Читать книгу Kein Geld ist auch (k)eine Lösung - Natalie Weckwarth - Страница 4
ОглавлениеLiebe auf den ersten Blick
Es heißt, die erste Liebe vergisst man nie.
Nun, was mich betrifft, kann ich da voll und ganz zustimmen. An den Tag, an dem ich meiner ersten Liebe begegnete, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen.
Es war im Juli vor zwei Jahren. Die Wetterexperten sprachen von einem Jahrhundertsommer, so wie jedes Jahr, seit es die globale Klimaerwärmung gibt, und die Meteorologen versuchten sich jeden Tag mit neuen Höchstwerten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen zu toppen. Man konnte nicht vor die Tür gehen, ohne Gefahr zu laufen, einen Hitzschlag zu erleiden oder sich Verbrennungen dritten Grades zuzuziehen. In geschlossenen Räumen ohne Klimaanlage konnte man sich nur aufhalten, wenn fließendes Wasser in der Nähe war. Anderenfalls drohte man, binnen kürzester Zeit auszutrocknen. Und ins Auto konnte man sich nur nachts setzen, oder wenn man eine Garage besaß.
Der einzige Ort, an dem es sich zumindest tagsüber aushalten ließ, war das neueröffnete und wunderbar klimatisierte Einkaufszentrum in der Innenstadt. Da man meine Wohnung zu dieser Zeit als Sauna hätte vermieten können, nutzte ich jede freie Minute, um mich im Center vor der Hitze zu schützen. Und natürlich um die neuen Einkaufsmöglichkeiten zu erproben.
Ich stand also gerade in einer superschicken Edelboutique, in der fast jedes Kleidungsstück so viel kostete wie ein Einfamilienhaus, als ich ihn zum ersten Mal sah.
Und da geschah etwas, das ich bis zu diesem Tag für ein Märchen, eine Erfindung von Disney oder eine dieser modernen Legenden wie die Spinne in der Yucca-Palme gehalten hatte: Ich verliebte mich auf den ersten Blick unsterblich in ihn!
Wie er mich da so aus der Mitte all der luxuriösen Designerstücke anschaute, als wolle er sagen: „Hier bin ich“, wurde mir klar, dass er derjenige war, auf den ich schon mein ganzes Leben lang gewartet hatte. Alles an ihm war perfekt. Sein Aussehen, seine Ausstrahlung – er hatte einfach dieses gewisse Etwas.
Seine blendende Erscheinung versetzte meinen Körper in den Ausnahmezustand. Mein Puls schnellte in ungeahnte Höhe, meine Hände fingen an zu schwitzen, meine Knie drohten nachzugeben. Ich musste mich am Kleiderständer neben mir festkrallen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.
Gleichzeitig verzehrte ich mich vor Sehnsucht danach, ihn anzufassen, mit ihm zu verschmelzen, ihn überall auf meiner Haut zu spüren. Ich wollte eins mit ihm sein, ihn nie wieder loslassen. Ich wollte nicht mehr ohne ihn sein, meine Zukunft mit ihm verbringen. Ja, mein Leben würde erst mit ihm einen Sinn ergeben!
Wie magnetisch von ihm angezogen stolperte ich schließlich mit wackeligen Beinen zu ihm und streckte zaghaft meine Hand nach ihm aus. In der Sekunde, in der er meine Finger berührte, durchzuckte es mich wie ein Blitzschlag, und ich wusste: Das Schicksal hatte uns an diesem Tag zusammengeführt, weil wir seit Anbeginn der Zeit füreinander bestimmt waren.
Ich und der Versace-Rock!
Behutsam, ja beinahe andächtig nahm ich ihn von der Stange – innerlich empört darüber, dass man ein solches Prachtexemplar an einen ordinären Kleiderständer gehängt hatte – und trug ihn feierlich zur Umkleidekabine. Mein Herz raste, während ich meine Hose auszog und dem Moment entgegenfieberte, in dem er sich das erste Mal an meine Beine schmiegen würde. Als ich ihn schließlich bis zu meiner Hüfte hochgezogen hatte und sachte seinen Verschluss zumachte, kostete es mich große Mühe, nicht aufzuschreien. Das Gefühl seines feinen Stoffs auf meinen nackten Oberschenkeln versetzte mich in einen beinahe ekstatischen Rauschzustand. Er war so leicht, so weich, er fühlte sich an wie eine zweite Haut. Niemals hatte mir ein Rock besser gepasst, besser gestanden, besser meine Beine zur Geltung gebracht.
Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht – wir waren wie geschaffen füreinander. Es stand für mich außer Frage, dass ich ihn besitzen würde. Koste es, was es wolle. Ich nahm all meinen Mut zusammen, riskierte einen Blick auf das Preisschild – und taumelte zurück. Er war zu teuer. Viel zu teuer. Im ersten Moment verfiel ich in blinde Panik. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, wie ich meinen neuen Freund unbemerkt aus dem Laden schmuggeln könnte. Dann gewann meine Vernunft die Überhand. Es musste einen Weg geben, wie wir zwei zu unserem Happy End kommen würden.
Schweren Herzens zog ich ihn wieder aus und ging unschlüssig zur Kasse. Dort wollte ich die Verkäuferin bitten, meinen Schatz für mich zurückzulegen, bis mir eingefallen war, wie ich ihn bezahlen sollte, als der kleine bunte Aufkleber am Tresen mir die Lösung auf dem Silbertablett präsentierte: Wir akzeptieren Visa, MasterCard und American Express.
Was ich brauchte, war eine Kreditkarte!
Und wie sich herausstellte, war es das reinste Kinderspiel, eine zu bekommen. Die Bank, der ich mein Anliegen vortrug, überschlug sich beinahe vor Freude, mich als neue Kundin gewonnen zu haben. Man erklärte mir freundlich, wo ich unterschreiben musste, und den Stift durfte ich sogar behalten. Ab sofort konnte ich bargeldlos einkaufen und musste erst einen Monat später bezahlen. Vorteile wohin ich auch blickte.
Glückselig händigte ich einige Tage später der Verkäuferin die magische Karte aus und durfte im Gegenzug endlich meine große Liebe in die Arme schließen.
Den ganzen Jahrhundertsommer lang waren wir zwei unzertrennlich. Wo auch immer wir zusammen auftauchten, schenkte man uns bewundernde Blicke. Er begleitete mich, wann immer ich ihn brauchte. Und selbst nach zahlreichen Wäschen glänzte und strahlte er wie eh und je. Der Versace-Rock enttäuschte mich nie.
Erst, als die ersten Blätter zu Boden segelten, drängten sich bedauerlicherweise ein paar Kilos zwischen uns, und ich sah für unsere Beziehung keine Zukunft mehr.
Doch meine neue Freundin, die Kreditkarte, blieb mir erhalten. Nichts auf der Welt hätte mich von ihr trennen können. Denn sie hatte mir das Tor geöffnet zu einer Welt voller neuer Möglichkeiten ...