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Beim Bewerten sind wir Opfer und Täter zugleich.

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Beim Thema Bewertungen fühlen wir uns meistens als Opfer. Vielleicht leiden Sie noch heute darunter, dass Ihre Eltern meinen, Sie hätten lieber das Jurastudium machen oder einen anderen Mann heiraten sollen, und das bei jedem Familien-Kaffeetrinken spätestens nach 15 Minuten hervorkramen. Oder Sie sind genervt von einer ernährungsbewussten Freundin, die jedes Grillfest mit Vorträgen über Massentierhaltung bereichert, bevor sie ihre Maiskolben auspackt. Dass wir selbst häufig ebenfalls vorschnell werten – sozusagen »Täter« sind –, übersehen wir. Als ich vor einiger Zeit heimlich geheiratet habe, hatte so gut wie jede und jeder in meinem Umfeld eine Meinung dazu. Es gehöre sich nicht, das mache man so nicht und wie ich meinen Freunden / meiner Familie das antun könne. Nur sehr wenige haben mich gefragt, was uns zu dieser Entscheidung bewogen hat, oder uns einfach nur »Alles Gute für die Ehe!« gewünscht. Ich selbst habe mich allerdings wenig später bei ebenso bewertenden Gedanken ertappt, als eine Bekannte ganz traditionell, mit einem Riesenfest, Junggesellinnenabschied, Kutschfahrt und Hochzeitsfotografen geheiratet hat. Das wiederum ist nämlich so gar nicht mein Ding. Wieso fällt es uns so schwer, hinzunehmen, dass andere mitunter anders ticken als wir selbst, und uns mit Urteilen zurückzuhalten? Dass das so ist, zeigt auch das folgende Beispiel aus dem Berufsleben:

Der nette Herr am Empfang des Unternehmens, in dem ich heute als Beraterin engagiert bin, begrüßt mich höflich, wie gewohnt. Mein Gesprächspartner würde sich allerdings 20 Minuten verspäten. Aber so ist der, das wisse ja jeder hier. Der könne sich nicht organisieren. Oder Prioritäten setzen. »Aber dafür sind Sie ja sicher hier, oder?«, fragt er. Zwinkert mir zu und begrüßt den nächsten Besucher. Mal wieder fällt mir auf, wie leicht es Menschen fällt, über andere zu urteilen und vermeintliche Gründe zu kennen. Mein Gesprächspartner holt mich 27 Minuten nach unserem Termin am Empfang ab, entschuldigt sich und erklärt, seine Frau sei schwanger und er habe sie heute Morgen wegen Schmerzen in die Klinik gebracht. Der Herr am Empfang schaut nun verschämt zu Boden.

Manchmal liegen wir mit unseren Urteilen ganz schön daneben, weil wir nur einen Ausschnitt kennen, nur Teilinfos haben, aber trotzdem munter draufloswerten. Oder weil wir unsere eigenen Vorstellungen verabsolutieren, die der Betreffende aber nicht teilt (etwa wenn Eltern das Jurastudium zum Nonplusultra erklären oder erwachsene Kinder die Augen rollen, wenn die Eltern zum x-ten Mal in dasselbe »schöne Hotel« auf der Ferieninsel fahren). Das offenbar schwer abstellbare Wertungsbedürfnis, das wir alle mit uns herumtragen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, hat vor allem eine Ursache: Wir blicken durch unsere eigene Brille auf die Welt. Diese Brille wird bestimmt durch unsere Erfahrungen, unsere Erziehung, unsere Vorbilder und unsere genetische Grundausstattung. Wer mit hohem Aktivitätslevel geboren und zu Fleiß und Anstrengung erzogen wurde, hat oft wenig Verständnis für Menschen, die es langsamer angehen lassen. Wem es nie an etwas fehlte und wer großbürgerlich aufgewachsen ist, wundert sich über die geringe Selbstsicherheit der weniger Begünstigten. Unsere eigene Art, die Welt zu sehen, ist sehr individuell und daher vergleichbar mit einer nur für uns angepassten Brille. Nur ich kann durch meine gut sehen, und Sie durch Ihre (auch wenn Sie selbst keine Brille haben, können Sie sich sicher vorstellen, wie individuell Brillengläser geschliffen sind). Würden Personen also im Moment des Wunderns ihre eigene Brille ab- und stattdessen die des Gegenübers aufsetzen, könnten sie nur noch verschwommen sehen. Da bleiben wir doch lieber bei unserer eigenen Brille und Weltsicht!

Warum es Bullshit ist, andere ändern zu wollen

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