um mit uns zu frühstücken?“

Betont lässig zucke ich die Achseln. „Ich konnte nicht mehr schlafen, und da dachte ich mir: 'Hey, wieso besorgst du nicht was zu essen und schaust bei Tim und Caro vorbei, die sind bestimmt auch schon wach.' Ich war lange nicht mehr hier.“

Carolin schaut mich skeptisch an. „Du warst erst vor zwei Wochen hier. Zum Abendessen.“

Mist! Stimmt.

„Seht ihr! Viel zu lang. Die Kinder wachsen so schnell – da will ich nichts verpassen!“

„Mia.“ Tim sieht mich seinem Mach-deinem-großen-Bruder-nichts-vor-Blick an. „Was ist los?“

„Gar nichts!“, beteuere ich. „Echt mal, was denkt ihr denn?“

„Du würdest niemals deinen freien Samstag opfern, nur für ein Frühstück mit uns“, stellt er fest. „Also?“

Seufzend lasse ich meine bisher unangerührte Brötchenhälfte auf den Teller sinken. Das ist der Nachteil bei einem Bruder, der einen ein bisschen zu gut kennt. Ich fühle mich wieder wie mit fünfzehn. Seinerzeit entlockte Tim mir mit einer hinterhältigen Verhörtaktik das Geständnis, dass ich heimlich gekifft hatte. Gut, sage ich es ihnen eben. Schließlich bin ich genau deswegen hergekommen, nicht wahr? Dann kann ich es auch gleich hinter mich bringen.

„Okay. Es ist, weil ... äh ... ich wollte ... euch fragen ...“

Tim und Carolin sehen mich abwartend an, und auch Alina schaut neugierig in meine Richtung. Sogar Nick in seinem Babystuhl hängt an meinen Lippen und nuckelt dabei an seinem Beißring. Und da verlässt mich der Mut. Plötzlich erscheint es mir geradezu obszön, vor unschuldigen Kindern mein Geldproblem auszubreiten. Das gehört wirklich nicht an den Frühstückstisch. Außerdem ist es strategisch ganz ungünstig, solche Themen vor der ersten Tasse Kaffee anzuschneiden. Das versaut doch total die Stimmung!

„... ähm ... ob wir nicht mal wieder was zusammen unternehmen sollen“, platze ich heraus.

Tja, damit haben sie nicht gerechnet. Tim wirkt enttäuscht. Er hatte wohl eine echte Sensation erwartet.

„Was denn unternehmen?“, fragt er beinahe gelangweilt.

„Irgendwas eben. Früher sind wir ständig zu dritt ausgegangen“, erinnere ich ihn.

„Früher hatten wir auch noch keine Kinder“, murmelt Carolin.

„Und mit Kindern ist das Leben nicht gleich zu Ende.“ Hoffe ich zumindest. „Werdet bloß nicht eins von diesen schrecklichen Spießerehepaaren, die nur noch aus dem Haus gehen, um ihre Blagen zum Ballettunterricht oder in den Sportverein zu kutschieren!“, ermahne ich sie spaßhaft.

„Natürlich nicht. Es ist trotzdem nicht mehr so einfach, spontan abends wegzugehen“, äußert auch Tim seine Bedenken.

„Muss ja nicht spontan sein. Wir können es jetzt planen.“

„Und was schwebte dir da so vor?“ Er klingt nicht sehr euphorisch. Wahrscheinlich ist ihm ein Abend mit der Sportschau wirklich schon lieber geworden als eine durchfeierte Nacht. Dem muss ich dringend entgegenwirken. Sonst mutieren die beiden ganz zu Couchpotatos.

„Wir könnten zum Beispiel mal den neuen Club testen. Zweitausendzwölf heißt der. Wir haben letztens im Sender darüber berichtet. Der soll echt gut sein.“

Carolin lacht auf. „Und vor allem echt teuer. Der Club gehört zum Falkenstein. Das heißt, unter fünfzig Euro Mindestverzehr kommt man da nicht rein.“

Tatsächlich grenzt die neue Nobeldiskothek an das Falkenstein – ein Fünf-Sterne-Hotel, das einer stinkreichen Unternehmerfamilie gehört, die hier in Altenkirchen und Umgebung in Besitz zahlreicher Restaurants und Bars ist. Die sind allerdings nicht halb so protzig und für jedermann bezahlbar.

„Ach, das glaube ich nicht“, widerspreche ich. „Sie würden nicht so viel Werbung dafür machen, wenn sich den Eintritt nicht jeder leisten könnte.“

„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich kommen wir nicht mal rein. Es sei denn, sie haben gerade Ü-30-Party“, mosert Tim.

Mensch, was ist denn mit denen los? Früher haben sie keine Gelegenheit ausgelassen, ganze Nächte durchzumachen. Und kaum haben sie ein sabberndes Baby und ein nach Aufmerksamkeit lechzendes Kleinkind in die Welt gesetzt, besteht ihre Abendunterhaltung darin, Windeln zu wechseln und Pu der Bär vorzulesen. Mich schüttelt es beim Gedanken daran.

„Jetzt tut nicht so, als stündet ihr kurz vor der Rente. Ihr seid Eltern, keine Greise! Außerdem braucht ihr ab und zu mal Kontakt zu Menschen, mit denen ihr euch nicht nur über die bekömmlichste Sorte Babybrei unterhalten könnt“, lästere ich.

„Du hast ja recht“, seufzt Carolin wehmütig. „Wir waren ewig nicht mehr richtig feiern. Lust hätte ich schon.“

„Na also“, freue ich mich. „Wann steigt die Party?“

„Was für eine Party? Zum Geburtstag?“, erkundigt sich Alina mitten in unserer Diskussion, und wir müssen alle lachen.

Die Frage, ob unsere Clubbingnacht denn nun überhaupt stattfinden soll und wenn ja, wann und wer dann auf die Kinder aufpasst, bleibt erst einmal Gesprächsthema, bis Nick erneut zu quengeln anfängt. Grund dafür sind diesmal nicht seine durchbrechenden Zähnchen, sondern der eindeutige Geruch, der sich von seiner Richtung aus über den Frühstückstisch ausbreitet. Hätte ich meinen Appetit nicht schon mit den Brötchen gestillt, wäre er mir spätestens jetzt vergangen.

„Bäh, Nick!“, beschwert sich Alina und hält sich demonstrativ die Nase zu. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, es ihr gleichzutun.

Carolin hingegen lacht nur und hebt ihren Sohn aus seinem Stuhl. „Wir zwei kümmern uns mal um eine frische Windel, was?“, lächelt sie ihn an. „Komm mit, Alina. Du bist immer noch nicht fertig angezogen.“

Zu meiner Überraschung folgt die Kleine ihr widerspruchslos. Anscheinend sind die Erziehungsmethoden im Hause Herrlich wirksamer, als ich bisher dachte. Die beiden machen sich auf den Weg nach oben und lassen mich mit Tim allein zurück. Ein ungewohntes Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Die ideale Gelegenheit, endlich mein Anliegen vorzubringen. Nur wie? Einfach frei von der Leber weg? So in der Art: „Hey, lass mal 'n bisschen Kohle rüberwachsen!“? Kommt vielleicht nicht ganz so gut an. Angespannt lächele ich zu Tim herüber, der mich aufmerksam mustert. Ahnt er etwa was?

„Mia, ist alles okay bei dir?“, fragt er mit den zwei Sorgenfalten auf der Stirn, die er früher immer bekommen hat, wenn er fürchtete, ich könne in Schwierigkeiten stecken. Womit er zum ersten Mal seit Jahren wieder recht hat und mir somit eine Steilvorlage liefert.

Ich schlucke. Jetzt oder nie.

„Nein“, sage ich ehrlich. „Es ist nichts okay.“

Er nickt. „Wusste ich's doch.“

Aus Verlegenheit kehre ich die Brötchenkrümel auf meinem Teller mit dem Messer zu einem Häufchen zusammen. Was soll ich jetzt sagen?

„Hast du Stress mit 'nem Typen?“, hilft er mir auf die Sprünge.

Ein bitteres Lachen entfährt mir. „Ja. So könnte man es sagen.“

„Hab ich mir gedacht“, seufzt er. „Was ist es diesmal? Hast du wieder jemandem das Herz gebrochen?“

Tz. Wieder. Als wäre das bei mir an der Tagesordnung! Ja, schon gut, es ist das ein oder andere Mal vorgekommen. Irgendwie gerate ausgerechnet ich immer an die Männer, die entgegen aller gängigen Klischees total auf feste Bindungen abfahren und nicht mit meiner Einstellung zu Beziehungen im Allgemeinen und Besonderen klarkommen. Was kann ich denn bitte dafür? Schließlich kläre ich die Fronten von Anfang an. Nur wollen sie am Ende nichts davon gewusst haben.

„Nein“, winke ich ab. „Es ist nur ... Ich bräuchte da bei etwas deine Hilfe.“

„Bedrängt dich etwa jemand?“, fragt er bestürzt.

„Ziemlich, ja.“

Tims Beschützerinstinkt ist geweckt. Sein Blick verfinstert sich. „Wer ist der Kerl?“

„Mein Vermieter.“

Seine Augen weiten sich. „Du hast was mit deinem Vermieter?!“

„Schwachsinn! So meinte ich das nicht“, stelle ich schnell richtig. „Er ist etwas ... wütend auf mich.“

Mein Bruder entspannt sich sichtlich. „Wieso?“ Beinahe amüsiert lehnt er sich zurück. „Hast du die Miete nicht bezahlt, oder was?“

Volltreffer! Mein Bruder sollte unter die Mentalisten gehen.

„Könnte sein“, murmele ich und vergrößere den Krümelhaufen auf meinem Teller.

Sogar ohne hinzusehen, bemerke ich, wie das Schmunzeln aus seinem Gesicht verschwindet. „Wie, könnte sein?“

Widerwillig reiße ich meinen Blick vom den Brötchenüberresten los und wage es, ihm in die Augen zu schauen. „Ich habe die Miete für diesen Monat noch nicht überwiesen.“

Tim blinzelt mich verständnislos an. „Warum nicht?“

„Vergessen?“, versuche ich es zunächst mit einer Erklärung, die nicht zu weit von der Wahrheit entfernt ist und trotzdem nicht alle Einzelheiten der genaueren Umstände offenbart.

„Verstehe ich nicht. Wieso hast du das Geld nicht überwiesen, nachdem er dich daran erinnert hat?“

Guter Punkt.

„Das hatte ich vor ...“

„Aber?“

„Tja ...“ Ich kichere nervös. „Genau das ist das Problem.“

„Welches worin besteht?“, hakt er mit wachsender Ungeduld nach.

Ich muss es ihm sagen. Es führt kein Weg daran vorbei. Auch wenn es peinlich und demütigend wird und er alles andere als begeistert sein wird, er ist trotz allem mein Bruder. Wenn ich mich ihm nicht anvertrauen kann, wem dann? All meinen Mut zusammennehmend atme ich einmal tief durch. Augen zu und durch.

„Ich wollte die Miete ja bezahlen“, fange ich an. „Nur ist mir da letzte Woche was echt Blödes passiert. Mir sind die Kreditkarten gesperrt worden. Als ich einen Kontoauszug gedruckt habe, habe ich festgestellt, dass ich da wohl kleines bisschen in den Miesen bin.“

„Was heißt 'ein kleines bisschen'?“

„So genau weiß ich es jetzt gar nicht mehr“, druckse ich herum.

„Ungefähr!“

„So etwa ... fünf.“

„Hundert?“

„Tausend“, gestehe ich kleinlaut.

Tim stiert mich an. „Du hast fünftausend Euro Schulden?!“

„Nun, ich würde es nicht unbedingt 'Schulden' nennen ...“

„Sondern?“

„Vielleicht ... einen kleinen Ausgabenüberschuss?“

„Einen ziemlich großen Ausgabenüberschuss, meinst du wohl!“

„Meinetwegen auch das.“

Er schüttelt den Kopf. „Fünftausend Euro! Ich fasse es nicht!“

„Genauer gesagt, könnte es auch etwas mehr sein. Ich habe noch nicht alle Rechnungen aufgemacht, die zuhause herumliegen.“

„Noch nicht alle Rechnungen aufgemacht?!“ Seine Stimme schwillt an.

„Und ein paar Mahnungen dürften wohl auch dabei sein.“

„Mahnungen?!“, ruft er, während die Ader an seinem Hals gefährlich hervortritt.

„Könntest du aufhören, alles zu wiederholen? Es einmal auszusprechen ist schlimm genug.“

Aufgebracht fährt er sich mit der Hand durchs Haar. „Mia! Wie ... wie hast du das angestellt? Ich meine ...“ Er stockt. „Du ... wohnst in dieser winzigen Wohnung. Du fährst dieses uralte Auto. Du hast keinen Kredit aufgenommen. Wofür hast du denn all das Geld ausgegeben?“

„Ich ... ich weiß es nicht. Ich habe nur ein paar Sachen gekauft.“

„Nur ein paar Sachen?!“

Fängt das schon wieder an.

„Gibt es hier drin ein Echo?“, spotte ich leicht verärgert.

„Entschuldige.“ Er räuspert sich. „Ich verstehe es einfach nicht.“

„Na ja, es waren ein paar teure Sachen“, lenke ich ein.

„Offensichtlich! Was denn zum Beispiel?“

„Der Fernseher. Die Hifi-Anlage. Dieses eine Kleid von Vivienne Westwood ... Aber das war reduziert“, füge ich hastig hinzu. „Wirklich!“

Mein Bruder fasst sich mit beiden Händen an die Stirn und schließt für einen Moment die Augen. Eigentlich neigt er nicht zu Wutausbrüchen. Nun habe ich das Gefühl, er steht kurz vor einem Tobsuchtsanfall und muss sich selbst dazu zwingen, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Um ehrlich zu sein, bin ich echt eingeschüchtert. Ich hatte gehofft, er würde in diesem Fall seine liebenswürdige, verständnisvolle Seite zeigen ...

„Hör zu! Ich weiß, ich habe Scheiße gebaut“, gebe ich offen zu. „Nur kann ich das jetzt gerade nicht rückgängig machen. Die Sache ist die: Herr Schlüter will am Montag sein Geld haben, am besten in bar. Nur habe ich es nun mal nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn ich versuche, auch nur zehn Euro von meinem Konto abzuheben, und offen gesagt, bin ich nicht scharf darauf, es auszuprobieren. Deshalb wollte ich dich fragen ... ob du mir eventuell ... etwas leihen könntest.“

Ruckartig blickt er wieder zu mir auf, nachdem er sich die letzte Minute lang wie wild die Schläfen massiert hat.

„Nur so viel, damit mein Konto wieder gedeckt ist“, rede ich weiter, um ihm die Bedenken zu nehmen, bevor er sich vorschnell dagegen entscheiden kann. „Ich zahle es dir sofort zurück, sobald ich es habe. Das verspreche ich dir hoch und heilig!“

Einen Moment lang schaut er mich bewegungslos an. „Mia, ich kann dir das Geld nicht geben“, sagt er dann.

Was? Was soll das heißen? Vertraut er mir etwa so wenig??

„Tim, bitte!“, flehe ich. „Ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine andere Möglichkeit sehen würde. Du kannst dich auf mich verlassen. Du bekommst es zurück! Sogar mit Zinsen! Meinetwegen können wir auch einen Vertrag oder so was abschließen, wenn du darauf bestehst!“ Meine Stimme klingt erstickt. Ich spüre Tränen der Verzweiflung in mir aufsteigen.

„Darum geht es nicht“, winkt er ab. „Ich kann dir das Geld nicht geben, weil ich es nicht habe.“

Sprachlos sehe ich ihn an. Er hat es nicht? Will er mich verarschen? Er und Carolin haben Unmengen an Geld! Das weiß ich hundertprozentig. Also, ich glaube es hundertprozentig.

„Wie, du hast es nicht?“, wiederhole ich nun genauso belämmert wie er vorhin.

„Wir haben keine fünftausend Euro oder 'auch etwas mehr'“, beharrt er.

„Aber ... das kann nicht sein. Ihr ... Ich dachte, ihr habt haufenweise Ersparnisse.“

„Ja, sicher.“ Tim schnaubt. „Was glaubst du denn, wovon wir das Haus bezahlt haben?“

Das blanke Entsetzen packt mich. Sie haben es wirklich nicht?

„Mia, ich habe selbst einen Kredit über zwanzigtausend laufen. Da kann ich dir nicht einfach was leihen. Schon gar nicht so viel.“

„Oh Gott“, japse ich. „Oh mein Gott!“

Das war mein allerletzter Ausweg. Ohne Tim bin ich am Ende. Jetzt ist alles vorbei! Obdachlosenheim, ich komme. Vor Erschütterung halte ich mir die Hände vor den Mund. Mit einem Mal ist mir speiübel.

„Jetzt mal langsam“, sagt Tim beruhigend und kommt um den Tisch herum, um sich neben mich zu setzen. „Gibt es wirklich keine andere Lösung?“

„Ich wüsste nicht, welche“, entgegne ich heiser, die Tränen nur mit Anstrengung zurückhaltend. „Ich habe schon alles versucht. Nach einer Gehaltserhöhung gefragt und so. Sogar Lotto habe ich gespielt.“

„Lotto?“ Er lacht ein bisschen. „Hast du geglaubt, du gewinnst auf Anhieb den Jackpot?“

„Na ja, irgendwie schon“, gestehe ich geknickt. „Oder sagen wir, ich hatte es gehofft.“

Mein Bruder seufzt. „Was ist mit Papa. Könnte er nicht vielleicht ...?“

„Vergiss es! Er hat es wahrscheinlich auch nicht. Außerdem traue ich mich nicht, ihn zu fragen“, gestehe ich.

„Ich könnte mit ihm reden.“

„Auf keinen Fall! Bitte, halt ihn da raus.“

„Okay, wie du meinst. Aber wie willst du dann an das Geld kommen?“

„Ich weiß es nicht“, stoße ich hervor, als mir schlagartig bewusst wird, was mir nun blüht. Herr Schlüter kennt keine Gnade. Sollte ich die Miete übermorgen nicht parat haben, sitze ich auf der Straße! Die Tränen sind nicht mehr zu bändigen. Ungehalten rollen sie mir über die Wangen und tropfen in meinen Schoß. „Schlüter schmeißt mich raus“, weine ich.

„Quatsch! So einfach geht das nicht.“

„Natürlich geht das! Er hat alles Recht der Welt dazu.“

Schluchzend verberge ich das Gesicht in meinen Händen.

„Hey“, sagt Tim sanft und nimmt mich in die Arme. „Nicht weinen. Damit ist keinem geholfen.“

Muss er immer so verdammt pragmatisch sein? Sicher hilft es niemandem, aber schaden tut es auch nicht.

„Was soll ich denn machen?“, wimmere ich. „Meine Kreditkarten sind gesperrt, und die von der Sparkasse haben mir auch schon einen Brief geschickt und damit gedroht, mein Konto zu kündigen. Ich bin pleite!“

Er löst sich von mir. „Die Sparkasse lässt bestimmt mit sich reden. Sie können dir vielleicht den Dispo etwas erhöhen. Da gibt es immer Möglichkeiten.“

„Tim, das sind Banker! Die lassen nicht mit sich reden!“

„Blödsinn. Das sind auch nur Menschen. Mit so etwas haben die täglich zu tun. Ich bin mir sicher, sie haben Verständnis, wenn du ihnen ...“

„Sie werden mich hochkant rauswerfen!“, unterbreche ich ihn völlig aufgelöst.

„Was ist denn hier los?“, erklingt Carolins Stimme von der Tür.

Mit Nick auf dem Arm und Alina im Schlepptau steht sie im Kücheneingang und sieht uns erschrocken an.

„Mia hat Schulden“, erklärt Tim ihr.

Bei dem Wort fahre ich leicht zusammen. Auf einmal schäme ich mich. Entsetzlich sogar. Ich fühle mich wie eine richtige Versagerin. Tim ist ein richtiges Glückskind. Ihm ist seit jeher alles nur so zugeflogen. Egal, was er angepackt hat, es ist ihm auf Anhieb gelungen. Er hat ein Wahnsinnsabi hingelegt, sein Studium im Handumdrehen abgeschlossen, diesen megagutbezahlten Job an Land gezogen, seine Traumfrau gefunden, zwei hinreißende Kinder gezeugt und musste sich dafür nicht einmal anstrengen. Und ich? Ich habe mein Abitur mit Ach und Krach geschafft, mein Studium hingeschmissen, eine unterbezahlte Stelle, gefühlte fünfhundert gescheiterte Affären hinter mir und sitze noch vor meinem dreißigsten Geburtstag auf einem Berg von Schulden. Keine besonders ermutigende Bilanz, wenn man mal ehrlich ist.

Carolin kommt zu uns an den Tisch. „Schulden haben wir auch“, sagt sie an mich gewandt, was mich wohl trösten soll. „Deshalb weinst du?“

„Der Unterschied besteht darin, dass wir sie zurückzahlen können“, meint Tim.

„Oh.“ Langsam lässt sie sich auf ihren Stuhl sinken. „Wie hoch sind sie denn?“

„Über fünftausend. Sie hat gefragt, ob wir ihr etwas leihen können.“

„Und, können wir?“

„Caro, wir müssen das Haus abbezahlen. Ich kann nicht auf einen Schlag so viel abheben. Da zeigt mir die Bank einen Vogel“, unterhalten sich mein Bruder und meine Schwägerin über meinen Kopf hinweg, während ich mich langsam wieder sammele.

„Schon gut“, schniefe ich. „Ihr könnt auch nichts machen. Es ist nur ... ich weiß nicht, wen ich sonst fragen könnte. Ich ... Vielleicht ... verkaufe ich was. Mein Auto oder so. Wisst ihr zufällig jemanden, der es mir bis Montag abnehmen würde?“

„Sei nicht albern“, sagt Tim unwirsch. „Erstens findest du so kurzfristig keinen Käufer, und zweitens macht das den Kohl auch nicht fett. Für die Schrottkiste kriegst du keine fünfhundert Euro mehr.“

„Dann hätte ich wenigstens etwas für die Miete!“

„Die brauchst du bis Montag?“, erkundigt sich Carolin, die von unserem vorherigen Gespräch ja nichts mitbekommen hat.

Betrübt nicke ich.

„So viel können wir dir geben“, sagt sie. „Oder, Schatz?“

„Klar“, nickt er ein wenig zögerlich. „Doch, sicher. Das können wir“, fügt er bestimmter hinzu, nachdem Carolin ihm einen eindringlichen Blick zugeworfen hat.

„Ehrlich?“ Hoffnungsvoll sehe ich auf.

„Das steht außer Frage“, erklärt meine Freundin.

Am liebsten würde ich einen Luftsprung machen. Ich traue dem Braten nur noch nicht so ganz. „Ihr müsst nicht“, lenke ich schweren Herzens ein. „Wenn ihr es nicht habt, dann ...“

„Wir haben es“, fällt Tim mir ins Wort. „Wirklich. Das ist kein Problem.“

Zum ersten Mal seit Tagen spüre ich einen winzigen Brocken von dem Gebirge, das auf meinem Herzen lastet, herunterfallen. „Danke“, kann ich bloß hauchen. „Vielen, vielen Dank.“ Ich drücke ihn lange und feste.

„Damit ist das Problem nicht aus der Welt, Mia“, erwidert er ernst.

„Das weiß ich“, murmele ich.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen.“

Verwirrt schaue ich auf. „Wir?“

„Ja, glaubst du etwa, ich lasse dich damit allein?“

Endlich kann ich wieder lächeln. Genau das ist der Grund, weshalb ich meinen Bruder so sehr liebe. Er steht mir immer zur Seite. In guten und in schlechten Zeiten. Dafür bekommt er gleich noch eine Umarmung von mir. Auch Carolin schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln.

„Wozu ist Familie da? Wir helfen dir. Wenn auch nicht mit Geld. Wir finden schon irgendeine Lösung.“

„Ihr seid unglaublich, wisst ihr das?“, sage ich halb lachend, halb weinend. Nur diesmal fließen die Tränen vor Rührung.

Tim gibt mir mit einem aufmunternden Nicken zu verstehen: Wir packen das.

Und ich glaube ihm.

Kein Geld ist auch (k)eine Lösung

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