Читать книгу Die Zuschauer - Nathalie Azoulai - Страница 15
ОглавлениеEr bückt sich, beugt sich zu ihr, um ihr einen Würfel, ein Spielzeug hinzuhalten, drückt seine Stirn an ihre, ihre so weiche, wie ein Bildschirm gewölbte Stirn. Er mag es, wie sehr sich der Bau ihres Skeletts mit dem Fleisch deckt, das sich straff und faltenlos darüber spannt. Ein Zeichen für Kraft und Gesundheit, denkt er. Seine Mutter betrachtet sie aus den Augenwinkeln, tut so, als starrte sie auf den Fernsehapparat. Er weiß, dass in dem Augenblick, da ihre Köpfe sich vereinen, ihrer beider Haar zu einer einzigen, dichten Masse wird – das genaue Gegenteil von dem, was sie sich für ihre Tochter erhofft, blondes Haar, fein und glatt, wie das der anderen Mädchen im Viertel, Haar, über das sie in den Monaten ihrer Schwangerschaft streicht, bei den Händlern, in den Warteschlangen. Mit dieser zerstreuten, lässigen Miene, obgleich er ahnt, dass ihre Fingerspitzen vor beschwörender, vorausahnender Hoffnung pulsieren. Das englische Wort »fair«, sagt sie einmal, bedeutet blond und schön, man muss sich nur Miriam Hopkins oder Marlene Dietrich anschauen, fügt sie hinzu. Wo denn?, fragt er, damit sie ihren Zeitschriftenstapel durchforsten geht und mit leeren Händen zurückkommt: Sie habe vor allem die aus den Vierzigerjahren aufbewahrt, sagt sie dann, und er will sie nicht fragen, was sie mit den Jahrzehnten davor und danach gemacht hat.
In den ersten Lebensmonaten der Kleinen heftet sie den Blick auf den blonden Flaum und betet wahrscheinlich zu Gott, sie möge nicht wie sie selbst dem neidvollen Entzücken ausgesetzt sein, dem er beiwohnt, wenn er mit ihr in den Friseursalon geht. Sie haben Glück, so viel Volumen zu haben, Madame, so dichtes Haar, ein wahrer Segen ist das, sagen die anderen Kundinnen, und eine neue Angestellte fragt schließlich jedes Mal, haben Sie ausländische … Mit einem Sprühstoß Haarlack über ihrem Haupt belässt sie den Satz in der Schwebe. Er sieht, wie seine Mutter lächelt, dem Blick der Chefin begegnet, unter dem Zucken des letzten Durchkämmens beipflichtet, ausländische Wurzeln? Ja!, und vage Fragen mit ebenso vagen Antworten bedenkt.
Doch nun, auf dem Teppich, ist er sich genau so sicher wie ihre Mutter: Sie haben das gleiche Haar, ihre beiden Köpfe formen ein dunkles, krauses Haarbüschel, welches ihr derart missfällt, dass sie nach all den Monaten der Hoffnung plötzlich den Blick abwendet, wobei ihr entfährt, Margarita Carmen Cansino wäre ohne Versetzung des Haaransatzes niemals zu Columbias Rita Hayworth geworden, allein Hollywood habe einen solchen Fluch beenden können. Um abzulenken und gegen seine Enttäuschung anzukämpfen, brüllt er wie ein Löwe, einmal, zweimal, dreimal, und schüttelt die Mähne ihrer zwei verschmolzenen Köpfe. So was Lustiges hat ihre Mutter noch nie gesehen. Sie bückt sich, um beide in den Arm zu schließen, fügt ihre eigene Haarpracht der ihren hinzu – wie Blut zu Blut. Genau wie der MGM-Löwe, erklärt sie dann, L. B. habe persönlich darauf bestanden, dieses dritte, überraschende Brüllen anzuhängen, leicht zeitversetzt, für sie stets unerwartet, genau wie das Brüllen, das er eben von sich gegeben hat. L. Bi.?, wiederholt er stutzig.
Louis B. Mayer, Chef der MGM. Er wurde nur bei seinen Initialen genannt, L. Bi., die amerikanische Art.