Читать книгу Kein Geld ist auch (k)eine Lösung - Natalie Weckwarth - Страница 8
Оглавление„Du hast eine Fünfundzwanzig-Stunden-Woche. Was erwartest du denn da?“
Die Schublade aufzumachen war ein Fehler.
Das weiß ich spätestens am nächsten Morgen, als ich nach einer halbdurchwachten Nacht aus einem unruhigen Schlaf erwache. Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet, und nun spukt das Unheil unentwegt in meinen Gedanken herum. Wie gerädert quäle ich mich aus dem Bett und setze mir erst einmal einen extra starken Kaffee auf. Danach geht es mir leider auch nicht wesentlich besser, denn mein Blick streift die Schublade, aus der ein Zipfel eines Briefumschlags herausschaut, und sofort kann ich an nichts anderes mehr denken als an die beschissenen Rechnungen und die fast fünftausend Euro Miesen auf meinem Konto. Was soll ich nur machen? Wie soll ich je das Geld auftreiben, um meine Schulden zu begleichen? Mein Gehalt reicht dafür vorne und hinten nicht, und ein prallgefülltes Sparbuch oder irgendeine Notreserve besitze ich auch nicht.
Seufzend setze ich mich an den Küchentisch und zerbreche mir den Kopf, welchen Ausweg es aus meiner Misere gibt. Schließlich schnappe ich mir einen Zettel und kritzele die wenigen Lösungsansätze darauf, die mir eingefallen sind.
Svenja fragen, ob sie mir Geld leiht
Tim oder Papa fragen, ob sie mir Geld leihen (nur im Notfall)
eine Gehaltserhöhung verlangen
im Lotto gewinnen
Hm. Nicht besonders kreativ.
Svenja um Hilfe zu bitten wäre am naheliegendsten. Sie weiß Bescheid über meine Notlage und würde mir sicher aushelfen. Andererseits wäre es mir extrem peinlich, sie anzubetteln. Zumal sie das Geld vermutlich selbst nicht hat. Erst Anfang des Jahres hat sie zusammen mit einer Kollegin ihre eigene Steuerberaterkanzlei eröffnet. Dazu in einer Toplage. Sie müssen für die Miete ganz schön was hinblättern, ganz zu schweigen von der Ausstattung, die sie komplett neu beschaffen mussten. Bis sie die Ausgaben wieder eingeholt hat, wird es sicher noch eine ganze Weile dauern.
Meine Familie zu fragen wäre am einfachsten. Ich bin mir sicher, mein Bruder Tim würde mir anstandslos finanziell unter die Arme greifen. Nur möchte ich ihm ungern auf der Tasche liegen. Außerdem würde er sich unnötig Sorgen machen und mich schon auf einer Parkbank übernachten sehen.
Meinen Vater würde ich besonders ungern damit behelligen. Wir hatten noch nie ein sehr enges Verhältnis. Es ist nicht so, dass wir uns nicht verstehen. Unsere Welten ziehen bloß zu weit voneinander entfernt ihre Bahnen. Ich schätze, es liegt daran, dass er mit der Erziehung eines Mädchens schlichtweg überfordert war. Dafür war er nämlich ganz allein verantwortlich, nachdem meine Mutter sich dazu entschieden hatte, uns zu verlassen. Damals war ich vier Jahre alt. Heute kann ich mich kaum an sie erinnern. Das Einzige, was ich von ihr habe, sind ein paar Fotos und eine Kette, die sie mir geschenkt hat, bevor sie irgendwo ein Leben ohne uns begonnen hat.
In den Achtzigerjahren waren alleinerziehende Väter weitaus exotischer als heute. Tim und ich sind nicht nur einmal schief angeguckt worden, wenn wir den Leuten erzählt haben, dass wir keine Mama, sondern nur einen Papa haben. Als meine Mutter gegangen ist, war ich zu klein, um zu verstehen, was mit unserer Familie passiert ist. Erst Jahre später, mitten in der Pubertät, ist mir allmählich klar geworden, was meine Mutter sich da eigentlich erlaubt hatte, und habe meine Wut auf sie dadurch ausgelebt, dass ich mich meine ganze Jugend hindurch vollkommen danebenbenommen habe. Dass mein Vater nach allem, was ich damals fertiggebracht habe, überhaupt noch mit mir spricht, gleicht einem Wunder. Dabei habe ich meine Mutter nicht einmal richtig gekannt oder gar vermisst. Für Tim muss es bedeutend schlimmer gewesen sein. Er war neun, als unsere Familie auseinanderbrach, und er muss ziemlich genau begriffen habe, dass man uns im Stich gelassen hatte. Merkwürdigerweise scheint er das alles ohne Weiteres weggesteckt zu haben. Im Gegensatz zu mir hat er seine Pubertät damit verbracht, sich politisch zu engagieren, jeden Tag den Wirtschaftsteil der Zeitung zu studieren und sein Abitur mit eins Komma drei zu bestehen. Da sage noch einer, Scheidungskinder hätten es schwer.
Wie es meinem Vater eigentlich damit ergangen ist, kann ich nur erahnen. Geredet hat er nie mit uns darüber. Ganz am Anfang gab es natürlich ein klärendes Gespräch à la „Es ist nicht eure Schuld.“ Danach haben wir kaum mehr ein Wort darüber verloren. Das Leben ging einfach weiter. Ohne Mama. Später hieß es dann, sie wäre mit der Familiensituation nicht zurechtgekommen. Warum man deswegen jeglichen Kontakt zu seinen eigenen Kindern abbricht, hat sich mir bis heute nicht erschlossen, aber ich habe schon lange aufgehört, mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
Jeder von uns dreien ist auf eine andere Art mit dem Weggang meiner Mutter umgegangen. Während Tim und Papa sich dadurch viel näher gekommen sind, war ich zu sehr damit beschäftigt, erwachsen zu werden, als die Gelegenheit zu nutzen, eine echte Bindung zu Papa aufzubauen.
Das ist Grund, weshalb ich ihn nur dann um ein Darlehen bitten würde, wenn ich wirklich kurz davor wäre, auf einer Parkbank übernachten zu müssen.
Bleiben die Gehaltserhöhung und der Lottogewinn. Nachdenklich betrachte ich die beiden Punkte auf meiner kurze Liste. Warum eigentlich nicht? Beide Methoden, an Geld zu kommen, sind einfach und effektiv. Wenn ich so darüber nachdenke, ist eine Lohnerhöhung längst überfällig. Zumal ich geradezu eine Musterangestellte bin: pünktlich, zuverlässig und belastbar. Das sieht mein Chef garantiert genauso. Entschlossen kringele ich den Punkt auf meinem Zettel ein. Gleich morgen werde ich einen kleinen Bonus für meine äußerst zufriedenstellende Arbeit einfordern, und dann bin ich in null Komma nichts wieder in den schwarzen Zahlen!
*
Mit der Aussicht darauf, heute im Idealfall mit einer satten Lohnerhöhung im Gepäck nach Hause gehen zu können, schäle ich mich hochmotiviert am Montagmorgen aus dem Bett, obwohl es noch mitten in der Nacht ist, und zwar nicht nur gefühlt. Die digitale Leuchtanzeige auf dem Wecker zeigt 4:30 an. Von jetzt an bleibt mir nur etwas über eine Stunde, bis ich aufbrechen muss. Für jemanden wie mich ist das verdammt knapp. Deshalb muss auch jeder Schritt sitzen, damit ein reibungsloser Ablauf des Zeitplans gewährleistet ist. Die Schlummerfunktion des Weckers bleibt mir also grundsätzlich verwehrt. Sobald ich das nervtötende Piepen abgestellt habe, springe ich aus den Federn und schlüpfe aus meinen Schlafklamotten, um unter die Dusche zu hüpfen. Zehn Minuten später steige ich erfrischt und deutlich wacher aus der Kabine. Anschließend beginnt der schwierigste Teil des morgendlichen Rituals: die Kleiderwahl. In ein Handtuch gewickelt und mit einem Turban auf dem Kopf stehe ich zähneputzend vor dem Kleiderschrank und muss wie immer feststellen: eine zwei Meter lange Kleiderstange, drei Schubladen und zehn Regalfächer bis zum Anschlag gefüllt sind noch lange keine Garantie dafür, etwas zum Anziehen zu finden. Kein einziges Stück sagt mir auf Anhieb zu. Nur weil die Uhrzeiger unerbittlich weiterschreiten, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich für eine engsitzende Jeans und ein magentafarbenes Shirt zu entscheiden. Schick, aber casual. Auf jeden Fall geeignet für einen Montagmorgen. Ich reiße die Sachen aus dem Schrank, stürze zurück ins Bad, um mir den Mund auszuspülen, sprinte zurück ins Schlafzimmer und werfe mir die Klamotten über. Angezogen widme ich mich meinen Haaren, denen ich mit einem geduldigen Föhn und zwei verschiedenen Rundbürsten zu Leibe rücken muss, ehe aus ihnen etwas wird, das man Frisur nennen kann. Am zeitintensivsten ist das Make-up. Wie üblich treibt mich der Kajalstift an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Meine Feinmotorik ist zu dieser frühen Stunde noch nicht ganz ausgeprägt, weshalb ich mir den Stift regelmäßig ins Auge ramme oder abrutsche. Als ich halbwegs zufrieden mit dem Ergebnis bin, ist es fünf nach halb sechs und höchste Zeit für mich. Rasch noch einen Spritzer Parfum aufs Handgelenk, eine dezente Silberkette angelegt, fertig. Welche Schuhe jetzt? Egal, irgendwelche. Die Sneaker müssen heute herhalten. Frühstück gibt es bei mir nicht. Das würde viel zu lange dauern, und so früh bekomme ich ohnehin keinen Bissen herunter. Auf Zehenspitzen husche ich die Treppen hinunter und verlasse lautlos das Haus, ohne auf Herrn Schlüter zu stoßen, der glücklicherweise noch im Land der Träume wandelt. Pünktlich um fünf Uhr vierzig starte ich den Motor des Wagens. Geschafft! Nun darf bloß nichts Unvorhergesehenes wie eine Rote-Ampel-Welle oder eine Straßenvollsperrung dazwischenkommen, denn in exakt zwanzig Minuten muss ich hinter dem Mikrophon sitzen.
Seit fast sieben Jahren arbeite ich beim lokalen Radiosender meiner Heimatstadt Altenkirchen. Flächenmäßig ist Altenkirchen verglichen mit seinen Nachbarstädten Köln und Düsseldorf nahezu ein Bauerndorf. Davon abgesehen kann es durchaus mit den benachbarten Weltmetropolen mithalten. Wir können uns vor allem mit unserem historischen Stadtkern rühmen, dem idyllischen See am Stadtrand und den urigen Gässchen, die überall, versteckt zwischen modernen Straßen und Hochhäusern, zu finden sind. Den vielen Touristen und Geschäftsleuten aus den umliegenden Gegenden, die oft in Altenkirchen übernachten, verdanken wir ein extrem gut ausgebautes Verkehrsnetz, vor allem aber – und das ist das Wichtigste – erstaunlich gute Einkaufsmöglichkeiten. Vom Feinkostgeschäft über den Fachmarkt bis hin zur Luxusboutique ist alles vertreten, was das Frauenherz – insbesondere meines – höher schlagen lässt. Das ist der Grund dafür, weshalb ich gerne hier lebe. Man hat alles, was auch eine echte Großstadt zu bieten hat, und genießt trotzdem die Ruhe einer Vorstadt.
Im Gegensatz dazu ist unser Radiosender eher provinziell. A-live hat zwar einen trendigen Namen, das ist dann aber auch schon alles. Unserer Playlist sind zu viele Achtzigerjahre-Hits beigemischt, unsere Beiträge bewegen sich zu oft fernab der Zielgruppeninteressen, und unsere Comedy ist zu flach, um mit einem wirklich gefragten Popsender mithalten zu können. Nichtsdestotrotz ist A-live heute, zehn Jahre nachdem wir on air gegangen sind, gefragter denn je. Obwohl ich bisweilen über das Musikschema, die Gags meiner Kollegen und die pseudoseriösen Beiträge nur den Kopf schütteln kann, setze ich mich jeden einzelnen Morgen mit Freude ins Studio. Auch wenn ich dafür um halb fünf aufstehen muss.
Seit drei Jahren bin ich bei A-live festangestellt, und genauso lange moderiere ich auch schon an fünf Tagen die Woche von sechs bis zehn die Morgensendung Frühaufsteher. Radiomoderatorin zu werden war nicht immer Teil meiner Lebensplanung. Im Gegenteil. Nach dem Abitur hatte ich zuerst etwas ganz anderes vor: Ich wollte es meinem Bruder gleichtun und BWL studieren. Davon erhoffte ich mir, später einen Spitzenjob mit Topverdienst zu ergattern. Als ich Tim von meinem genialen Vorhaben berichtete, bekam er einen Lachkrampf, bei dem ich fürchtete, er würde daran ersticken.
„Du?!“, keuchte er. „Du willst in die Wirtschaft? Du weißt doch nicht mal, wie viel fünf Prozent von hundert sind!“
Nun ist es keinesfalls so, dass mein großer Bruder mich nicht für voll nimmt oder in mir ein dummes, kleines Mädchen sieht, das besser hinter dem Herd aufgehoben wäre. Normalerweise unterstützt er mich bei allem, was ich mir in den Kopf setze, und steht mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Kritik von ihm nehme ich immer ernst. Nur in diesem speziellen Fall fand ich seine Zweifel vollkommen unberechtigt.
„Sehr witzig. Basale Mathematik beherrsche ich schon noch“, schmollte ich damals.
„Da geht’s aber nicht um basale Mathematik, Mia“, erklärte er mir in väterlichem Tonfall. „Sondern darum, wie die Finanzwelt funktioniert. Glaubst du nicht, das ist eine Nummer zu hoch für dich?“
Nein, das glaubte ich nicht. So setzte ich mich zum ersten Mal über die gutgemeinten Ratschläge meines Bruders hinweg und schrieb mich an der Uni für Betriebswirtschaft ein. Zwei Semester lang beschäftigte ich mich mit operativem Controlling, makroökonomischen Theorien und Supply-Chain-Management, doch deren tieferer Sinn blieb mir verborgen. Ein weiteres Semester lang klammerte ich mich an die Aussicht auf das prallgefüllte Konto, über das ich eines Tages verfügen würde, bis ich schließlich einsah, dass man das vielleicht auch haben könnte, ohne einen Analysis-Kurs besucht zu haben.
Während Tim meinen Studienabbruch mit gleichgültiger Gelassenheit hinnahm, ganz nach dem Motto: „Hab ich's nicht von Anfang an gesagt?“, war mein Vater weniger angetan. Womit ich denn gedächte, mein Geld zu verdienen, jetzt, wo ich an der Uni gescheitert war? Es kostete mich einige Überzeugungskraft, um ihm klarzumachen, dass ich weniger gescheitert war, als viel mehr die Erkenntnis gewonnen hatte, dass die vielen Prüfungen und der Lernaufwand mich nicht erfüllten. Außerdem hätte ich ja noch meinen Nebenjob, der mich über Wasser halten würde, solange ich herausgefunden hatte, worin eben diese Erfüllung bestand. Neben dem Studium hatte ich schon bei A-live gejobbt, wo ich gelegentlich Sondersendungen moderierte und einzelne Redaktionsbeiträge verfasste. Die Arbeit dort hatte mir von jeher bedeutend mehr Spaß gemacht als das stupide Erstellen von Buchführungen. Ich hatte einen Beruf beim Radio nur aus dem Grund nicht in Betracht gezogen, weil es sich damit nun einmal nicht reich werden ließ, und das war es schließlich, was ich beabsichtigte. Da sich aber auch nach einem weiteren Jahr, das ich mit meiner freien Mitarbeit bei A-live überbrückt hatte, keine echte Jobalternative aufgetan hatte, begrub ich endgültig meinen Traum, irgendwann das große Geld zu machen, und beschloss das zu tun, was ich konnte und liebte: hinter dem Mikrophon sitzen und für Unterhaltung sorgen. Da ich anscheinend das Talent besaß, die Hörer mit meiner Begeisterung für Musik anzustecken, bot mir der Redaktionschef vor drei Jahren endlich eine unbefristete Stelle und einen festen Sendeplatz an. Ich unterschrieb sofort. Mein Gehalt kommt nicht einmal annähernd an das heran, was ich mir früher erträumt hatte, aber für mich alleine reicht es vollkommen.
Nun ja ... es reichte vollkommen, denke ich missmutig, als ich fünf Minuten vor Sendungsbeginn in die Sprecherkabine platze, in der mein Co-Moderator Simon Ackermann bereits breitbeinig hinter dem Mischpult sitzt und an einer Tasse Kaffee nippt.
„Guten Morgen, schöne Frau“, grinst er mich an, während ich abgehetzt meine Tasche in die Ecke schleudere und mich auf den Drehstuhl neben ihn fallen lasse.
Simon behauptet von sich selbst, er habe die erotischste Stimme Deutschlands, bezeichnet sich mit Stolz als Womanizer und ist, nebenbei bemerkt, mein Exfreund. Ja, ich habe es fertig gebracht, mich mit einem Kollegen einzulassen. Nicht sehr clever, ich weiß. Das Ganze fing erst ganz harmlos mit ein paar Flirts an, kurz nachdem ich die gemeinsame Sendung mit ihm bekommen hatte. Dabei hätte es von mir aus gerne bleiben können, wären wir nicht nach der Betriebsweihnachtsfeier in reichlich angetrunkenem Zustand im Bett gelandet. Danach waren wir für eine Weile ein Paar. Leider steckte Simon von Anfang an in diese Beziehung sehr viel mehr Energie und Leidenschaft als ich. Denn es ist nun einmal so – das muss ich an dieser Stelle gestehen –, dass ich mit diesem Pärchen-Unsinn nichts anfangen kann. Im Gegensatz zu allen anderen Frauen, die ich kenne und bei denen ich mit meiner Einstellung regelmäßig tiefe Bestürzung auslöse, halte ich die Liebe für einen einzigen, großen Schwindel. Ein Märchen, an das Erwachsene glauben, weil ihr Leben ansonsten reichlich trostlos wäre.
Sicher, ich war auch schon mal verknallt. Und ich weiß, dass dieses Gefühl vorübergehend ganz nett sein kann. Genauso gut weiß ich aber auch, dass diese hormonelle Verwirrung nach einer Weile so schnell verfliegt, wie sie gekommen ist. Für eine Zeitlang ist es vielleicht ganz schön, jemanden an seiner Seite zu haben, doch letztendlich bedeutet eine Beziehung nichts anderes, als pausenlos Kompromisse einzugehen. Man macht sich abhängig von einem anderen Menschen, muss auf seine Gedanken, Gefühle und Wünsche eingehen und seine eigenen Interessen dafür zurückstellen. Dazu bin ich nicht bereit. Nicht umsonst hat Marilyn Monroe schon vor über fünfzig Jahren gepredigt, Diamanten seien die beste Freunde eines Mädchens. Männer und ihre Vorteile hin oder her – Luxusgüter haben einfach mehr Bestand. Sie halten das, was sie versprechen, und betrüge dich niemals mit einer Jüngeren und Schöneren. Deshalb kann ich mit lockeren Affären viel mehr anfangen. So bewahrt man seine Freiheit und hat trotzdem jemanden, mit dem man sich die langweiligen Sonntage vertreiben kann, an denen sowieso keine Läden geöffnet haben. Auf Dauer ist das natürlich kein Zustand. Irgendwann einmal würde ich schon gerne ein ernsthafte Beziehung führen. Alleine alt zu werden und zu sterben ist ja auch keine Alternative. Aber es eilt nicht. Ich bin jung, und im Moment gibt es wichtigere Dinge in meinem Leben.
Wofür die meisten Vertreter der Spezies Mann bedauerlicherweise kein Verständnis aufbringen können. Auch Simon nicht. Er beschwerte sich ziemlich bald darüber, dass ich außerhalb des Studios mehr Zeit in Geschäften als mit ihm verbrachte. Und als ich einmal eine Verabredung mit ihm vergaß, weil ich beim Ausverkauf eines Outletstores das letzte Paar Guccis zu ergattern versuchte, hatte er die Nase endgültig voll und machte offiziell mit mir Schluss. Natürlich tat ich betroffen, insgeheim dachte ich jedoch darüber nach, zu welcher Hose die neuen Guccis wohl am besten passen würden. Heute tut es mir manchmal leid, wie herzlos ich ihm gegenüber war. Simon ist nämlich echt ein netter Kerl.
Nachdem ein bisschen Gras über die Sache gewachsen war, haben wir uns darauf geeinigt, „Freunde“ zu bleiben oder zumindest gute Kollegen. Unsere privaten Querelen haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen, und mittlerweile kommen wir wieder richtig gut miteinander aus. Ab und zu schäkern wir sogar zusammen wie in alten Zeiten, bevor uns diese kleine Liebelei dazwischenkam. Deshalb macht die Arbeit mit ihm auch immer noch Spaß, und ich bin Simon extrem dankbar dafür, dass er nicht nachtragend ist.
„Schleimer“, grinse ich nun angesichts seiner Begrüßung halbherzig zurück.
„Wieso? Ich sag nur die Wahrheit“, zwinkert er. „Dafür, dass du schon seit zwei Stunden auf den Beinen bist, um dein süßes Näschen zu pudern, siehst du ganz passabel aus.“
Ich rolle mit den Augen. Seine Seitenhiebe auf meine morgendlichen Styling-Orgien, um die er seit unserem Tête-à-Tête nur zu gut weiß, bin ich gewohnt.
„Anderthalb Stunden“, verbessere ich ihn. „Und wenn ich dich so ansehe, könntest du dir vor der Arbeit auch ruhig mal ein bisschen mehr Zeit nehmen“, füge ich hinzu und werfe einen abschätzigen Blick auf sein T-Shirt mit der Aufschrift Erwachsen werden? Ich mache ja viel Scheiß mit, aber nicht jeden. Das habe ich schon gehasst, als wir noch zusammen waren.
Simon lacht. „Das habe ich extra für dich angezogen, Schatz.“
Ein Klopfen an der Glasscheibe hinter uns hindert mich an einer Antwort. Unser Produktionsleiter tippt auf die Uhr an seinem Handgelenk. Gerade beginnen die Sechs-Uhr-Nachrichten. Uns bleiben fünf Minuten, bis wir auf Sendung gehen. Ich werfe einen letzten Blick auf das Skript vor mir, auf dem stichpunktartig eine Art Drehbuch für unsere Moderation steht. Manche Beiträge werden uns von Autoren geschrieben, andere texten wir selbst und einiges beruht auf reiner Improvisation. Nicht nur einmal haben Simon und ich uns vor geöffnetem Mikro ungeplant einen verbalen Schlagabtausch geliefert, der in einem Lachanfall mündete, den wir mit dem nächsten Song geschickt ausblenden mussten.
Während aus unserem zweiten Studio die aktuellen Gesetzesentwürfe der Landesregierung und die neuesten Klimakatastrophen am anderen Ende der Welt verlesen werden, fragt Simon mich: „Und, wie war dein Wochenende?“
Beschissen.
„So lala.“
„Wie? Sag nicht, sie hatten die Schuhe aus dem Sonderangebot nicht mehr in deiner Größe“, zieht er mich auf.
Ach, wenn es nur das wäre.
„So ähnlich“, grummele ich.
„Oh, jetzt weiß ich: Eine andere hat sie dir vor der Nase weggeschnappt“, spottet er weiter.
Es ist Simons Lieblingsbeschäftigung, sich über meine ausufernden Shoppingexzesse lustig zu machen. Ich nehme an, um den Trennungsschmerz zu verarbeiten. Schließlich waren meine Schnäppchenjagden der Grund für unser Zerwürfnis.
„Schlimmer.“
„Da muss sich ja wirklich ein Drama zugetragen haben, so wie drauf bist“, bemerkt er amüsiert, in dem Glauben, eine verpatzte Kaufchance hätte mir die Laune verhagelt.
Höchste Zeit, vom Thema abzulenken. „Wieso bist du eigentlich so ätzend gut gelaunt?“, erkundige ich mich. „Hast du am Wochenende wieder eine abgeschleppt?“
Seit Simon wieder solo unterwegs ist, lässt er sich keine Gelegenheit entgehen, sein Singleleben auszukosten. Er prahlt beinahe nach jedem Wochenende mit seiner neuesten Eroberung und offenbart mir schonungslos alle Details seines letzten One-Night-Stands. Manchmal glaube ich, er versucht mich damit eifersüchtig zu machen, damit ich zu ihm zurückkehre. Was absolut ausgeschlossen ist. Da kann er Frauen ins Bett zerren, bis er schwarz wird.
„Ich weiß, du bist eifersüchtig“, scherzt er, „aber ich kann dich beruhigen: Ich hatte am Wochenende mit niemandem Sex. Also ... außer mit mir selbst natürlich“, ergänzt er grinsend.
Erneut verdrehe ich die Augen. Im Gegensatz zu ihm behalte ich die genaueren Umstände meines Liebeslebens vorsorglich für mich. Schon allein deshalb, weil es derzeit nicht vorhanden ist. Wüsste Simon, dass ich bereits seit geschlagenen sieben Monaten mit niemandem mehr außer mit mir selbst Sex hatte, würde er mich glatt aus lauter Mitleid beschlafen. Ich hätte nicht unbedingt etwas dagegen. Auf diesem Gebiet gab es zwischen uns keinerlei Differenzen. Aber ich möchte ihm keine falschen Hoffnungen machen.
„Schade! Ich hatte mich so darauf gefreut, die Einzelheiten zu erfahren“, kontere ich mit spaßhaftem Bedauern.
Entschuldigend hebt er die Hände. „Sorry. Beim nächsten Mal wieder.“
Wir lächeln uns schief an. Dann sind wir gezwungen, mit unseren albernen Neckereien aufzuhören, denn im Hintergrund ertönt unser Jingle: „Frühaufsteher! Die Wachmacher-Sendung mit Simon und Mia“, und ich betätige den On-Air-Schalter.
„Hey, wir sind's mal wieder“, spricht Simon als erster ins Mikrophon. „Simon und ...“
„Mia“, ergänze ich. „Guten Morgen, euch allen.“
„Hoffentlich seid ihr ausgeschlafen! Wir werden heute nämlich wieder vier Stunden das Haus rocken. Kann man doch so sagen, oder Mia?“
„Absolut! Passend zu den Temperaturen draußen, haben wir die Top Ten der beliebtesten Sommerhits für euch.“
„Außerdem haben wir uns mal auf der Straße umgehört, wann für euch eigentlich der Sommer anfängt.“
„Das, ja, wie soll ich sagen, etwas überraschende Ergebnis hört ihr noch in dieser Stunde, hier auf A-live.“
„Und jetzt erst mal den richtigen Song zum Wachwerden. Wake me up before you go-go“, vollendet Simon mit weicher Stimme unsere Auftaktmoderation und startet das erste Lied.
So palavern wir uns mit mehr oder weniger geistreichen Kommentaren zum Wetter, den Fußballergebnissen und dem neuen Casting-Show-Gewinner durch den Morgen, bis wir um zehn an unsere Kollegen Oliver und Saskia übergeben, die die Vormittagssendung moderieren.
Normalerweise besorge ich mir nach Sendeschluss bei der Bäckerei unten an der Straßenecke etwas Ordentliches zum Frühstück. Heute gebe ich nur vor, mich auf den Heimweg zu machen. Stattdessen steuere ich nicht den Aufzug an, sondern das Büro von Georg Voss, unserem Chefredakteur. Ein wenig mulmig ist mir schon. Seit ich bei A-live beschäftigt bin, habe ich die Gehaltsfrage noch nie angeschnitten und keine Ahnung, wie Georg darauf reagieren wird. Zur Ermutigung rufe ich mir meine absolut überzeugenden Argumente ins Gedächtnis, bevor ich an seine Bürotür klopfe.
Von innen werde ich leise um mein Eintreten gebeten. Zaghaft stecke ich meinen Kopf herein.
„Störe ich?“, erkundige ich mich höflich bei Georg, der hinter seinem Schreibtisch sitzt und mich fragend ansieht.
„Mia, was kann ich für dich tun?“
Wir pflegen hier beim Sender einen recht lockeren Umgangston. Mit Georg duze ich mich beinahe seit dem ersten Tag. Das erleichtert die Sache enorm. Man fühlt sich dann nicht so sehr wie eine kleine Untergebene.
„Hättest du eine Minute für mich?“, frage ich, unaufgefordert eintretend.
„Was gibt’s?“
„Ich möchte dich kurz etwas fragen.“
Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und schiebt die Unterlagen, die er vor sich liegen hat, zur Seite. „Bitte, setz dich.“
Ich komme seiner Aufforderung nach.
„Schieß los“, fordert er.
„Also ... Folgendes“, beginne ich stockend. „Ich ... bin ja jetzt schon seit drei Jahren hier festangestellt, und die Arbeit macht mir richtig Spaß.“ Unterstreichendes Lächeln meinerseits. Abwartendes Mustern seinerseits. „Und ... ich finde, ich mache meinen Job ziemlich gut“, fahre ich fort. „Jedenfalls sind mir nie irgendwelche Beschwerden zu Ohren gekommen. Tja, und ... ich habe auch nicht vor, irgendwann einmal den Sender zu wechseln. Von daher dachte ich ...“
Ein leises Lachen von ihm unterbricht mich. „Du willst mehr Geld“, stellt er dann treffend fest.
„Äh ...“, stoße ich irritiert hervor. Darauf war ich nicht vorbereitet. „Stimmt.“
Er nickt verständnisvoll. Leider ist seine Antwort alles andere als das. „Tut mir leid, Mia, damit kann ich nicht dienen.“
Nun, darauf war ich noch viel weniger vorbereitet. Insgeheim hatte ich fest mit einer Zusage gerechnet. Wahrscheinlich nimmt mein Gesicht auch deshalb den belämmerten Ausdruck eines Hundes an, dem man sein Stöckchen weggenommen hat. „Wieso nicht?“
„Zum einen, weil wir unter der Wirtschaftskrise zu leiden haben wie die meisten Betriebe. Zum anderen, weil ich dein Gehalt vollkommen angemessen finde.“
„Das finde ich nicht“, platze ich heraus.
Mein Chef zieht die Augenbrauen hoch, und ich senke beschämt den Blick. Ganz so offen hätte ich vielleicht nicht sein sollen.
„Mia, du hast eine Fünfundzwanzig-Stunden-Woche. Bei aller Liebe, was erwartest du denn da?“
Jedenfalls mehr als diesen Hungerlohn, den ich jetzt bekomme.
„Oh, wenn es das ist, kann ich gerne mehr arbeiten“, erkläre ich mich großzügig bereit, in der Hoffnung, auf Umwegen zu meiner verdienten Gehaltsaufstockung zu gelangen.
„Das geht nicht. Wir sind völlig ausgelastet. Selbst wenn ich wollte, ich wüsste nicht, wo ich dich einsetzen sollte“, erwidert er, wenigstens eine Spur bedauernd.
„Dann mache ich eben Redaktionsarbeiten. So wie früher. Oder Sondersendungen. Was du willst.“ Flehend sehe ich ihn an und kann mich gerade eben davon abhalten, ein herzerweichendes „Biiitteee“ hinterherzuschicken.
Georg schüttelt den Kopf. „Dafür haben wir unsere freien Mitarbeiter. Denen kann ich nicht deinetwegen die Aufträge entziehen.“
„Musst du auch nicht. Ich ... ich könnte ...“ Fieberhaft suche ich nach einem bestechenden Vorschlag.
„Du könntest dich damit abfinden, dass mehr Gehalt im Moment einfach nicht drin ist.“
„Verstehe“, murmele ich bedrückt, obwohl ich es nicht im Geringsten verstehe.
„Es sei denn ...“, setzt er an, und ich schöpfe neue Hoffnung.
„Ja?“
„Du nennst mir jetzt einen verdammt guten Grund, weshalb du es verdienst hättest.“ Er grinst mich leicht herausfordernd an.
Aufgeregt nehme ich wieder Haltung an, nachdem ich vor Enttäuschung etwas auf meinem Stuhl zusammengesackt war. „Ähm ... ja, also, ich ...“
„Na?“
Los, Mia! Das ist deine Chance! Ich hole tief Luft und behaupte im Brustton der Überzeugung: „Ich bin unverzichtbar!“
„Ach?“
„Ja! Du musst dir die Quoten unserer Sendung nur ansehen. Das ist Beweis genug. Meine Stimme trägt maßgeblich zum Einschalten der Hörer bei. Wenn ich nicht mehr da wäre ... was glaubst du? Da würde es massenhaft Beschwerdemails hageln.“
„Meinst du, ja?“ Seine Belustigung ist unüberhörbar.
„Allerdings!“
Er schmunzelt in sich hinein. „Du moderierst die Sendung nicht allein. Die Leute schalten genauso wegen Simon ein.“
„Das kannst du nicht wissen!“
„Du auch nicht.“
Na toll. Allmählich beschleicht mich das Gefühl, diese Unterhaltung wird zu nichts führen. Die letzte Möglichkeit, die ich noch habe, ist mein Ass auszuspielen: der Mitleidsbonus.
„Weißt du, ich könnte das Geld wirklich gut gebrauchen“, sage ich und schaue ihm dabei eindringlich in die Augen. „Bei mir läuft es privat gerade nicht so rund, und damit wäre mir viel geholfen.“
Statt seine inneren Widerstände in seinen Augen dahinschmelzen zu sehen, erblicke ich bloß weiterhin das kühle Blau, das sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt.
„Das tut mir leid für dich“, entgegnet er ernst. „Trotzdem, ich muss dich enttäuschen. Der Sender schwimmt auch nicht im Geld. Da muss man abwägen, worin man investieren kann, und Lohnerhöhungen gehören nun mal nicht dazu.“
Niedergeschlagen sehe ich ein, dass ich die Schlacht verloren habe. Wenn selbst der Sender vor leeren Kassen steht, kann ich bitten und betteln so viel ich will.
„In Ordnung“, lenke ich ein und erhebe mich. „Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast.“
„Gerne. Und Mia?“
„Hm?“
„Nimm es nicht persönlich. Ich schätze dich sehr. Du hast recht: Du machst deine Sache wirklich gut. Wenn du auf dem Kurs bleibst, können wir uns nächstes Jahr gerne noch mal über dein Gehalt unterhalten.“
Nächstes Jahr übernachte ich vielleicht schon im Obdachlosenheim, denke ich zynisch. Nickend ringe ich mir ein Lächeln ab und wünsche Georg einen schönen Tag.
Gut, das ist jetzt nicht ganz so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Gedankenverloren mache ich mich auf den Weg zur Bäckerei. Wenn ich schon auf mehr Lohn verzichten muss, steht mir wenigstens ein vernünftiges Frühstück zu. Doch auf der Straße fällt mir plötzlich ein, was außer der Gehaltserhöhung außerdem auf meiner Liste stand, und ich schöpfe neue Hoffnung. Frühstücken kann ich auch zuhause. Jetzt muss ich erst mal die nächste Lottoannahmestelle suchen!
*
Die finde ich in der Eingangshalle des Supermarkts, wohin ich auf dem Nachhauseweg noch einen Abstecher gemacht habe. Am Lottostand fülle ich fünf Reihen für die Mittwochsziehung aus. Das sollte für den Anfang reichen. Sechs Richtige zu haben ist zwar eher unwahrscheinlich, aber vier oder fünf können auch schon ein hübsches Sümmchen abwerfen, sofern genug im Jackpot ist. Theoretisch kann also nichts mehr schiefgehen. Jetzt brauche ich mich bloß zurückzulehnen und auf die Gewinnausschüttung zu warten.
Zufrieden und mit vollbeladenen Einkaufstaschen schließe ich wenig später meine Haustür auf – und finde ich mich von Angesicht zu Angesicht mit Herrn Schlüter wieder. Erschrocken taumele ich zurück.
„Herr Schlüter!“
„Frau Herrlich! Mir reicht es jetzt wirklich!“
„W-was reicht Ihnen?“, stammele ich und spiele die Unwissende.
„Heute ist Montag. Klingelt da was bei Ihnen?“
„Ähm ...“
„Die Miete!“
„Oh. Ah. Ach ja ... die Miete“, lache ich nervös.
„Also?“ Seine Augen flackern zornig. „Wo ist sie?“
Die Tüten gewinnen von Sekunde zu Sekunde an Gewicht.
„Etwa nicht auf Ihrem Konto?“
„Nein. Nicht auf meinem Konto.“
Die Griffe der Taschen schneiden sich in meine Hände.
„Tja, das ... das ist aber merkwürdig.“
„Da stimme ich Ihnen zu. Wo sie angeblich spätestens heute bei mir sein sollte.“
„Das muss diese verflixte Bank sein“, erkläre ich. „Dabei habe ich ...“
„Ach was“, unterbricht er mich. „Sie glauben wohl, Sie könnten mich mit Ihrer Hinhalte-Taktik für dumm verkaufen. Nicht mit mir, Frau Herrlich.“
„Wi-wieso denn Hinhalte-Taktik?“, versuche ich mich zu verteidigen, obwohl er den Nagel auf den Kopf getroffen hat. In Wirklichkeit habe ich noch immer keinen Schimmer, wie ich das Geld auftreiben soll, und hatte gehofft, er hätte die überfällige Miete übers Wochenende vergessen. Alzheimer ist in seinem Alter schließlich keine Seltenheit. Allerdings sollte ich Herrn Schlüter inzwischen besser kennen. Sein Gedächtnis erfreut sich bester Gesundheit. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Spielchen weiterzuspielen. „Das war wirklich nicht meine Schu-“
„Blödsinn“, fällt er mir erneut ins Wort. „Das sind alles lahme Ausreden. Glauben Sie mir, ich kann auch andere Seiten aufziehen. Das Geld bekomme ich jetzt bar von Ihnen und zwar allerspätestens morgen Mittag. Ist das klar?“ Drohend fuchtelt er mit seinem wurstigen Zeigefinger vor meiner Nase herum.
Ich schlucke hart. „Morgen? Ähm ... morgen ist es schlecht. Da bin ich den ganzen Tag nicht zuhause.“
„Das ist sehr bedauerlich“, lächelt er diabolisch. „Aber wenn Sie sowieso nicht hier sind, wird es Ihnen sicher auch nichts ausmachen, wenn ich Ihnen Ihr Warmwasser abstelle, nicht wahr?“
Rumms. Eine der Taschen stürzt zu Boden und spuckt ihren Inhalt auf den schmutzigen Hausflurboden. Da hat sich Frau Dressler aus dem zweiten Stock wohl nicht an den Putzplan gehalten.
„Nein!“, rufe ich entsetzt. „Bitte. Nicht das Warmwasser! Das brauche ich!“
„Und ich brauche Ihr Geld, Frau Herrlich.“
Was für ein gemeiner, erpresserischer ... Ich unterdrücke die Flüche, die mir auf der Zunge liegen, und entscheide mich zu einer Verzweiflungstat. „Herr Schlüter, ich habe das Geld nicht“, gestehe ich zu meiner eigenen Schande und möchte vor Scham im Erdboden versinken.
„Was Sie nicht sagen“, schnaubt er. „Genug Geld für Mungobohnenkeime haben Sie offensichtlich noch.“ Abfällig deutet er auf die Konservendose, die auf dem Boden herumrollt.
Mit glühenden Wangen bücke ich mich und stopfe meine Einkäufe zurück in die Tasche. „Die waren im Angebot“, murmele ich. Waren sie auch. Ehrlich! Auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich eigentlich damit wollte. „Es ist nur so ...“
Irgendwie muss mir jetzt sofort eine logische Erklärung einfallen, weshalb ich unmöglich bis morgen die vierhundertachtzig Euro für die Miete in bar beschaffen kann. In der Sekunde fällt mir die leicht geöffnete Wohnungstür von Herrn Schlüter ins Auge, die den Blick in seinen Flur freigibt. An dessen Wand hängt gut sichtbar ein Kruzifix. Wenn er so gläubig ist, wie es den Anschein hat, lässt seine Nächstenliebe zu wünschen übrig, denke ich grimmig, doch das Kreuz bringt mich auf die entscheidende Idee.
„Meine Tante“, bringe ich hervor und rappele mich wieder auf. „Sie ist ... gestorben.“
Mein Vermieter runzelt die Stirn. „Was hat das mit der Miete zu tun?“
„Sie ... ich war die Einzige, zu der sie noch Kontakt hatte, und ich ... musste ganz allein für ihr Begräbnis aufkommen“, schwindele ich. Eine krude Geschichte. Sehr unglaubwürdig. Aber das Beste, was mir auf die Schnelle in den Sinn gekommen ist. „Wissen Sie, wie teuer ein anständiger Sarg ist? Man will seine Verwandten ja nicht in der schäbigsten Holzkiste unter die Erde lassen“, fabuliere ich weiter. „Dafür muss man schon einiges hinblättern. Abgesehen davon hat mich ihr Tod sehr mitgenommen. Da konnte ich mich wirklich nicht auch noch um die Miete kümmern“, vollende ich mein Lügenmärchen.
Herr Schlüter mustert mich argwöhnisch. „So, so. Sie mussten für das Begräbnis Ihrer Tante aufkommen und haben deshalb kein Geld für die Miete mehr?“
„So ist es“, nicke ich und gucke möglichst bemitleidenswert.
Leider wirkt er nicht hinreichend überzeugt. „Frau Herrlich? Sie haben sich das doch nicht etwa ausgedacht, oder?“
Wow. Er ist gut. So viel Scharfsinn hätte ich ihm nicht zugetraut.
Empört schnappe ich nach Luft. „Wieso sollte ich es mir ausdenken?! Also wirklich, Herr Schlüter. Wie geschmacklos, mir so etwas zu unterstellen!“
Entschuldigend hebt er die Hände. „In Ordnung, ich glaube Ihnen. Trotzdem. Das geht so nicht weiter. Verstorbene Tante hin oder her. Da könnte ja jeder kommen. Es ist mir egal, wo Sie das Geld hernehmen. Wenn es nächste Woche nicht endgültig da ist, ist meine Geduld am Ende.“
Erleichtert atme ich auf. „Selbstverständlich. Nächste Woche bekommen Sie Ihre Miete. Hoch und heilig versprochen!“, beteure ich mit einem Blick auf das Kruzifix.
„Ich nehme Sie beim Wort“, knurrt er und trollt sich zurück in seine Gemächer, während ich meine Taschen wieder aufnehme und sie ächzend bis ins Obergeschoss trage.
Diesmal bin ich mit blauem Auge davongekommen. Aber langsam dämmert mit, dass mir innerhalb der nächsten sechs Tage dringend eine Erleuchtung kommen muss. Anderenfalls sollte ich mir für die nächste Begegnung mit Herrn Schlüter schon mal eine kugelsichere Weste zulegen.