Читать книгу Die Zuschauer - Nathalie Azoulai - Страница 16

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Als er Pepito das erste Mal mit nach Hause bringt, sagt seine Mutter, Pepito mache mit seinen Locken und dunklen Augen – dunkel wie Tropfen von Schokolade, pépites de chocolat –, seinem Namen alle Ehre. Sie mustert ihn eingehend. Er weiß, dass sie wie immer nach Ähnlichkeiten sucht, dass sie mit James oder John oder Bill Irgendwer den Namen eines amerikanischen Schauspielers nennen möchte, doch ihr will an diesem Tag keiner einfallen. Was sie nicht daran hindert, jedes Mal wieder damit anzufangen und am Ende zu beteuern, er liege ihr auf der Zunge, sie werde schon noch darauf kommen. Ihr Gedächtnis hat so viele Bezüge zu Hollywood geknüpft, dass diese wie Reflexe aktiv werden, wie Fühler oder Finger im Dunkeln auf den geringsten Reiz reagieren, begierig, alles wiederzukennen, was erscheint.

Seltsamerweise sagt Pepito ständig, er selbst hätte gern einen kleinen Bruder bekommen. Und so ist er, auch wenn er weiterhin großtut, vor Pepito zärtlicher zu seiner Schwester, während er sie vor den anderen als Bürde darstellt, eine Sache, auf die er achten, aufpassen muss. Zwölf Jahre sind sie auseinander. Manche wundern sich, bemitleiden ihn. Ein Baby, was für ’ne Plage, sagen sie. Er kann diesen Ausdruck nicht leiden, weist jedoch niemanden zurecht, verscheucht alle Bilder von Seuchen und Heimsuchungen. Ein Mädchen aus dem Viertel spielt auf die Geheimnisse der Natur an, eine Frau könne durchaus eines Tages ein Kind bekommen und dann nie wieder, oder eben erst zwölf Jahre später. Sie spricht, als verfügte sie über die unanfechtbare Autorität der Eingeweihten, ohne zu merken, dass sie dem Abkömmling damit die wundersame Aura biblischer Ahnenfolgen verleiht. Er hütet sich zu erklären, dass seine Eltern vor genau zwölf Jahren nach Frankreich gekommen sind. Weder sagt er, dass er dort drüben gezeugt wurde, noch macht er es sich wirklich bewusst, so sehr klammert er sich an den Gedanken, hier geboren zu sein.

Ist er hingegen allein mit ihr, wird sie zu einer Art fleischlichem Talisman, den er berührt und knetet, dessen Geruch er tief einatmet, besonders wenn er seine Nase in die Mulde ihres Nackens gräbt, zwischen den geschwungenen Rändern abgründige Zartheit findet. Manchmal schimpft seine Mutter mit ihm, er solle neben ihr nicht so laut atmen.

Sie kommt im September zur Welt, und als sie acht Monate alt ist, erklärt er stolz, dass sie ihren ersten Frühling erlebt. Etwa zur selben Zeit fällt ihm die merkwürdige Stellung auf, die ihr rechtes Bein einnimmt, wenn sie sich in den Schneidersitz setzt. Tagelang verliert er kein Wort über das, was er sieht, doch wenn er an ihr vorbeigeht, bückt er sich, um das Bein zu richten, als stellte er einen Gegenstand neu auf, der ständig in sich zusammenfällt. Er achtet darauf, seine Geste rein mechanisch auszuführen, frei von Sorge, fast schon wie einen Gag, und schafft es sogar, nicht länger verwundert zu wirken. Und doch hofft er jedes Mal, der Aufwand möge sich lohnen, das Bein so bleiben, das Problem endgültig behoben sein. Zuerst geht er ganz sachte vor, dann gröber, als wolle er sichergehen, dass sie keinerlei Schmerz verspürt, dass diese Stelle ihres Körpers frei von Leiden ist. Irgendwann wundert sich seine Mutter, was machst du da? Ich richte ihr Bein, aber … Aber was? Schon seltsam, es knickt immer wieder weg … Der Blick seiner Mutter verfinstert sich: Zu ihrer früheren, unausgesprochenen Befürchtung kommen prompt weitere hinzu, lassen sie nicht länger denken, dass sie die Einzige sei, die sich zu viele Gedanken mache, sodass die Einsamkeit der Bangnis weicht.

Und dann ist es wie ein Lauffeuer, für das er sich verantwortlich fühlt: das Wort seines Vaters, das er am liebsten vom Tisch fegen würde, stimmt, sagt dieser mit hochgezogenen Augenbrauen, dann Pepito, der betont, dass kein anderes ihm bekanntes Baby sich so hinsetze, oder Maria, die vorschlägt, einen Gegenstand zwischen die Beine der Kleinen zu legen, um zu sehen, was passiert. Sodass er es schließlich vorzieht, sie so oft es geht auf den Bauch oder Rücken zu legen, um eben nichts zu sehen. Doch je größer sie wird, desto öfter bleibt sie sitzen. Ihre Mutter freut es, der Rücken entwickle sich. Er stellt sich vor, wie sich unter ihrer Haut eine weiße Koralle ausbreitet, sich verzweigt; er muss sie wachsen lassen, darf sie nicht zerdrücken.

Ohne es aussprechen zu wollen, schraubt die ganze Familie in den nächsten Monaten ihre Ambitionen zurück, und hofft bald nicht mehr, dieses Baby im lauffähigen Alter möge endlich seine ersten Schritte tun, sondern nur noch, dass sein rechtes Bein in der Sitzposition nicht mehr nach innen rotiert. Ein Zurückschrauben, das als Geduld durchgehen könnte oder als schlichte Anpassung an die Wirklichkeit, und doch in einen einzigen besorgten Seufzer mündet.


Die Zuschauer

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