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Kapitel 3 Leseprobe für Frau Herzog

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Lektorkiller

Herbert Hesse

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»Der erste Fremde sticht«, sagte Stefan Bein zu seinen drei Mitspielern. »Ich habe Hochzeit!«

Bein freute sich, dass er mal wieder Zeit zum Doppelkopf gefunden hatte. Er wollte etwas tun für die Freundschaften, die er noch pflegte, und seine drei Mitspieler hatte er schon länger nicht mehr gesehen. Gelegenheit zum Kartenspielen und Biertrinken hatte der Kriminalhauptkommissar vielleicht zweimal im Jahr.

Hochzeit hatte er schon lange nicht mehr gefeiert. Er war verheiratet, ja, aber geschlafen hatte er mit seiner Frau Eva das letzte Mal vor drei oder vier Jahren, nach einer der wenigen Partys, auf die sie noch eingeladen wurden. Wenn sie sich sahen, hatten sie Streit. Darüber, dass er Tag und Nacht nur für die Kripo da war, nicht für sie. Dass er sie vernachlässigte. Dass er nicht genug verdiente mit seiner beschissenen Polizeiarbeit. Und dass er an allem schuld war, vor allem aber daran, dass ihr Sohn Jan an der Spritze hing und häufiger in U-Haft als in der Schule war.

In seiner Hose rappelte es. Bein hatte sein Handy auf lautlos gestellt, an einem dieser wenigen Abende, die er ausnahmsweise einmal genießen und an denen er einfach nur »der Stefan« sein wollte.

Dennoch zog er das Gerät aus der Tasche. Seine Freunde sahen sich entnervt an.

»Die Dienststelle«, sagte Bein, stand auf und ging in einen Nebenraum.

»Das wird wieder nix«, hörte er einen seiner Freunde sagen. »Komm, lasst uns Skat spielen. Da sind wir auf der sicheren Seite.«

»Wie, abgestochen und zersägt?«, sagte Bein und stöhnte. »Um Gottes willen! Ich komme sofort!« Er ging mit bleichem Gesicht zurück ins Zimmer.

»Hast du doch gerade gesagt«, scherzte einer seiner Freunde. »Der erste Fremde sticht! Dann bis nächstes Jahr, Stefan. Viel Erfolg. – Gerd, du gibst.«

* * *

Beins Navi lotste ihn zu einem Reihenmittelhaus in der Schmachtenbergstraße in Kettwig. Direkt am Wald. Parkplatz war nicht, die Straße war an beiden Seiten mit rotweißen Banderolen abgesperrt und ansonsten von Polizeifahrzeugen und einem Leichenwagen komplett zugeparkt. Stefan Bein fuhr eine Straße weiter und stellte sich an die nächste Ecke ins Parkverbot. Hier kam jetzt sowieso niemand mehr durch.

Vor dem Haus wartete bereits seine Kollegin auf ihn. »Menschenskind, Stefan! Wo bleibst du denn so lange!? Siehst du nicht, was hier los ist?«, fragte ihn die hübsche Kollegin.

Elena Denizoglu war die Tochter einer Deutschgriechin und eines Vaters, der eine blonde Norwegerin und einen Türken als Eltern hatte. Sie sah umwerfend aus, auch wenn sie die Dreißig gerade hinter sich gelassen hatte. Bein fragte sich, wie sie das machte, bei dem Dienst, den sie schoben.

Vielleicht lag es an ihrem griechischen Profil, ihrer vollen Figur und ihren dichtumflorten Augen. Vielleicht aber auch an dem vielen und wilden Sex, den ihr alle nachsagten.

Sie funkelte ihn aus ihren großen, dunkelbraunen Augen an. »Weißt du, was da drin los ist? Und irgendein Arsch hat das alles schon der Presse gesteckt!«

Bein sah sich um. Tatsächlich lungerten einige Typen mit Kameras hinter einer Absperrung auf der anderen Straßenseite und gestikulierten wild auf einen jungen Beamten ein.

»Wo warst du denn?«, fragte sie erneut, jetzt etwas milder.

»Mit Freunden Karten spielen«, entgegnete Bein matt. »Was ist hier denn nun genau passiert?«

»Komm mit rein. Ich zeig’ es dir.«

Gehorsam trottete Bein hinter der Oberkommissarin ins Haus. Ein schönes Haus, wie er fand. Eine Art Maisonette über drei Etagen, mit einem riesigen Fenster zum Wald hinaus. Aber jetzt stand die Wohnung voll mit weiß gekleideten Menschen. Jemand drückte ihnen Überschuhe in die Hand. »Nichts anfassen«, erklärte er überflüssigerweise.

Denizoglu zog Bein in einen fensterlosen Raum auf der nächsten Halbetage. »Keller nennen die das hier, dabei liegt es höher als das Wohnzimmer«, sagte sie. »Und hier steht die Kühltruhe.«

Die Truhe war ein massiver Kasten, in dem vermutlich Vorräte für mehrere Monate gelagert werden konnten.

»Komm.« Denizoglu drängte ihn weiter nach vorn. »Macht mal ein bisschen Platz«, bat sie zwei Kollegen von der Spurensicherung und lächelte dabei.

Ihn hätten sie nicht so bereitwillig durchgelassen, dachte Bein.

»Hier.«

Bein blickte auf weiße, mit Frost überzogene Päckchen. Aber dann sah ihn aus einem der Gebilde ein ebenfalls weiß überfrorenes Auge an. Ein Menschenauge, mit langen Wimpern darüber. Aus einem anderen Paket ragte ein rotlackierter Zeh heraus.

»Menschliche Körperteile?«, fragte er. »Von wem?«

»Das ist doch euer Job«, sagte der neben ihm stehende Kollege von der Kriminaltechnik, den Bein schon mal irgendwo gesehen hatte. »Eine Frau jedenfalls, oder besser, der Kopf, der linke Arm und zwei in der Mitte der Oberschenkel abgetrennte Beine. Möglicherweise von der gleichen Person.«

Bein schüttelte den Kopf. »Und wieso abgestochen?«, fragte er.

»Wie, abgestochen?«, fragte seine Kollegin zurück. »Ach so, ja, zeig ihm mal das Messer, Victor.«

Victor. Den kannte sie also auch näher, dachte Bein. Jetzt fiel ihm auch der Name wieder ein. Victor Oberstein, der stellvertretende Leiter der Kriminaltechnik Essen. Der immer als Erster am Tatort war, um Spuren zu sichern und nur ja nichts kontaminieren zu lassen.

Oberstein nahm einen Plastikbeutel von einem Plastikständer. Bein erkannte ein blutverschmiertes Steakmesser mit einer Klinge von mindestens 30 Zentimeter Länge. »Das steckte zwischen Truhe und Deckel«, erklärte Oberstein. »Und das hier steckte auf der anderen Seite.« Er nahm einen weiteren Beutel zur Hand und hielt ihn Bein unter die Nase. »Ein Tranchiermesser. Batteriegetrieben. Unübersehbar übrigens. Das sollte gefunden werden, wenn Sie mich fragen.«

»Verdacht auf Kannibalismus?«, fragte Bein seine Kollegin.

»Nur, weil wir in Essen sind?«, fragte die zurück. »Alles vernaschen die hier auch nicht.«

Bein verzog das Gesicht. »Wer hat das hier entdeckt, und wann war das? Und habt ihr eine Ahnung, wie lange der oder die Toten hier schon hinüber sind?«, fragte er in Richtung der Spurensicherung.

Der Kollege zuckte nur mit den Achseln. »Wir bringen das nachher in die Pathologie, der Richter wird’s dann schon richten.«

Georg Richter, dachte Bein. Ihr Gerichtsmediziner, und ein Arsch vor dem Herrn.

»Die Putzfrau«, beantwortete Denizoglu seine erste Frage. »Die kommt hier zweimal die Woche. Sie hat einen eigenen Schlüssel, aber sie hat die Wohnungseigentümerin schon seit Monaten nicht mehr angetroffen. Es war alles immer sauber und aufgeräumt, sagte sie. Die Eigentümerin ist übrigens Veganerin, was deine erste Frage beantwortet. Kein Fleisch. Nur Grünzeug und Körner in den Schränken.«

Bein sah sie fragend an.

»Eine Frau Segers, Monika Segers. Ihr gehört die Wohnung. Würde vom Alter her zu unserem Kopf passen, würde ich sagen.«

»Wissen wir noch mehr über sie? Und wo ist der restliche Körper – oder weitere Teile?«

»Anfrage läuft«, beschied ihm seine Kollegin achselzuckend. »Gesehen wurde hier auch keiner, ich habe die Nachbarn schon befragen lassen. Und es ist elf Uhr, ich habe noch was vor. Was dagegen, wenn wir die Kollegen alles einpacken lassen, und ich dampfe ab?«, fragte sie und legte ihr hübsches Köpfchen schief, sodass die verschiedenfarbigen Strähnchen ihr zu kleines Ohr freilegten. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie ihn und baute sich vor ihm auf.

Bein musterte sie. Ihre eigentlich mediterran-gelbblonden Haare hatte sie schwarz gefärbt, und am unteren Rand und in Höhe der Ohren einige rote Strähnen eingefügt. Es sah aus, als ob sie in Flammen stünde. Der sehr kurze Rock zeigte ihre rundlichen Hüften und noch mehr von ihren langen, aber etwas zu kräftigen Beinen.

Ihre hohen Hacken ließen die Beine noch länger wirken – und das, obwohl Denizoglu viel kleiner war als er selbst. Auf ihr Oberteil zu schauen, oder eher zu starren, hatte Bein sich schon länger abgewöhnt. Das machte ihn nur unruhig. »Nuttig«, brummte er unwillig.

Sie grinste, wackelte mit den Hüften und klappte die eine Seite ihrer roten Lederjacke mehrmals auf und zu. Dem konnte auch Stefan Bein nicht widerstehen. »Zisch schon ab. Wir sehen uns morgen im Büro. Pünktlich.«

* * *

Am nächsten Morgen war es Bein selbst, der zu spät und unausgeschlafen mit grauem Gesicht ins Büro geschlurft kam. Nach einer guten Stunde Streit mit seiner Frau hatte er nur bis drei Uhr geschlafen und war dann von seinem Sohn geweckt worden, der laut und zugedröhnt nach Haus gekommen war. Nach einem sinnlosen Gesprächsversuch mit ihm hatte er dann bis zum Morgen schlaflos auf der Couch im Wohnzimmer gelegen und Gott und die Welt verflucht.

Denizoglu dagegen pfiff munter eine flotte Melodie und strahlte aus allen Poren Vergnügtheit aus. »Wenn du so weitermachst, Stefan, kannst du bald mit deinen Tränensäcken einkaufen gehen«, schlug sie vor. »Ärger?«

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugekriegt«, klagte er.

»Ich auch nicht«, strahlte sie. »Das Leben ist schön!«

»Das Leben ist scheiße«, erwiderte Bein. »Und für unseren Tiefkühl-Kopf vorbei. Hat sich die Pathologie schon gemeldet? Oder hat die Spurensicherung was?«

»Wir sollen gleich rüberkommen«, klärte sie ihn auf. »Zu beiden. Oberstein hat was für uns. Georg Richter auch. Die scheinen auch die halbe Nacht wach gewesen zu sein.«

Sie gingen zum Parkplatz. Bein fuhr.

Unterwegs klingelte das Telefon seiner Kollegin. Warum riefen alle immer nur sie an und nicht ihn, dachte er. Na klar, weil sie besser aussah als er. Und weil sie immer freundlich war. Und weil sie so aussah, als ob sie leicht zu haben wäre. Von dir will doch keiner was, meldete sich hämisch und abschätzig seine innere Stimme.

»Wo?«, fragte sie. Sie waren nach der kurzen Fahrt bereits in der Nähe der Rechtsmedizin angekommen. »Okay, danke. Wir kommen etwas später. Seht zu, dass das alles abgesperrt wird. Wir brauchen keine Zuschauer.«

Jetzt entschied sie schon selbständig. »Darf ich vielleicht auch mal erfahren, was los ist?«, schäumte er. »Oder werde ich hier gar nicht mehr gefragt?«

»Du bist der Boss«, gab sie zu. »Kann ich doch nichts für, wenn die bei mir anrufen.«

»Und was ist jetzt?«, fragte Bein ungeduldig.

»Die haben einen Torso gefunden. Passend zu unserer Tiefkühlkost.«

Sie hatten den Eingang zur Rechtsmedizin in der Ruhrlandklinik erreicht.

»Gut. Erzähl mir das gleich. Jetzt hören wir uns erst mal an, was die hier haben.« Bein öffnete die Tür zu dem weißgefliesten Raum. Gott sei Dank roch es nach Meister Proper, nicht nach Leiche.

»Mehr weiß ich auch noch nicht«, sagte Denizoglu eine Spur leiser und leicht beleidigt.

Zum Glück war es nicht Georg Richter selbst, der Dienst hatte und ihnen die Leichenteile zeigte, sondern sein junger und hübscher Assistent Carlo di Angelo, der genau wie Denizoglu permanent gut drauf war. Seine Kollegin nahm ihn auch gleich in den Arm, Bussi links, Bussi rechts.

»Schön dich zu sehen, Engel.«

»Selber Engel!«

»Guten Morgen«, sagte Bein. »Wir haben nicht viel Zeit. Klären Sie uns bitte mal auf, di Angelo.«

Der grinste seine Kollegin an und zeigte mit seinem Kinn auf den Sektionsraum. »Da drin.«

Auf der ausziehbaren Bahre lag anders als sonst kaum etwas unter dem grünlichen Tuch. Di Angelo warf es mit einem weiten Schwung zurück. Bein sah, dass er den Kopf, den Arm und die beiden Beine so hingelegt hatte wie bei einem kompletten Körper. Alles war jetzt abgetaut und sah halbwegs normal aus.

Die Frau musste hübsch gewesen sein. Ebenmäßige Züge, gepflegtes Haar. Relativ lange Beine, wenn man nach den Unterschenkeln urteilen konnte, leichte Bräunung am Körper. Irgendwie wirkte ihr Kopf intellektuell, aristokratisch. Wie jemand aus einer guten Talkshow oder aus einem Uni-Vorstand. Jetzt sah ihr Gesicht aber stark eingefallen aus. Die Augenlider waren zugedrückt worden.

»Natürlich können wir über die Todesursache noch nicht so viel sagen,« begann der junge Arzt. »Ohne den kompletten Körper. Aber wir können einiges ausschließen. Kein Gift, keine Gewalteinwirkung auf die hier liegenden Körperteile. Die Frau war kerngesund. Aber wir haben doch was rausgefunden.« Er grinste Denizoglu an.

Bein nahm er kaum wahr. »Machen Sie schon!«

»Die Amputationen sind erst erfolgt, als kein Blut mehr im Körper war. Oder kaum noch welches. Das können wir feststellen. Was wir hier haben, ist viel zu leicht für eine normale Frau.«

»Sie ist also verblutet«, mutmaßte Bein.

»Sie ist geschächtet worden«, erklärte der Arzt. »Wie ein Hammel bei den Türken, Entschuldigung, Elena, oder von mir aus wie ein Kaninchen. Deshalb hat sie auch weniger Adrenalin und andere mit Schmerz und Angst verbundene Stoffe im Gewebe. Das tut nicht so weh. Sehen Sie, hier«, er deutete auf den Halsansatz.

»Hier ist ein Längseinschnitt in die Carotis zu sehen, der sich vermutlich noch weiter nach unten erstreckt. Hier unten am Kopf, auf der Trennfläche, war nur sehr wenig Blut. Der Kopf ist erst abgetrennt worden, als der Körper schon ausgeblutet war.« Wie um seine Worte zu beweisen, fuhr er mit einer Art Wattestäbchen über den Schnitt durch Muskeln, Knochen, Adern, Speise- und Luftröhre. »Fast nichts.«

Er zog eine andere Schublade auf. »Hier. Das ist eine Ziege, die war für ein Fest in der jüdischen Gemeinde vorgesehen. Ich bin denen gerade noch zuvorgekommen. Die kriegen die wieder, wenn das hier vorbei ist. Sehen Sie sich das bitte mal an.«

Er klappte ein Tuch zurück. Bein fragte sich, ob das aus Pietätsgründen oder der Hygiene dort lag. Der Ziegenkopf lag separat vom Körper, sodass man die Schnittstelle gut sehen konnte. »Hier. Exakt die gleichen Wunden, sehen Sie sich bitte die Gefäße an. Ich kann aber auch noch ein Schaf besorgen und das ohne Ausbluten köpfen, dann sehen Sie den Unterschied.«

»Nicht nötig«, beschied ihm Bein gallig. »Ich glaube Ihnen das gerne. Sonst noch was zu der Toten?«

Di Angelo blätterte in einer Akte, die er von einem Seitentisch genommen hatte. »Hm. Sie nimmt die Pille. Und Mittel gegen hohen Blutdruck. Viel mehr habe ich nicht. Dafür brauche ich den Rest des Körpers. Außerdem ist die offizielle Obduktion erst später. Wir haben den richterlichen Bescheid noch nicht. Wir rufen Sie an, Herr Bein.«

»Okay. Das reicht uns auch schon mal. Geschächtet!« Er schüttelte den Kopf. »Wer macht denn so was?« Er wandte sich zum Gehen. »Danke und auf Wiedersehen, Herr di Angelo.«

»Ciao, Engel«, rief seine Kollegin dem Pathologen zu.

»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte der zurück.

»Leider ja. Melde mich. Du weißt schon.« Denizoglu strahlte über das ganze Gesicht.

Der Pathologe grinste nur. Bein schloss rasch die Tür hinter sich. Er konnte diesen amourösen Frohsinn nicht ertragen. »Ich möchte noch zurück zur Zentralen Spurensicherung. Vielleicht haben die auch was für uns. Und dann sehen wir uns den zweiten Fundort an. Wo war das eigentlich?«

»Am Moltkeplatz.«

Bein fuhr mit seiner Kollegin zum Kriminalkommissariat 43, das wie ihr eigenes KK11 im Gebäude des Polizeipräsidiums untergebracht war.

Oberstein war ebenfalls zurück und führte sie in sein Labor. »Viel haben wir nicht«, leitete er seinen Bericht ein. »Der oder die Täter waren sehr ordentlich. Wir haben Fingerabdrücke von insgesamt sieben Personen, aber alle älter oder von der Frau selbst. Aber eins haben wir doch.« Er sah sie beide leicht von oben herab an.

»Und das wäre?«, fragte Bein genervt.

»Maden. Von Calliphora vomitoria, etwa einen Tag alt. Das ist eine Schmeißfliegenart, die vor allem im Freien und in Kuhställen und ähnlichen Umgebungen vorkommt, ein wenig größer als unsere Stubenfliege.« Oberstein nahm ein Glasröhrchen zur Hand, in dem einige lebende Exemplare herumflogen, und zeigte es ihnen. »Und hier ist die dazugehörige Made vom Bein der Leiche.« Er nahm ein anderes Glas, das ein kleines, verschrumpeltes Würmchen enthielt.

»Das beweist noch nichts, aber es lässt darauf schließen, dass die Leiche zumindest eine Zeit lang im Freien gelegen hat, oder in einem Raum mit offenen Fenstern, in einem ländlichen Gebiet. Eher nicht in der Luxuswohnung der Toten.«

Bein nickte.

Oberstein fuhr fort. »Die Made ist dann mit eingefroren worden und hat sich nicht mehr wesentlich entwickelt. Aber sie ist geschrumpft und hat Flüssigkeit verloren. Ich würde sagen, sie hat mindestens drei bis vier Wochen in der Kälte gelegen. Entsprechend lange muss das Opfer schon tot gewesen sein, plus minus drei, vier Tage. Calliphora ist ein Erstbesiedler, die Leiche muss vor dem Einfrieren noch frisch gewesen sein.«

»Die Tote ist dann vermutlich nicht in ihrer Wohnung ermordet worden, sondern ist dort nur hingebracht worden«, schloss Bein aus seinen Worten. »Der Mord liegt also schon einen Monat zurück.«

»Sie muss doch vermisst worden sein«, warf seine Kollegin ein. »Vier Wochen verschwindet doch niemand einfach so.«

»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie weiterhelfen?«, fragte Oberstein, der sie ansah wie lästige Besucher.

»Melden Sie sich einfach, wenn Sie neue Erkenntnisse haben«, nickte ihm Bein zu. »Vielen Dank fürs Erste.«

»Jetzt aber zum Moltkeplatz«, forderte Bein seine Kollegin auf. »Danach kümmern wir uns um die Vergangenheit der Toten.«

Als sie am Moltkeplatz eintrafen, war auf der Skulpturenwiese der Teufel los. Sonst war der Platz ein eher beschaulicher Ort zwischen Straße, Bahn und Baumbestand, heute war es der belebteste Ort Essens. Drei Kollegen von der Schutzpolizei versuchten vergeblich, den Ort einigermaßen abzuriegeln, ohne Aussicht auf Erfolg.

Von allen Seiten drängten Leute mit ihren Smartphones oder Kameras auf die Grünfläche, Spaziergänger mit Hunden, Jogger und sogar ein Rollstuhlfahrer. Neben einer Marmorstatue stand neben einem in Weiß gekleideten Spurensicherer eine Frau mittleren Alters, die ihrer kleinen Tochter mit beiden Händen die Augen zuhielt.

»Mama, was hat die Frau da?«, fragte das Kind und versuchte, die Hand seiner Mutter von den Augen fortzuzerren.

Die Frau sah sich um, als sie Bein und Denizoglu näherkommen hörte. »Jemand sollte sofort das Ordnungsamt holen!«, rief sie in ihre Richtung. »Schauen Sie sich das doch nur mal an! Das ist doch keine Kunst mehr! Das ist doch Pornographie!«

»Die Frau hat den Fund hier gemeldet«, erklärte der Mann von der Spurensicherung. Bein kannte ihn nur vom Sehen.

»Labia minora stark gespreizt, Vagina erweitert, beides vermutlich postkoital«, sagte der Mann in Weiß zu dem Handy in seiner Hand. Er nahm einen ersten Befund auf.

Bein sah sich die Statue an. Sie erinnerte ihn an die Körperhaltung der Venus von Milo. Allerdings fehlten der Kopf und der linke Arm, und in der Rechten hielt sie ein offenes Buch, dessen Seiten dem fehlenden Kopf zugewandt waren. Die Statue stand mit ihren halbierten Oberschenkeln auf einem Marmorsockel von der gleichen Farbe wie das Kunstwerk selbst.

Beins Blick wanderte von den eher kleinen, halbrunden Brüsten auf die Stelle, die der Spurensicherer gerade beschrieben hatte. In der Tat waren die Geschlechtsteile überdeutlich ausgeprägt und in allen Details dargestellt. Irgendwie sah die Statue tatsächlich benutzt aus. Als ob der Künstler sie sofort nach einem Geschlechtsverkehr dargestellt hätte. Mit geradezu erschreckender Präzision, was die Geschlechtsteile anging. Sogar die Stoppeln der rasierten Schamhaare waren exakt herausgearbeitet worden.

Dann fiel bei ihm der Groschen.

»Das ist gar keine Statue!« flüsterte er, zu Denizoglu gewandt.

Die kratzte sich gerade den hübschen Kopf und schien zu überlegen.

»Flüssigkeitsspuren am rechten Oberschenkel«, notierte der Spurensicherer.

»Das ist unser fehlender Körper,« erklärte die Oberkommissarin. »Aber irgendwie zu Stein erstarrt.«

Der Spurensicherer sah sie an. »Kripo Essen?«

Denizoglu nickte nur.

»Haben wir die Personalien von der Zeugin hier?«, fragte Bein.

»Die habe ich doch ihren Kollegen schon gegeben!«, beklagte sich die Frau. »Kann ich jetzt endlich gehen? Ich kann meiner Tochter doch nicht ewig die Augen zuhalten!«

»Gehen Sie, bitte«, bat Bein sie. »Wir kommen auf Sie zu. Und danke für die Meldung.«

»Und was ist mit dem Ordnungsamt?«, fragte sie. »Ich möchte mich beschweren! Das ist doch keine Kunst!«

»Das ist auch keine Kunst, das war Mord«, erklärte Bein so ruhig er konnte. »Sie haben eine Leiche gefunden, kein obszönes Kunstwerk.«

Die Frau schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Sofort sah das Mädchen, das vielleicht vier Jahre alt war, zu der Frau auf dem Sockel hoch. »Was hat die Frau da, Mami? Hast du das auch?«

Die Frau zerrte das Kind weg und verschwand.

»Hier, klopfen sie ihr damit mal auf den Körper«, forderte der Spurensicherer Denizoglu auf. »Keine Bange, da passiert nichts. Nur bitte auf keinen Fall anfassen.« Er gab ihr eine Art Löffel, und die Oberkommissarin klopfte der Statue damit zaghaft auf den Po. Nichts passierte.

»Fester!«, sagte der Mann in Weiß. »Als ob sie ein Ei aufschlagen würden!«

Denizoglu klopfte fester. Jetzt war ein heller Klang zu hören.

»Das macht kein Körper«, erklärte der Mann. »Das ist oder war zwar eine Frau, das ist auch noch ihr Körper. Er ist aber behandelt worden, vermutlich mit einem Härter ausgespritzt und dann mit einem Steinspray angesprüht, deshalb ist sie so fest und sieht aus wie Marmor. Und ganz kurz vor dem Aushärten hat sie noch einer«, er sah zu der hübschen Oberkommissarin hinüber, »hatte sie noch Verkehr. Vielleicht hat sie sogar noch gelebt. Die Spuren hier« – er zeigte auf den Oberschenkel, an dem sich eine feuchte Schneckenspur herunterzog – »sehen mir aus wie eine Mischung aus Sekret und Sperma. Aber mehr kann ich Ihnen jetzt noch gar nicht sagen, ohne Untersuchung. Die mache aber leider nicht ich. Sie kann jetzt auch weg in die Rechtsmedizin. Da erfahren Sie dann mehr.«

Er winkte den Kollegen von der Schutzpolizei, die ihrerseits einen Leichenwagen heranwinkten, der unter den Straßenbäumen am Rande der Grünfläche gewartet hatte. Bein sah ihn erst jetzt.

Die Reporter und Wissensdurstigen nahmen das zum Anlass, hinter den Polizisten und dem Wagen den Rasen zu stürmen und mit allem, was sie hatten, Fotos zu machen.

Zwei Leute schossen auf Bein und Denizoglu zu. »Sind sie von der Kripo?”, fragte eine junge Frau, die sich ausnahmsweise mal an Bein wendete. »Wer ist das? Die Tote? Wir bringen Sie ganz groß raus, sagen Sie schon!«

Bein und Denizoglu ergriffen die Flucht.

Bei Ablehnung Mord

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