Читать книгу Die Zuschauer - Nathalie Azoulai - Страница 11

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Ein Jahr zuvor will sein Vater einen Fernsehapparat kaufen, um die Geburt seiner Schwester zu feiern. Seine Mutter protestiert, spricht von leichtfertigen Ausgaben, im Wert eines Autos, trauert den großen Leinwänden des Kinos nach. Die ganze Fahrt über wiederholt sie, das Kino sei billiger und größer. Das Fernsehen verändert alles, entgegnet sein Vater. Angeblich sollen die Bilder sogar bald in Farbe sein. Wie aus der Pistole geschossen sagt sie, Becky Sharp, Jahrmarkt der Eitelkeiten, der erste Film in Technicolor, 1935. Mit Miriam Hopkins, erinnerst du dich an sie? Eine außergewöhnliche Schauspielerin, ihre Paillettenkleider, ihr platinblondes Haar, übrigens schöner in Schwarzweiß als in Farbe, in Becky Sharp war ihr Haar zu gelb, während es vorher wie Phosphor leuchtete. Bette Davis’ große Rivalin, ergänzt sie, aber sein Vater hört ihr nicht mehr zu. Er hält ihr nur die Tür auf, lässt sie als Erste das Geschäft betreten, doch gleich im Mittelgang beschleunigt er seinen Schritt und überholt sie.

Er zögert, weiß nicht, ob er mit ihm beschleunigen oder langsamer gehen soll, um den Erzählungen seiner schwangeren Mutter zu lauschen, die in ein blassrosa Kleid gezwängt ist, so eng, dass ihr Bauchnabel sich abzeichnet, wie eine Brustwarze unter dem Jersey drückt. Was für eine Hitze!, seufzt sie. Maria kann einfach keine Umstandskleidung nähen. Doch er ahnt, dass nur sie für dieses zu knappe Kleid verantwortlich ist und selbst einen Monat vor der Entbindung nicht verzichten kann auf Kräuselfalten, Abnäher und Gürtel, die die Taille betonen.

Sie warten im Elektrowarengeschäft. Hier haben sie auch den Kühlschrank gekauft, das Transistorradio, jedes Mal mit diesem grandiosen Gefühl, die Spitze des Fortschritts zu erreichen, sich wie die Amerikaner auszustatten. Seine Mutter schaut weniger auf die Geräte als auf die anderen Jungen in seinem Alter, die zwischen den Abteilungen umherschlendern. Er weiß, dass sie ihn vergleicht, wo immer sie sich aufhält, dass sie prüfen will, ob er wie seine Altersgenossen ist oder anders. Nur durch sein Haar unterscheidet er sich, krause Locken, die sich über seinem Schädel kringeln, den sie für gewöhnlich ganz kurz scheren lässt, bevor sich wieder neue bilden können. Wenn sie von Weitem wähnt, er habe ebenso geschmeidiges, seidenweiches Haar wie die anderen, Strähnen, in denen kein Kamm je hängenbleibt, muss er nur näherkommen, und schon zerstört, was sie nachwachsen sieht, ihre Illusion. Da er bemerkt, wie sich ihr Blick verhärtet, hört er ihre Stimme bereits am Telefon, wie sie den nächsten Friseurtermin vereinbart und seufzend klagt, Sie sagen es, ja, schon wieder …

Er streicht über die gewölbten Bildschirme, die Knöpfe, die Metallrillen. Sein Vater ermahnt ihn mehrmals, nichts anzufassen. Er tut, als würde er gehorchen, lässt seine Finger aber trotzdem die Bildschirmflächen berühren. Seine Mutter bewegt sich nicht. Ihr Bauch ist ungleich gewölbter als alle Bildschirme. Und plötzlich werden die Apparate ringsum zu ebenso graviden Kreaturen, beauftragt, neues Leben zu liefern. Er wiederholt, abseits von ihnen im Gang, leise das Wort »gravid« – gravide. Er hat es kürzlich erst im Sachkundeunterricht gelernt, hat es sofort gemocht, es in das Heft notiert und unterstrichen, in das er ihm noch unbekannte Wörter schreibt, bevor er sie zu Hause einweiht: Jedes Mal blicken seine Eltern erst ihn, dann sich an, entzückt, dass ihr Sohn Frankreichs Französisch so gut beherrscht. Seine Mutter fragt bisweilen nach der Bedeutung eines neuen Wortes, sein Vater im Grunde nie. Während seine Mutter über der von ihm gegebenen Definition den Kopf wiegt, starrt sein Vater ihn ungerührt an. Mehr braucht er nicht, um die Rolle zu ermessen, die ihm zukommt, den Wert des Vertrags, dessen Gegenstand er ist: Er soll die Lösung ihres Problems sein.

Seine Mutter sieht sich an, was über die Bildschirme flimmert; diese Weinreklamen gefallen ihr nicht recht. Sein Vater antwortet, Wein sei wichtig in Frankreich, aber es gebe auch Reklame für Milch, nicht wahr, Monsieur? Ah, antwortet seine Mutter müde, der Verkäufer bringt ihr schließlich einen Stuhl. Milch ist ganz ausgezeichnet für Kinder, sagt er. Vor allem die Milch aus der Normandie, bekräftigt sie und zeigt auf ihren so großen, so weißen Sohn, der herantritt. So was hat der Verkäufer noch nicht erlebt, plötzlich hat er den Eindruck, dass diese zwei Kunden seine Abteilung überschwemmt haben, mit Bächen roter und weißer Flüssigkeit, die sich vor seinen Augen schließlich vermischen, ihn unter rosa Fluten begraben. Um nicht dem genervten Blick des Verkäufers zu begegnen, entfernt er sich wieder, läuft lieber Gefahr, seinen Vater dadurch zu verärgern, dass er in den Gang der Apparate zurückkehrt, als sich so etwas anzutun. Der Verkäufer fängt sich, diese Werbespots würden ohnehin nur einige Minuten täglich gesendet, sieben, um genau zu sein. Woher wissen Sie das?, fragt seine Mutter. Madame, das ist streng reglementiert und außerdem mein Beruf, sagt er milde lächelnd, ich verkaufe den ganzen Tag Fernsehgeräte.

Auf dem Rückweg schimpft und seufzt sie ohne Unterlass, sie könne das Fernsehen nicht ausstehen, sie holten sich den Teufel ins Haus, sie ziehe das Kino vor. Sie werde sich die Filme nun ansehen können, ohne vor die Tür gehen zu müssen, sagt sein Vater, sogar im Nachthemd, wenn sie möchte. Und warum nicht in Pantoffeln? Einen Film schaut man sich angezogen und geschminkt an, giftet sie. Niemals werde sie es hinnehmen, angesichts all dieser schicken Schauspielerinnen derart herabgesetzt zu werden. Niemals eine solche Benachteiligung dulden angesichts der Heerscharen an Maskenbildnerinnen, Friseurinnen und Garderobieren, die jeden Auftritt überwachen. Gedemütigt würde sie sofort den Apparat ausschalten. Niemals, sagt sie, hörst du, niemals!

Vom Rücksitz aus verfolgt er den Streit, ohne Partei zu ergreifen. Bei ihren Auseinandersetzungen ist er stets uneins mit sich, als würde eine Metallstange seinen Körper spalten, ihn daran hindern, sich einer der beiden Seiten zuzuneigen. Doch jetzt bewegt er sich auf der Sitzbank, rückt zum Fahrersitz, hinter seinen Vater, und ahnt, der Fernseher könnte das Kino endlich bis zu ihm tragen, und die ganze Bilderflut, die seine Mutter schon so lange mit sich führt, würde auch endlich ihn erreichen, obwohl er kurzzeitig den Verdacht hegt, sie wolle diese Bilder für sich behalten. Im Rückspiegel begegnet er dem zufriedenen Blick seines Vaters.


Die Zuschauer

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