Читать книгу Kein Geld ist auch (k)eine Lösung - Natalie Weckwarth - Страница 7

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„Was glauben Sie, was ich hier betreibe? Ein Wohnheim für Bedürftige?“

Ja, ich bekenne mich schuldig: Ich bin ein Shopaholic.

Ich kaufe für mein Leben gerne ein. Alles Mögliche. Davon viel. Und so oft wie möglich. Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich in Geschäften. Shoppen ist für mich mehr als nur ein Hobby. Es ist eine Leidenschaft, eine Berufung, meine Erfüllung. Nichts auf der Welt macht mich glücklicher. Sicher, es gibt einiges im Leben, das eine tiefe, innere Zufriedenheit auslösen kann. Aber nichts, rein gar nichts ist befriedigender, als in einen Laden zu gehen, sich etwas auszusuchen und ihn mit der Gewissheit zu verlassen, dass es nun für immer dir gehören wird! Dieses Gefühl, mit den Händen voller Tragetaschen, randvoll gefüllt mit den wundervollsten Kleidungsstücken, Schuhen, Accessoires, durch die Straßen zu gehen, die neidvollen Blicke auf dir zu spüren und voll freudiger Erregung darauf zu warten, alles zu Hause auszupacken, ist durch nichts zu ersetzen.

Wenn mich das Lebens eins gelehrt hat, dann das: Männer kommen und gehen, aber etwas, das du mit Geld bezahlen kannst, wird dich niemals im Stich lassen. Was du dir kaufst, bleibt dir erhalten. Solange, bis du dich entscheidest, es zu ersetzen. Es liegt in deinen Händen. Du hast die Macht. Es macht dich frei und unabhängig. Einen Mann an seiner Seite zu haben ist nicht zu verachten, und man kann durchaus eine Weile Spaß mit ihm haben. Andererseits kannst du dir bei keinem Mann je sicher sein, dass er dir so treu ist wie ein Paar gut eingelaufener Jimmy Choos. Manche Leute mögen das oberflächlich nennen. Meine Lebenserfahrung dagegen hat mich oft genug in meiner Einstellung bestätigt. Ich habe schon an viele Männer meine Zeit verschwendet. Kostbare Zeit, die ich weitaus sinnvoller hätte verbringen können. Und trotz dieser Opfer war es am Ende immer eine einzige Enttäuschung. Meine Cartier-Uhr indessen enttäuscht mich nie. Sie wird mir auch zuverlässig die Zeit anzeigen, wenn ich schon alt und grau in meinem Lehnstuhl sitze und nur noch Online-Shopping betreiben kann. So sieht es nämlich aus. Man muss im Leben Prioritäten setzen. Was ist einem wichtiger: ein kurzweiliges, trügerisches, weil hormonell bedingtes Vergnügen oder eine dauerhafte, ehrliche, da gefühlsunabhängige Glückseligkeit? Liebe oder Geld? Eigentlich keine Frage, über die man ernsthaft nachdenken muss, oder? Für mich ist die Entscheidung schon lange gefallen. Ich mache mich nicht zum Opfer meiner höchst irrationalen und undurchschaubaren Gefühle, sondern vertraue auf die solide und beständige Partnerschaft mit meiner Kreditkarte.

Nun ja ... ich habe darauf vertraut. Denn so, wie es aussieht, steht unsere Beziehung seit heute zum ersten Mal vor einer echten Zerreißprobe ...

*

Als ich mit meinem alten, verbeulten Mitsubishi zuhause ankomme, sind meine Migräne – oder das, was ich dafür halte – schlimmer geworden. Die ganze Heimfahrt habe ich über den missglückten Shoppingvormittag nachgedacht, und je länger ich grübele, desto weniger verstehe ich, wie es dazu kommen konnte. Ich werfe mein Geld ja nicht mit vollen Händen zum Fenster hinaus oder verprasse es für lauter sinnloses Zeug. Vorhin zum Beispiel habe ich keineswegs im völlig überteuerten Parkhaus des Einkaufscenters geparkt, sondern ganz und gar kostenlos in einer Seitenstraße ein Stück abseits der Innenstadt. Dafür habe ich sogar den zehnminütigen Fußweg zum Stadtkern auf mich genommen, und das mit Pfennigabsätzen! Nein, ich gebe mein Einkommen nur für Dinge aus, die ich wirklich brauche! Nehmen wir nur mal den Flachbildfernseher, den ich mir selbst zum letzten Weihnachtsfest geschenkt habe. Ich konnte unmöglich weiter mit meinem alten Röhrenmodell auskommen. Es passte farblich absolut nicht zu den neuen Couchbezügen, die ich mir kurz vorher zugelegt hatte. Oder was ist mit diesem kuscheligen Mantel aus Kaninchenfellimitat, den ich im Winterschlussverkauf ergattert habe? Der war auf sagenhafte hundertzwanzig Euro heruntergesetzt. Ich wäre doch schön blöd gewesen, wenn ich dieses einmalige Angebot nicht genutzt hätte. Von dem Kalligraphieset, das ich neulich durch Zufall im Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts entdeckt habe, fange ich gar nicht erst an. Wer weiß denn, ob ich nicht demnächst einmal in nostalgische Laune gerate und ganz plötzlich Lust verspüre, jemandem statt einer unpersönlichen E-Mail einen handgeschriebenen Brief zu schicken? Man kann mir vielleicht meine Spontaneität und meine Intuition in Bezug auf meine Einkäufe vorwerfen, aber wenigstens investiere ich mit entsprechender Weitsichtigkeit. Das kann man, weiß Gott, nicht von jedem behaupten. Deswegen begreife ich überhaupt nicht, weswegen man mir so mir nichts, dir nichts meine beiden wichtigsten Zahlungsmittel vorenthält. Immerhin kurbele ich mit meinen Ausgaben mächtig die Wirtschaft an. Man sollte mir dankbar sein!

Nachdem ich eine winzige Lücke in meiner vollkommen zugeparkten Straße gefunden habe und zum ersten Mal seit ewigen Zeiten mit leeren Händen aus dem Wagen gestiegen bin, werfe ich die Autotür mit aller Kraft zu, sodass das ganze Fahrzeug durch die Erschütterung bebt. Nicht nur, weil ich stinksauer auf die Heinis von der Bank bin, die sich das Recht herausnehmen, mich um ein extrem figurbetonendes Sommerkleid plus aufreizender Spitzenunterwäsche zu bringen, sondern auch, weil es mittlerweile nicht mehr möglich ist, die Tür anders zu schließen als mit roher Gewalt. Das Schloss ist verzogen, und mit sanftem Zudrücken ist es da nicht getan. Über die Anschaffung eines Neuwagens sollte ich mir auch noch einmal konkrete Gedanken machen. Zu einem umweltfreundlicheren und spritsparenderen Modell habe ich bisher nur deshalb nicht gewechselt, weil ich mein Geld am Ende doch lieber für Dinge ausgebe, die ich nötiger habe. Fragt sich nur, ob die Klapperkiste nicht ihren Geist aufgibt, bevor ich einen Neuwagen zu einer nötigen Investition zähle. Sobald ich wieder flüssig bin, werde ich mich beim Autohändler etwas genauer umsehen, nehme ich mir vor, nachdem es mir gelungen ist, die Karre abzuschließen und ich zum Hauseingang stöckele.

Meine Wohnung liegt im Dachgeschoss einer hübschen Altbauvilla. Früher hat sie irgendeiner reichen Adelsfamilie gehört, später wurde sie in ein gewöhnliches Fünf-Parteien-Haus umgewandelt, von denen eine dummerweise der Hauseigentümer und mein Vermieter selbst ist. Herr Schlüter ist einer von der ganz fiesen Sorte. Augenscheinlich ein freundlicher, alter Herr, der seinen Ruhestand genießt. In Wirklichkeit ein gemeiner, kleiner Giftzwerg; zumindest, wenn man sich nicht an seine Vorstellungen von einer harmonischen Hausgemeinschaft hält. Insgeheim hege ich den Verdacht, dass Herr Schlüter früher bei der Stasi gearbeitet hat. Es ist nämlich nahezu unmöglich, irgendetwas zu tun, das ihm verborgen bleibt. Ich bin der festen Überzeugung, er tut den lieben langen Tag nichts anderes, als hinter seinem Guckloch in der Wohnungstür oder dem Küchenfenster zu lauern, um haarklein Buch darüber zu führen, wann einer seiner Mieter das Haus verlässt, das Unkraut auf dem Weg jätet oder den Müll entsorgt. Und wehe dem, der sich nicht an den Putzplan hält, der in mehrfacher Ausführung und mit verschiedenfarbigen Markierungen im Hausflur prangt! Mit Herrn Schlüter ist nicht zu spaßen. Man muss aufpassen wie ein Luchs, möchte man im Hausflur nicht von ihm abgefangen werden und sich eine Predigt darüber anhören, was man seiner Meinung nach diesmal verbrochen hat. Letzte Woche hatte ich die Kellertür versehentlich nicht ordnungsgemäß abgeschlossen, nachdem ich die muffige Baracke verlassen hatte. Das war vielleicht ein Theater ...

Im Laufe der Jahre habe ich eine Taktik entwickelt, mit der ich es in acht von zehn Fällen schaffe, unbemerkt in die oberste Etage zu gelangen. Sie besteht darin, die Haustüre so leise wie möglich aufzuschließen, geduckt an seiner Wohnung, die natürlich ausgerechnet im Erdgeschoss liegt, vorbeizuhuschen, um dem Sichtfeld seines Türspions zu entgehen, und dann auf Zehenspitzen die Treppen hinaufzuschleichen. Sie erfordert einige Übung und eine gewisse Risikofreudigkeit (schließlich kann man trotz alledem erwischt werden), dafür lohnt es sich. Jede schlüterfreie Minute ist den Aufwand wert. Vor allem heute kann ich meinen beobachtungswütigen Nachbarn überhaupt nicht gebrauchen, weshalb ich besonders vorsichtig den Schlüssel herumdrehe und die Haustür mit entsprechendem Fingerspitzengefühl verschließe. Gerade will ich in die Hockstellung gehen, damit ich an seiner Tür vorbeikomme, da wird diese vor meiner Nase aufgerissen, und Herr Schlüter baut sich wie üblich wutschnaubend vor mir auf. Da mein Plan A gescheitert ist, gehe ich auf der Stelle zu Plan B über: die Nicht-zu-Wort-kommen-lassen-Strategie.

„Guten Tag, Herr Schlüter!“, flöte ich mit einem strahlenden Lächeln und täusche beste Laune vor. „Wie geht es Ihnen? Ist das heute nicht ein fantastisches Wetter. Viel zu schade, um zuhause zu sitzen, finden Sie nicht? Ich bin auch nur auf einen Sprung hier, dann muss ich gleich wieder los. Also dann, einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen, Herr Schlüter.“

Mit jedem Satz habe ich mich ein Stückchen weiter dem Treppenansatz genähert und erklimme nun die ersten Stufen. Vielleicht habe ich Glück und –

„Nicht so eilig, Frau Herrlich!“

Verflucht!

Widerwillig drehe ich mich wieder um. Dabei hatte ich schon fast die erste Etage erreicht. „Es tut mir schrecklich leid, Herr Schlüter. Ich habe wirklich nicht viel Zeit.“

„Ich würde Ihnen auch dringend raten, sich zu beeilen“, sagt er finsteren Blickes. „Und zwar damit, mir die Miete zu zahlen!“

Oh nein! Das auch noch! Habe ich tatsächlich schon wieder vergessen ... Nein, ich habe ganz sicher ... Oder war das letzten Monat?

„Sie brauchen gar nicht so zu gucken! Ich warte jetzt seit über einer Woche auf das Geld. Was glauben Sie eigentlich, was ich hier betreibe? Ein Wohnheim für Bedürftige?!“

„Aber ich habe Ihnen die Miete überwiesen“, beteuere ich.

Im Zweifelsfall immer leugnen. Dann steht Aussage gegen Aussage. Außerdem könnte ich schwören, dass ich –

„Wann soll das bitte gewesen sein?“, unterbricht er meine Grübelei. „Die Miete hat pünktlich zum ersten des Monats auf meinem Konto zu sein!“

Was das betrifft, ist Herr Schlüter besonders empfindlich. Nur ein einziger Tag im Mietrückstand kann bei ihm einen mittelschweren Tobsuchtsanfall auslösen. Habe ich alles schon erlebt. Mit der Miete stehe ich auf Kriegsfuß. Solche lästigen Verpflichtungen gehören nun einmal zu den wenigen Dingen, für die ich nicht gerne Geld ausgebe. Deshalb vergesse ich die Zahlung ab und an gerne mal. Diesen Monat ist es mir anscheinend wieder passiert. Ausgerechnet jetzt. Wo auf meinem Konto sowieso Ebbe herrscht.

„Natürlich. Deswegen habe ich die Überweisung auch schon am dreißigsten getätigt“, schwindele ich weiter, um Zeit zu gewinnen.

Zeit, in der mir eine plausible Erklärung einfallen sollte, weshalb er meinen Mietanteil bisher schmerzlich auf seinem Konto vermisst.

„Ach, erzählen Sie mir nichts!“, ereifert er sich. „Was soll das denn für eine Bank sein, die acht Tage braucht, um eine Überweisung auszuführen?“

Danke, Herr Schlüter! Das war das Stichwort, das ich brauchte.

„Ja, das frage ich mich allerdings auch!“, erwidere ich empört. „Da vertraut man denen sein gesamtes Vermögen an, und dann sind die nicht einmal in der Lage, eine simple Überweisung zu tätigen. Da sollte man sich gut überlegen, ob man sein Geld nicht wieder zuhause im Sparstrumpf aufbewahrt! Denen kann man doch nicht mehr über den Weg trauen. Heutzutage kann man sich wirklich auf niemanden mehr verlassen!“

Natürlich lüge ich wie gedruckt. In Notsituationen kann ich das sogar, ohne rot zu werden. Anderenfalls würde mir Herr Schlüter diese haarsträubende Geschichte mit Sicherheit nicht abkaufen. Wer hat schon je von einer Bank gehört, die Überweisungen verschludert? Andererseits – in Zeiten von Lehman Brothers, der Weltwirtschaftskrise und in denen Steuergelder für notleidende Banken verpulvert werden, ist selbst das nicht allzu abwegig. Wie auch immer, mein Vermieter hat den Köder fast geschluckt.

„Normalerweise kann so etwas nicht passieren“, wendet er, zwar misstrauisch, aber durchaus besänftigt, ein.

Jetzt schnell nachlegen.

„Nein, so was darf nicht passieren. Ich werde mich sofort nach dem Wochenende beschweren und dafür sorgen, dass Sie Ihr Geld so schnell wie möglich bekommen.“

„Das will ich hoffen“, grummelt er. „Am Montag ist das Geld da. Haben wir uns verstanden?“

„Selbstverständlich, Herr Schlüter“, nicke ich gehorsam. „So, jetzt muss ich aber wirklich ...“

„Ja, ja“, murrt er, hat sich jedoch schon umgedreht und schlurft zurück in seine Wohnung.

Zutiefst erleichtert atme ich auf. Gerade noch mal gut gegangen. Zwei Tage Galgenfrist, in denen ich mir überlegen kann, wie ich das Geld für die Miete auftreibe. Doch kaum ist die Tür hinter dem alten Raffzahn zugefallen, wird mir klar, dass die vertrödelte Miete nicht mehr das Einzige ist, was mir Kopfzerbrechen bereiten sollte.

*

Wenn ich sonst von einem Shoppingausflug nach Hause komme, vertreibe ich mir die Zeit meistens damit, meine Neuerwerbungen in Ruhe auszupacken, die Preisschilder zu entfernen und mich zu meiner vortrefflichen Wahl zu beglückwünschen. Klamotten oder Schuhe probiere ich sofort noch einmal an, anschließend durchforste ich meinen Kleiderschrank nach möglichen Kombinationen und mein Schmuckkästchen nach passenden Accessoires. Beispielsweise ist eine gut sitzende Jeans nur die halbe Miete. Erst in Zusammenhang mit einem eleganten Gürtel oder einem hippen Top verleiht man ihr den letzten Schliff. Gleiches gilt für Schuhe. Ein Paar Stilettos machen rein gar nichts her, wenn sie nicht mit der perfekt dazu geschnittenen Hose getragen werden. Um herauszufinden, welches Outfit besonders gut zusammen aussieht, braucht man viel Geduld, und dafür kann schon mal ein ganzer Nachmittag draufgehen.

Ähnlich verhält es sich mit Dekorationsgegenständen. Auch damit beschäftige ich mich nach deren Kauf ausgiebig. Kerzenständer ist schließlich nicht gleich Kerzenständer. Der Platz, an dem man ihn aufstellt, will gut überlegt sein. Mitten auf dem Tisch kann er regelrecht protzig erscheinen, wohingegen er zwischen zwei Vasen auf dem Bücherregal nur dezent ins Auge fällt. Wohnaccessoires wirkungsvoll einzusetzen ist eine Wissenschaft für sich und damit keine Sache, die man angehen sollte, wenn man in Eile ist.

Etwas völlig anderes ist es mit Anschaffungen, die man notgedrungen und weniger zum Vergnügen kauft, wie eine neue Kaffeemaschine, weil die alte ihren Geist aufgegeben hat, oder ein technisch verbesserter Epilierer, weil das Vorgängermodell nicht gründlich genug war. Damit halte ich mich für gewöhnlich nur kurze Zeit auf und ärgere mich oftmals, dass ich überhaupt kostbares Geld dafür verschwenden musste.

Heute jedoch wäre ich sogar für eine neue Klobürste dankbar. Ohne eine einzige Tasche meine Wohnung zu betreten fühlt sich sehr befremdlich an. Nachdem ich meine Handtasche an die Garderobe gehängt habe und aus meinen Schuhen geschlüpft bin, stehe ich barfuß und ziemlich ratlos in meinem Flur. Was soll ich denn jetzt den ganzen Nachmittag über tun? Herumsitzen und Däumchen drehen? Seufzend fahre ich mir durchs Haar, tapse in die Küche und gieße mir erst mal ein Glas kaltes Wasser ein. Das ist zwar kein Zeitvertreib, die Erfrischung tut nach der Hitze im Auto trotzdem gut. Sobald ich das Glas ausgetrunken habe, fühle ich mich genauso leer. Es kommt mir ungewohnt still in meiner Wohnung vor. Bis auf das ätzend laute Ticken der Küchenuhr. Komm schon, Mia! Es muss irgendetwas geben, womit ich die restlichen Stunden des Tages totschlagen kann. Bloß, weil ich mal nichts gekauft habe, hat mein Leben nicht gleich jeden Sinn verloren! Das wäre ja noch schöner! Also gut. Ich könnte ... eine Waschmaschine anschmeißen. Die Küche aufräumen. Mal wieder ordentlich durchsaugen. Das Bett beziehen. Oder endlich die Wintersachen von der Garderobe abnehmen. Mein Blick fällt auf meine George-Gina-and-Lucy-Tasche, die im Flur am Haken baumelt. Mit einem Zwicken im Magen denke ich an die gesperrten Kreditkarten, die ungenutzt in meinem Portemonnaie schlummern. Möglicherweise sollte ich deswegen irgendetwas unternehmen. Nein, ich kümmere mich erst um die Handschuhe, den Schal und die Mäntel. Wenn ich die Klamotten jetzt nicht im Schrank verstaue, hängen sie noch bis zum nächsten Spätherbst da. Nicht wahr? Unschlüssig bleibe ich in der Küche stehen. Dein Geldproblem löst sich nicht von allein, Mia, flüstert eine kleine Stimme in meinem Kopf, die garantiert diesen verdammten Kontoauszügen gehört, die anklagend auf dem Grund meiner Tasche liegen, weil ich ihnen nicht die nötige Beachtung schenke. Quatsch! Geldproblem! Dass ich nicht lache. Vielleicht eine kurze monetäre Durststrecke, mehr nicht. Das wird sich im Handumdrehen wieder geben, da bin ich mir ganz sicher. Vorsichtig schiele ich zur Schublade neben dem Kühlschrank. Die paar Rechnungen, die habe ich schnell aufgemacht. Kein großes Ding. Wo ich sowieso nichts Besseres zu tun habe. Ja, ich sehe schnell nach, wem ich wie viel schulde. Dann werde ich auch sehen, dass alles nur halb so schlimm ist. Wozu den Teufel an die Wand malen, wenn man sich lediglich auf Spekulationen berufen kann? Ich nehme all meinen Mut zusammen und ziehe beherzt die Schublade auf. Sofort stolpere ich zurück. So viel??!! Ganze Berge von Briefumschlägen aller Größe und Farbe quellen mir entgegen. Wo kommen die denn alle her?! Vor lauter Schreck gebe ich der Lade einen heftigen Stoß, sodass sie geräuschvoll wieder zufällt. Oh Gott! Die Idee, unliebsame Rechnungen zu verstecken, in der Hoffnung, sie würden sich eines Tages in Luft auflösen, war vielleicht doch nicht ganz so gut. Na schön, bringen wir es hinter uns. Mit rasendem Puls und zugekniffenen Augen ziehe ich erneut am Griff der Schublade und blinzele zaghaft hinein. Leider habe ich beim ersten Mal nicht halluziniert. Sie ist immer noch bis zum Rand gefüllt. Sie werden nicht verschwinden, nur indem du sie anstarrst und verfluchst!, ermahne ich mich. Also greife ich mit feuchten Händen hinein und ziehe einen großen Packen Umschläge heraus. Ich bin froh, als ich damit am Küchentisch sitze. Meine Beine drohten schon nachzugeben. Zur Sicherheit kontrolliere ich zunächst auf jedem Brief, ob auch wirklich mein Name im Adressfeld steht. Womöglich wurden sie versehentlich bei mir eingeworfen, und einer meiner armen Nachbarn wundert sich seit Wochen, weshalb er keine Post mehr bekommt. Zu meinem Bedauern ist überall mehr oder weniger deutlich meine vollständige, korrekte Adresse zu lesen. Toll! Selbst auf die Unzuverlässigkeit der Post kann man sich nicht mehr verlassen. Letzten Endes sehe ich ein, dass ich nicht darum herumkomme, die Briefe aufzumachen. Deshalb mache ich kurzen Prozess, hole mir ein Küchenmesser, schlitze sämtliche Umschläge nach der Reihe auf, ziehe alle Anschreiben heraus und breite sie vor mir auf dem Tisch aus.

Dann packt mich das Grauen.

Die meisten Zettel überfliege ich nur, doch die wenigen Worte, die ich erfasse, wecken in mir den sehnlichsten Wunsch, ich hätte mir vorhin statt Wasser ein Glas Wodka genehmigt.

Satzfetzen wie „Mahnbescheid“, „unverzüglich auf unser Konto zu überweisen“, „letzte Zahlungsaufforderung“, „sehen wir uns gezwungen, juristische Maßnahmen einzuleiten“ stechen mir ins Auge. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Und der Schrecken nimmt kein Ende. Denn erst auf den zweiten Blick entdecke ich die vielen Zahlen, die unter jedem Schreiben stehen.

182,93 ,-

329,23 ,-

40,95 ,-

218,34 ,-

1099,99 ,-

Entsetzt starre ich auf die letzte Summe. Eintausendneunundneunzig Euro?! Zweifellos.

Für

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Wie gelähmt halte ich die Rechnung in der Hand. Wozu brauchte ich die Sonderedition einer anthrazitschimmernden Hifi-Anlage? Hätte es klassisches Schwarz nicht auch getan? Mit bebenden Fingern lasse ich das Papier sinken und schließe für einen Moment die Augen. Ein Alptraum. Das muss es sein. Jeden Moment werde ich in meinem gemütlichen, weichen Bett mit der zinnoberroten Bettwäsche liegen und mich über diesen verrückten Traum amüsieren, in dem mich zwei gesperrte Kreditkarten und eine Schublade voller unbezahlter Rechnung verfolgten. Ich warte. Und warte. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich wache nicht auf. Natürlich nicht. Das hier fühlt sich viel zu real an, um als Alptraum durchzugehen. Der wäre nicht einmal halb so grausam. Plötzlich entdecke ich zwischen all den schreckensverbreitenden Briefen einen schlichten grauen Umschlag, der keinen Absender trägt. Hm, der sieht harmlos aus. Bestimmt habe ich ihn aus Versehen mit in die Schublade gesteckt. Es könnte eine Benachrichtigung sein, dass ich in einem Preisausschreiben gewonnen habe! Na gut, ich habe an keinem teilgenommen. Dann vielleicht eine Einladung zu einem Ausverkauf im Outletstore. Neugierig reiße ich das Kuvert auf – und bereue es augenblicklich. Jetzt ist klar, von wem das Schreiben stammt. Sein Logo leuchtet mir in all seiner Größe von der rechten oberen Ecke entgegen: Stadtsparkasse Altenkirchen.

Sofort schrillen alle meine inneren Alarmglocken. Ich bin drauf und dran, den Brief in hohem Bogen in den Papierkorb zu befördern. Bedauerlicherweise hat mein Verstand anscheinend schockbedingt ausgesetzt. Anstatt das bedrohliche Papier zu vernichten, fange ich tatsächlich an, es zu lesen. Ein gewisser Stefan Grothe, bei dem es sich allem Anschein nach um meinen persönlichen Kundenberater handelt (bisher wusste ich nicht einmal, dass ich überhaupt über einen solchen verfüge), lässt mich wissen, dass auf meinem Girokonto in der jüngsten Vergangenheit einige „Unregelmäßigkeiten“ zu vermerken gewesen seien. Ich vermute, dies ist im Fachjargon eine hübsche Umschreibung für Dispoüberziehung. Des Weiteren hätte man mich bereits mehrfach dazu aufgefordert, mich mit meinem Kundenberater „in Verbindung zu setzen“, um das weitere „Vorgehen“ zu besprechen. Da ich dieser Aufforderung wiederholt nicht nachgekommen sei, sähe man sich dazu gezwungen, mir das Girokonto zu kündigen, sollte ich dieses nicht zeitnah ausgleichen oder mich zu einem „persönlichen Gespräch“ zur Verfügung stellen.

Gott! Jetzt droht mir auch noch die Sparkasse mit Geldentzug. Als wären die gesperrten Kreditkarten nicht schlimm genug. Das reicht! Zeit, dem Horror ein Ende zu bereiten. Entschlossen schiebe ich alle losen Blätter zusammen und stopfe sie zurück in die Schublade, wo ich sie niemals hätte herausholen dürfen. Mir geht es gleich ein bisschen besser, aber meine Knie zittern immer noch. Zornig schüttele ich den Kopf, als könne ich damit die bösen Geister, die ich aus der Schublade befreit habe, aus meinen Gedanken vertreiben. Es gelingt mir nur so halb. Darum reiße ich das Gefrierfach auf, hole eine Packung Schokoladeneis heraus, bewaffne mich mit einem großen Löffel und verziehe mich mit den zweien auf die Couch. Auf den Schock brauche ich erst mal eine angemessene Zuckerration. Zur Nervenberuhigung. Um alles andere kann ich mich später kümmern.

Kein Geld ist auch (k)eine Lösung

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