Читать книгу Die Zuschauer - Nathalie Azoulai - Страница 21

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Seine Mutter verkündet, sie werde gleich morgen den schwarzen Satin für das Etuikleid kaufen gehen, sein Vater wiederum lädt ihn ein, zu einer Solidaritätskundgebung mitzugehen. Sein Satz ist wie eine Salve, die ihm keinen Raum zum Ausweichen lässt: Am Donnerstag hat er schulfrei; solange ein Krieg nicht gewonnen ist, kann man ihn verlieren, und sollten sie verlieren … Er spricht nicht weiter.

Eine Gabelung, ein Delta tut sich in seinem Gedankenstrom auf: Mit seinem Vater auf die Champs-Élysées gehen oder seine Mutter zum Marché Saint-Pierre begleiten? In seinem Wörterbuch schlägt er Etui nach – ein Futteral, eine Hülle, in der auch ein Messer oder ein Dolch aufbewahrt werden kann. Die Expedition zum Marché Saint-Pierre erscheint ihm auf einmal nicht weniger männlich als der Krieg, und in der Dunkelheit seines Zimmers blitzt der Körper seiner Mutter auf, reckt sich spindelförmig, wie um gezückt, geschwenkt zu werden. Am nächsten Morgen begreift er jedoch, dass er keine Wahl hat, dass er seinem Vater keinen weiteren Grund zu der Anklage geben darf, er lebe unter den Röcken seiner Mutter, geschützt vor Licht und Tatendrang. Also sagt er, dass er mitkomme, fügt aber hinzu, er könne genauso gut mit der Kleinen zu Hause bleiben, falls ihnen das entgegenkäme. Kommt gar nicht infrage, erwidert seine Mutter. Aber Pepito darf doch auch! Das ist was anderes, Pepito muss nicht auf ein Baby aufpassen.

Alle treffen sich unten vor dem Wohnhaus – selbst Pepito ist da, obwohl er sonst nirgends hingeht –, alle stehen sie auf den Stufen des Portalvorbaus, wie auf einem der Familienfotos, die er im Unterricht sieht, abgedruckt in den Geschichtsbüchern, Fotos voller Leute, treppenförmig aufgereiht vor alten Fassaden. Plötzlich bewegt sich seine Mutter, tritt aus dem Rahmen. Ohne dass sie ihn darum gebeten hätte, kommt Pepito allen zuvor und hilft ihr, den Kinderwagen der Kleinen die Stufen hinunterzutragen. Als der Wagen auf dem Bürgersteig steht, hebt er den Kopf, wischt sich die Stirn, die roten Backen. Betty Boop! Du siehst aus wie Betty Boop, Pepito!, ruft sie. Du kennst Betty Boop nicht, stimmt’s? Das ist eine Zeichentrickfigur aus den Dreißigerjahren, das Gesicht ist an Clara Bow oder Helen Kane angelehnt … ach, ich kann mich nicht erinnern, ist schon so lange her, aber jetzt weiß ich es endlich, ja, ganz sicher, du siehst aus wie Betty Boop! Wenn das nicht witzig ist! Sie lacht, während Pepito schwitzt, und noch röter wird, gekränkt, nicht nur mit einem Mädchen verglichen zu werden, sondern dazu noch mit einer Zeichentrickfigur, fleisch- und konsistenzlos. Wo er seit Monaten darauf wartet, dass sie endlich den Namen ausspricht, der die Nebel lichten wird, durch die sie ihn anblickt, weil ihr dieser Name auf der Zunge liegt, ohne dass sie ihn nennen kann; wo er jedes Mal hofft, den Namen eines amerikanischen Schauspielers zu hören, dessen Foto sie anschließend in ihrem Zeitschriftenstapel entdecken werden – ein schönes Gesicht, männlich, verführerisch –, räumt sie ihm lediglich einen Namen ein, der kaum einer ist, drei plumpe Silben, bet-ty-boop. Gern würde er ihren Kinderwagen von der höchsten Stufe runterrasen lassen, wenn er noch dort stünde, doch er ringt sich ein Lächeln ab, während sie hinzufügt, dass Betty Boop ein entzückendes Wesen sei, dunkle Locken, kugelrundes Gesicht, zwei große Augen, genau wie Pepitos. Mit langen Wimpern, sagt sie in Marias Richtung, und einem hübschen roten Etuikleidchen. Ein rotes Etuikleid für ein Kind? Maria ist empört. Betty Boop ist nicht wirklich ein Kind, eher eine Mischung aus Frau und Kind, und in den Vierzigern haben sie das rote Kleid ohnehin abgeschafft. Doch ihre Erklärungen machen nichts wett, im Gegenteil. Pepito hat genug gehört und entfernt sich. Wo gehst du hin? Weiß nicht. Und selbst als sie sagt, Marilyn habe später ein berühmtes Lied von Betty Boop neu gesungen, I wanna be loved by you, ja, Marilyn höchstpersönlich, wobei sie die Melodie trällert, poo-poo-pee-doo, ist nichts mehr auszubügeln. Pepito marschiert Richtung Park. Maria belehrt sie, dass José ein Junge sei. José ist Pepitos richtiger Name, den nie jemand benutzt, außer in der Schule und in seltenen Momenten wie diesem, da die Silben von Pepito denen von Betty Boop plötzlich zu ähnlich sind. Sie beharrt nicht weiter und schlägt vor loszugehen.


Die Zuschauer

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