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Caspar

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Der alte Kapitän kam sich verloren vor. Um ihn herum seltsame, nicht ausschließlich von Menschenhand entworfene Gebäude, in der Luft Geräusche des Grauens, sah er sich umgeben von sonderbaren, schattenhaften Gestalten, die wie eine Vorahnung wirkten. Doch sie waren ihm nicht feindlich gesinnt, wie es schien, sondern unterstützten ihn auf der Suche nach etwas Wertvollem. Es krachte in seinen Ohren, vor ihm erschien das Wort "Solid Yol" und plötzlich vernahm er eine Stimme, fern und wispernd, jenseits des Geschehens um ihn herum, doch zugleich so deutlich, als würde derjenige direkt neben ihm stehen.

"Caspar. Ich erwarte dich am Strand, Caspar.“

Fröstelnd erwachte er. Sein Schlafzimmer lag in fahlem Zwielicht und nur durch das Fenster machte sich der Schein des Vollmondes bemerkbar.

Es war wieder nur ein Traum gewesen. Seit Wochen sah er nachts die gleichen Bilder und wusste doch nicht, was sie bedeuteten. Dennoch faszinierten sie ihn, dass es beinahe unheimlich war. Jedes Mal genau die selbe Abfolge von Eindrücken ... nein. Etwas war heute anders. Jemand hatte ihn angesprochen. Die Stimme kam ihm sehr vertraut vor, und er fragte sich keine Sekunde, ob er ihrer Aufforderung folgen sollte.

Ohne zu zögern stand er auf, schnappte sich seinen Bademantel, schlüpfte in die Hausschuhe und ging auf den Flur hinaus.

Sein zweistöckiges Haus war dunkel. Wo das satte Mondlicht keinen Weg hinein fand, hüllten sich Wände und Winkel in Finsternis. Caspar stieg die Treppe hinab, durchquerte das Wohnzimmer und kam dabei an der Küche vorbei. Nachdenklich kratzte er sich den dichten, weißen Bart und den beinahe kahlen Kopf. Er überlegte, ob es sinnvoll war, sich eines der Küchenmesser mitzunehmen, kam aber zu dem Schluss, dass hier an der Küste, nahe seines Hauses, keine wirkliche Gefahr zu erwarten sei. Irgendwie enttäuschte ihn dieser letzte Gedanke. Schon zu früheren Zeiten hatte er seine Fertigkeiten mit Klingen erproben können, doch inzwischen gab er keinen ernstzunehmenden Widersacher mehr ab, sondern glich mehr dem Weihnachtsmann als dem Burschen, der er einst war. Als junger Wildfang hatte Caspar es nicht abwarten können, endlich auf Reisen zu gehen, die Welt zu sehen und alles zu entdecken, was nicht auf Karten verzeichnet war. Wie viele seltsame Personen ihm begegnet waren und in welche unglaublichen Abenteuer er verstrickt worden war, vermochte er bald nicht mehr zu zählen. Er war mit den Jahren so abgebrüht geworden, dass ihn wortwörtlich nicht mehr viel schockieren konnte. Umso schwieriger gestaltete sich aber auch die Suche nach neuen Eindrücken, neuen Entdeckungen, neuen Reisen. Als Caspar sich im Laufe seiner Berufslaufbahn schließlich sein eigenes kleines Schiff gekauft hatte und mit Frachttransporten selbst die hintersten Winkel der Erde ihm nicht mehr fremd waren, musste er sich notgedrungen damit begnügen, auf altbekannten Wegen zu fahren. Zeitweise war ihm diese Eintönigkeit sogar willkommen, um sich im Sommer bei einem schönen Glas Rum hinter seinem Haus die Sonne auf die narbige Brust scheinen zu lassen und hin und wieder ein lauschiges Wort mit einem der Nachbarn zu wechseln. Doch lange hielt diese Idylle nicht an - zu stark zog die Sehnsucht nach neuen Abenteuern ihn wieder aufs Meer hinaus, ohne Erfolg. Eine nächtliche Begegnung am Strand, direkt nach einem seiner seltsamen Träume, erschien ihm somit wie ein Zeichen des Himmels.

Neben der Haustür lag seine Pfeife. Auf ausgedehnten Spaziergängen am Strand oder noch lieber entlang der Bucht, wo weniger Menschen waren, gönnte Caspar sich gerne ein paar Züge aus diesem schmuckvoll verzierten Erbstück. Er steckte sie sich in den Mund, um seine gespannte Erwartung zumindest an ihr auslassen zu können.

Das Städtchen schlief tief und friedlich. Der Alte ließ seinen Blick über die Dächer schweifen, sog die eisige Luft ein und fühlte sich bereit. Mit dem Blick auf den Leuchtturm gerichtet, stieg er die Stufen zum Strand hinunter. Dort lag in einiger Entfernung sein kleines Schiff vor Anker, die Cerpat. Gepflegt sah sie aus mit ihren Segeln und ihrer matt weiß glänzenden Lackierung. Unzählige Male schon war er damit unterwegs gewesen, hatte fremde Länder gesehen und das raue Leben auf See genossen. Nun aber machte sich das Alter bei ihm bemerkbar und er war gezwungen, sich demnächst zur Ruhe zu setzen.

Plötzlich fiel ihm eine Bewegung im Schatten einer hohen Böschung auf. Er erkannte die Gestalt, die dort stand. Es war Pépe, sein ehemaliger Schiffsjunge.

"Hallo“, sagte Caspar mit freundlicher Stimme. "Was treibt dich denn um diese nachtschlafende Zeit hierher, du Leichtmatrose?"

Der Schiffsjunge antwortete nicht. Er starrte ihn nur an. Caspar wurde langsam etwas kühl in seinem Bademantel.

"Komm, Junge, es ist doch kalt hier. Lass uns reingehen."

Der Schiffsjunge blieb stumm. Seine stahlblauen Augen durchdrangen den Alten. Ihm wurde es gruselig zumute und er bewegte sich langsam einen Schritt auf Pépe zu.

"Komm doch endlich, beim Klabautermann! Du erkältest dich noch."

Noch immer keine Regung. Caspar wurde nun sichtlich ungeduldig und streckte eine Hand nach der Schulter des Jungen aus.

"Komm gefälligst mit, Menschenskind..."

Mitten im Satz stockte ihm der Atem. Die Pfeife fiel ihm aus dem Mund in den weichen Sand. Der Schiffsjunge war aus dem Schatten hervor gekommen und hatte den Kapitän an der Kehle gepackt. Immer fester schloss sich die für einen fleißigen Schiffsjungen eigentlich zu kindlich aussehende Hand um den stämmigen Nacken des Alten. Nun, im Mondlicht, war der hagere Pépe viel besser zu erkennen. Sein kurzes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab; seine stahlblauen Augen blickten wie in Trance durch Caspar hindurch und seine Kleidung bestand nur aus Lumpen. Vom reinen Aussehen her wog er höchstens halb soviel wie sein Opfer.

Caspar rang nach Luft und keuchte ein heiseres "Wer... bist ... du...?", während sich die Hand immer fester um seinen Hals schloss.

Dann aber atmete er erleichtert auf, während sein Körper zu Boden sackte. Der Schiffsjunge hatte unfreiwillig den Griff lockern müssen, und der Alte sah nach einem kurzen Kopfschütteln auch den Grund. Zwischen ihm und dem mordlüsternen Pépe mit der Kindeshand stand eine groß gewachsene Gestalt. Ihr Mantel wehte schwarzgold im nächtlichen Wind und trug einen Hauch von Seetang und Fisch mit sich, als wäre sie geradewegs aus dem Meer gekommen. In Windeseile nach seiner Pfeife tastend, ließ Caspar diesen fremden Lebensretter nicht aus den Augen. Inzwischen hatte sich eine dicke Wolkenformation vor den Mond geschoben. Doch die schwarzgoldene Gestalt war keineswegs zu verfehlen, da ein seltsames Leuchten von dem Mantel ausging. Es versetzte den Alten in eine Art Rauschzustand, wie er ihn nur von gelegentlichen Besuchen in der örtlichen Hafenspelunke kannte. Dennoch bekam er alles mit, was um ihn herum geschah. Er versuchte, das Gesicht des Fremden zu erhaschen, aber außer seinen dunklen grünen Haaren, die bis zu den breiten Schultern reichten, und spitzen Ohren, die in einem halbwegs glatten Gesicht endeten, war nichts sonst zu erkennen.

"Scher dich fort, was immer du sein magst. Greif deinesgleichen an, aber nicht ihn hier!"

Eine Reibeisenstimme ließ Caspar zusammen zucken. Sie kam von dem Lebensretter.

Eine leisere, beinah greinende Stimme erwiderte: "Verzeiht, Herr. Es wird gewiss nicht mehr passieren, Herr.“

Der Schiffsjunge verbeugte sich tief, sah aber verschlagen zu dem Gesicht des Fremden hoch und seine Augen blitzten auf. Caspar stürzte zu seinem Retter und schubste ihn zur Seite. Im rechten Augenblick, denn just in dem Moment erwischte den Alten die andere Hand des Schiffsjungen, ein zerfurchter Klumpen Haut geballt zu einer Faust. In hohem Bogen und mit einem Schmerzensschrei flog der Kapitän gegen eine Felskante ganz in der Nähe und blieb liegen. Der schwarzgolden verhüllte Mann stand auf und sah von dem Verletzten hinüber zum Attentäter. Dieser sah den Fremden an und lachte auf eine unmenschliche Art.

Mit wütender, keine Gnade kennender Stimme sprach der Fremde:

"Ich verfluche dich, du Monstrum. Wenn du ihm ernsthafte Schäden beigebracht haben solltest, wirst du unser nächstes Treffen nicht überleben. Und nun mach dich fort mit deinen Entstellungen. Euer Volk bekommt ihn nicht, und kein anderes Volk wird ihn bekommen. Richte das deinen Auftraggebern aus!“

Lachen tönte abermals aus dem Mund des Schiffsjungen, und er geiferte. Mit der gehobenen Kindeshand als Zeichen des Abschieds sprang er in die Schatten der Nacht und war verschwunden. Schnell besann sich der Große und eilte zu Caspar. Behutsam hob er ihn auf seine Schultern und ging langsamen Schrittes den Weg hinauf zu Caspars Haus, fand die Haustür unverschlossen vor, legte ihn aufs Sofa und setzte sich neben ihn.

Das Haus stand so günstig auf der Küstenklippe, dass am nächsten Vormittag ein paar Sonnenstrahlen durchs Fenster schlüpften und Caspar, der immer noch auf dem Sofa lag, an der Nase kitzelten. Mit einem heftigen Nieser wachte er auf. Sofort fiel ihm die vergangene Nacht wieder ein und er fasste sich an den Kopf. Zu seiner Verwunderung aber war dieser verbunden. Er schaute sich um, entdeckte aber nichts und niemanden. Ein zweites Mal wanderte sein Blick durch den Raum, blieb dieses Mal allerdings an dem Durchgang zur Küche hängen. Denn dort stand plötzlich sein Lebensretter und lächelte. Verwundert und wortlos saß Caspar einfach nur da und sah den Mann an, der immer noch unverändert lächelnd in seinem schwarzgoldenen Mantel stand wie ein halber Riese. Langsam kam er näher ans Sofa heran und setzte sich schließlich auf die Lehne.

"Nun, wie fühlen wir uns heute? Tut der Kopf noch sehr weh?"

Die Reibeisenstimme hatte wieder gesprochen. Und nun, da dieser Fremde so dicht und bei Sonnenschein vor ihm stand, konnte Caspar auch endlich das Gesicht seines Retters genauer in Augenschein nehmen. Abgesehen von den grünen Haaren und spitzen Ohren, die er schon in der vergangenen Nacht entdeckt hatte, sah man jetzt, dass der Fremde ein ziemlich schmales Gesicht besaß. Eine hohe Stirn reichte bis zu buschigen Augenbrauen, die ebenso grün waren wie die Haarpracht. Geheimnisvolle Augen, deren Farbe nicht festzustellen war, ließen darauf schließen, dass sie schon viel gesehen hatten. Die Beschaffenheit der teils grün schimmernden, teils menschlich rosa wirkenden Haut, die er schon nachts bemerkt hatte, gab ihm nun noch mehr zu denken. Manchmal schien sie eher glatt zu sein; bewegte der Fremde jedoch seinen Kopf nur ein wenig nach rechts oder links, meinte man, die Haut wäre zerfurcht von einigen Narben. Der restliche Körper wurde von dem schimmernden Mantel des Fremden verdeckt und noch immer war ein Duft aus dem Meer wahrnehmbar. Caspar war überzeugt, kein menschliches Wesen vor sich zu haben. Der Fremde stand auf und verneigte sich.

"Verzeih, wie konnte ich nur meine guten Manieren vernachlässigen? Mein Name ist Eldrit, ich bin ein Trollenprinz vom Volk der Edeltrolle und dein guter Geist."

Der Kapitän nickte nur und erwiderte leise:

"Angenehm. Mein Name ist Caspar, ich bin ein alter Seebär, gehöre bald zum alten Eisen und bin nicht im Bilde, was hier vor sich geht. Gestern Nacht zog mich irgendwas aus meinem Bett, ich ging zum Strand, traf auf Pépe, einen eigentlich recht freundlichen Schiffsjungen, der mir oftmals auf meinen Reisen zur Seite stand und der demnächst unter neuer Anleitung zu einem guten Matrosen hätte werden können. Doch dann griff er mich an und auf einmal warst du da und ich blicke nun überhaupt nicht mehr durch. Ich dachte, Trolle und dergleichen gibt es nur im Märchen. Und was soll das mit dem guten Geist? Du musst mir wohl einiges erklären, Eldrit."

Der Prinz lächelte und neigte sich zum Gesicht des Kapitäns herunter.

"Mein guter Caspar, alles zu seiner Zeit. Im Moment musst du nur wissen, dass Pépe vielleicht noch längst kein Einzelfall war. Da du aus bestimmten Gründen, die allerdings auch mir bisher verborgen geblieben sind, beschützt werden musst, wurde ich als dein Leibwächter abkommandiert. Sieh dich also vor und pass auf, wem du dein Vertrauen schenkst."

Mit diesen Worten erhob sich der Prinz und ging aus dem Haus. Caspar saß immer noch auf dem Sofa und kratzte sich am Bart.

"Ich glaube, das muss ich erst mal mit einem schönen Glas Rum besprechen. So ein sonderbarer Kerl ist mir ja noch nie untergekommen, auf meinen gesamten Seereisen noch nicht. Na ja, womöglich wache ich morgen früh auf und das alles war wieder bloß einer meiner beknackten Träume. Falls allerdings nicht, dann wird das unter Umständen ein ganz nettes Abenteuer."

Er stand auf und ging in die Küche. Während er verwirrt dem Alkohol zusprach, schlich Eldrit wieder ins Haus und setzte sich aufs Sofa.

"Caspar", schüttelte er nachdenklich den Kopf. "Ich frage mich, weshalb du so interessant für deine Feinde bist. Bisher war der Junge von letzter Nacht immerhin der einzige Angreifer. Ich will hoffen, dass es auch dabei bleibt. Aber Hoffnung, habe ich mal gehört, ist nur dann Vorbote des Erfolges, wenn Pech ihr nicht entgegen reitet."

Solid Yol

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