Читать книгу Hausboot Lotte, Kater Emma und ich - Nicola Eisenschink - Страница 5
KAPITEL 2 Veränderung auf ganzer Linie
ОглавлениеIn diesem neuen Leben spielte auch meine Arbeit eine nicht unerhebliche Rolle. Ein halbes Jahr vor meinem Ehe-Aus hatte ich mich in einen ganz anderen Beruf gestürzt. Zuvor war ich freie – und äußerst schlecht bezahlte – Journalistin gewesen. Dieser Job hatte mir immer Spaß gemacht, trotzdem hatte ich jahrelang erfolglos nach einem neuen Berufsfeld gesucht, weil ich in den Medien keine Zukunft mehr für mich sah, die mir ein Auskommen sichern würde. Aber die meisten der angebotenen Stellen sollten mit jüngeren Menschen besetzt werden, so war zumindest mein Eindruck. Irgendwann war ich in der Zeitung über die Anzeige eines Bestattungsinstituts gestolpert, das eine Trauerrednerin suchte, und ich hatte einfach angerufen.
»Was muss man genau als Trauerrednerin machen?«, hatte ich gefragt.
»Natürlich müssen Sie zum einen Reden halten«, sagte mir die Dame am Telefon. »Aber die Arbeit ist sehr vielseitig.«
Das klang gut. Ich wollte mehr wissen.
»Normalerweise treffen Sie sich vor der Trauerfeier mit den Angehörigen, um die Feier und den Inhalt der Rede zu besprechen. Außerdem sind Sie dann auch die, die alles ausführt. Das heißt, Sie gestalten die gesamte Trauerfeier.«
Das hörte sich vielversprechend an. Ein völlig neues Berufsfeld. Ich wusste zwar nicht wirklich, was mich erwarten würde. Aber es klang interessant, ich hatte Lust, das Ganze auszuprobieren. Nach einem Vorstellungsgespräch bot man mir einen Arbeitsvertrag an, den ich unterschrieb, obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ohne entsetzliche Nervosität vor mehr als zwei Menschen hatte sprechen können. Doch mein Gefühl sagte mir, dass dies der richtige Weg sein würde. Ich hatte mich bislang nicht mehr als andere mit den Themen Tod, Abschiednehmen und Beerdigung befasst, aber ich spürte eine positive Kraft, die davon auf mich ausging, und hörte auf diesen inneren Wegweiser.
So machte ich mit über fünfzig Jahren tatsächlich noch einmal etwas Ähnliches wie eine Lehre und lernte lauter Neues. Ich musste die Musik für die Trauerfeier zusammenstellen, Kondolenzlisten ausdrucken, in die sich die Trauergäste vor der Feier eintrugen, musste Särge und Urnen transportieren, für Kerzen und saubere Leuchter sorgen, den Blumenschmuck und die Kapelle dekorieren, Gestecke entgegennehmen und mit den Angehörigen sprechen, um zu sehen, ob ich vor der Trauerfeier noch etwas für sie tun konnte. War eine offene Aufbahrung gewünscht, so sorgte ich dafür, dass der Verstorbene in seinem Sarg gut und würdevoll aussah. Zum ersten Mal im Leben berührte ich einen toten Menschen. Anfangs fiel mir das nicht ganz leicht, ich war scheu, bald schon aber machte diese Berührungsangst im wahrsten Sinne einer Fürsorge und Wärme Platz. Seltsames passierte: Als ich einmal mit einem Kollegen den Sargdeckel hob, um alles für den Abschied der Angehörigen vorzubereiten, sah ich mir den Verstorbenen an und dachte: Da ist doch noch jemand! Es war mir, als wäre die Seele des Verstorbenen noch da. Mein Kollege schien zu merken, was in mir vorging. »Du siehst es also auch«, flüsterte er. Wir sahen es alle: Es war, als würde der Tote noch einmal auf seine Angehörigen warten, um dann friedvoll gehen zu können. Ich war nie esoterisch gewesen, hatte nie an etwas wie die Seele geglaubt. Das änderte sich nun.
Abgesehen von all den Abläufen und Tätigkeiten lernte ich auch lauter neue Begrifflichkeiten: Katafalk oder Bockfalle zum Beispiel – das Gestell, auf dem der Sarg in der Kapelle steht, und das Tuch, das dieses Gestell umhüllt. Und ich lernte tatsächlich das Sprechen vor Menschen. Nach einiger Zeit machte es mir sogar immer mehr Freude. Bald schon konnte ich auch frei sprechen, hatte nur meine Notizen von den Hausbesuchen vor mir liegen. Ich liebte die Besuche bei den Hinterbliebenen und das Gespräch mit ihnen, mochte es, ihnen auf ihren Erinnerungswegen durch das Leben mit dem Verstorbenen zu folgen. Manchmal gelang es mir, ihnen durch eine Nachfrage oder einen eigenen Gedanken zu dem, was sie mir erzählten, ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Dann war ich glücklich. Wenn ich das Gefühl hatte, den Menschen auf ihrem schweren Weg zu helfen, dann war mein Tag gut. Oft war ich abends vollkommen erledigt, mein Kopf quoll über von all dem neu Gelernten. Nach den Arbeitstagen mit all den Eindrücken war ich völlig erschöpft und dennoch außerordentlich zufrieden.
Nachdem ich meinen Umzug bewältigt und alles eingeräumt hatte, stellte ich im Nachhinein noch einmal fest, dass es damals genau richtig gewesen war, auf meinen Bauch zu hören und Trauerrednerin zu werden.
Dann stand die Scheidung an – eine enorme Papierschlacht. Die Forderungen zwischen den Anwälten gingen hin und her, denn wir besaßen ein gemeinsames Haus, in dem mein Mann geblieben war. Ich hatte also Geld zu erwarten aus dem Anteil, den er mir auszahlen musste. Mein erster Gedanke war: Ich investiere es in eine Eigentumswohnung. Ich studierte die Angebote in der Umgebung, wollte gern in dem vertrauten Stadtteil bleiben. »Dreizimmerwohnung mit Terrasse« – das sah doch gut aus. Ich ging zur Besichtigung. »Hier kriegen Sie eine wirklich schöne Wohnung«, sagte der Verkäufer, als er die Tür aufschloss, »sie ist ganz wunderbar geschnitten, top gepflegt und mit der Terrasse haben sie sogar eine Art Mini-Garten.« Und wirklich: Sie war in hervorragendem Zustand, dazu die niedliche Terrasse mit Blick ins Grüne. Ich hätte mir tatsächlich vorstellen können, dort zu leben. Aber der Preis war exorbitant. Was ich für die Wohnung hätte zahlen müssen, hatte nicht einmal unser ganzes Haus gekostet! Die Preise für Wohnungen waren in den letzten Jahren derart drastisch gestiegen, dass das Geld, das ich erwartete, allenfalls für eine Anzahlung gereicht hätte. Den Rest meines Lebens hätte ich den Kredit abstottern müssen. Das wollte ich nicht, denn auch als angestellte Trauerrednerin verdiente ich nicht eben viel. Ich suchte also weiter. Kaufte mir Samstagfrüh die Zeitung mit den Wohnungsanzeigen, studierte sie beim Frühstück und vereinbarte Termine. Ich sah mir alles an, was auch nur irgendwie infrage kam, Wohnungen in teilweise extrem schlechtem Zustand, aber dennoch zu hohen Preisen. Und mit jeder Treppe, die ich hochstieg, mit jeder Tür in eine neue Wohnung, die sich auftat, merkte ich, dass ich diesen Weg nicht gehen konnte und wollte.
Was also dann? Das Geld ausgeben für Klamotten? Reisen? Ein todschickes Auto kaufen? Sparen? All das erschien mir nicht erstrebenswert. Und plötzlich hatte ich Lust auf etwas Neues, fühlte meinen alten Wagemut zurückkehren, der mir schon oft einschneidende Wendungen im Leben beschert hatte. Auch die Ehe war im Grunde ein solches Abenteuer gewesen, denn eigentlich hatte ich niemals heiraten wollen. Doch bei meinem Mann hatte ich das Gefühl gehabt, er sei derjenige, mit dem ich alt werden wollte. Ich mochte seinen abgründigen Humor, seine Affinität zur Sprache, ich liebte es, wenn er Worte erfand, mit ihnen spielte, obwohl er beruflich gar nichts mit Sprache zu tun hatte. Mit ihm hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein. Und so hatte ich ihm schließlich einen Heiratsantrag gemacht. Jahrelang hatte es gut geklappt: Verlässlichkeit, ähnliche Ansichten, dieselben Hobbys, Nähe und gleichzeitig Freiräume – eigentlich schienen wir ein perfektes Paar zu sein. Jetzt war die Ehe gescheitert, dieses Abenteuer zu Ende. Und als ich auch innerlich damit abgeschlossen hatte, überkam mich die Lust auf ein neues. Mein Traum drängte an die Oberfläche.