Читать книгу Hausboot Lotte, Kater Emma und ich - Nicola Eisenschink - Страница 6
KAPITEL 3 Die alte neue Idee
ОглавлениеMit meinem Ehemann war ich regelmäßig gesegelt. Als ich ihn kennenlernte, hatte er schon seit vielen Jahren ein eigenes Segelboot an der Ostsee besessen. Auch ich hatte, kaum dass ich nach Hamburg gezogen war, meinen Segelschein auf der Alster gemacht. War dort mit meiner Freundin Angela gern mit den kleinen Jollen umhergesaust. Doch auf einem größeren Schiff war ich noch nie gesegelt. Mein Mann fuhr fast jedes Wochenende an die Küste auf sein Boot. Ich begleitete ihn, zunächst eher unwillig, weil ich mir nicht vorstellen konnte, all die schönen sommerlichen Wochenenden dort zu verbringen. Bisher hatte ich gern auf meiner Terrasse gesessen, mich mit Freunden zum Radeln getroffen, war ausgegangen … All das sollte ich ein komplettes halbes Jahr, die Segelsaison über, nicht mehr machen können? Doch ganz allmählich wurde ich infiziert, wollte von mir aus immerzu am liebsten auf dem Schiff sein. Nirgendwo sonst konnte ich so gut abschalten und entspannen. Sobald ich das Boot betrat, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, alle Anspannungen und Sorgen, alle Hektik war wie weggeblasen. Ich konnte einfach dasitzen und stundenlang aufs Wasser blicken, schlief an Bord besser als an Land und war quasi ein anderer Mensch: entspannter, fröhlicher, zufriedener.
Im Grunde war das nur logisch, denn ich hatte das Wasser geliebt, solange ich auf der Welt war. Ganz früh schon hatte ich auf die Frage nach meinem Berufswunsch geantwortet: »Ich will Piratin werden!« Als Kind stellte ich mir vor, wie ich als Anführerin von lauter wilden, bärtigen Männern die Meere durchkreuzen würde, mit Augenklappe und Kopftuch, ein Messer quer zwischen den Zähnen. Und wie ich mit Geheul und Geschrei andere Boote entern würde. Ein großes Abenteuer! Das vielleicht auch auf den Urlaub mit meiner Oma Lotte zurückging. Sie hatte mich als Dreijährige mit nach Borkum genommen, wo wir von morgens bis abends am Strand gewesen waren. Ich hatte im warmen Sand gesessen und kleine Sandburgen mit ihr gebaut. Ganz vorsichtig war sie mit mir auch mal ins Meer gegangen. Nur ein paar Schritte, bis zum Knie, damit ich kleines Wesen nicht von der Macht der Nordseewellen umgerissen wurde. Aber einmal war sie sonnenmatt in ihrem Strandkorb eingeschlafen. Als sie erwachte, war ich verschwunden. Panisch suchte sie den Strand nach mir ab und fand mich zu ihrem Entsetzen mitten im Brandungssaum im Meer. Völlig unbekümmert stand ich bis zum Hals im Wasser und suchte nach Seesternen. Die Wellen zupften an meinem Kinderkörper, doch ich hatte meine kleinen Beinchen fest in den Sand gestemmt. Oma Lotte hatte vor Erleichterung beinahe geweint und mich dem mir so geliebten Element entrissen, um mich in Sicherheit zu bringen.
Auch als Jugendliche hatte ich ausschließlich Urlaube am, vor allem aber im Meer gemacht. Ich liebte die Weite, das Geräusch der Wellen, den Duft. Mit meinem Vater war ich oft und weit hinausgeschwommen, wir hatten immer kleine Wettschwimmen veranstaltet. Einmal auf einer kleinen Insel in der Bretagne stand ich stumm vor Begeisterung da und betrachtete die riesigen Wellenberge des vom Sturm aufgewühlten Atlantiks, die an den Strand rollten, vier, fünf Meter hoch. Ich hatte noch nie solche Wellen gesehen, am liebsten wäre ich sofort hineingesprungen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Menschen alle nur am Wasserrand standen und aus sicherer Entfernung das Spektakel beobachteten. Meinen Vater und mich aber zog es an den Meeressaum. Da standen wir, im tosenden Wasser, das uns fast von den Beinen riss, und kreischten vor Wonne.
Ich wusste zwar um die Gefahren des Meeres, doch sobald das Wasser auf meine Haut brandete, überkam mich ein wohliges Gefühl, sodass ich manchmal wagemutig selbst bei starkem Wellengang badete. Ich war als Kind und Jugendliche in jeden Bach, in jeden Teich gesprungen, hatte früh schwimmen gelernt und mich gelegentlich gewundert, keine Schwimmhäute bekommen zu haben. Selbst das Schulschwimmen im Schwimmbad, das alle anderen hassten, mochte ich. Nicht so sehr das Kraulen oder Tauchen, die Sprünge vom Sprungbrett und die Wettbewerbe. Viel lieber zog ich einfach im warmen Wasser meine Bahnen, das hatte für mich etwas Beruhigendes. Im Wasser zu sein oder in seiner Nähe, das kam für mich dem Paradies ganz nahe.
Das regelmäßige Segeln mit meinem Mann nährte diese Wasserleidenschaft. Wenn im Herbst das Boot an Land gezogen wurde, stand ich mit Tränen in den Augen da, weil nun die lange segellose Zeit begann. Im Frühjahr, wenn wir das Boot wieder ins Wasser ließen, hatte ich ebenfalls Tränen in den Augen, diesmal vor Freude. Und wenn wir dann das erste Mal auf der Trave gen Ostsee segelten, war ich der glücklichste Mensch. Noch waren die Bäume kahl, nur ein feiner grüner Schimmer umhüllte sie. Ich freute mich unendlich, die vertraute Landschaft wiederzusehen, den Wind in den Haaren zu spüren und das Gluckern der Wellen am Rumpf zu hören. Oft sagte ich zu meinem Mann, wenn ich übers Meer schaute: »Guck mal, dieses Licht, so habe ich das noch nie gesehen!« Er quittierte das mit einem Schmunzeln, denn er erfreute sich an meiner Wasserbegeisterung. Ich liebte es, stundenlang die wechselnden Lichtstimmungen über dem Wasser zu beobachten, und konnte mich daran nicht sattsehen. Es hatte etwas Meditatives für mich, mitten auf dem Wasser zu sein, umgeben vom Meer, das immer unterschiedlich aussah. Mal überraschte es mich mit einem tiefen Blau, dann wieder war es grau, ins Grünliche spielend. An stürmischen Tagen krönten schneeweiße Gischtkämme das aufgewühlte, grüne Wasser. Hier war ich glücklich, hier war ich ganz bei mir.
An Bord waren mein Mann und ich ein perfektes Team. Er hatte mir viel über das Segeln beigebracht. Mit der Zeit war ich sicherer und irgendwann eine richtig gute Seglerin geworden, die so ziemlich allen Stürmen gewachsen war. Nur einmal gerieten wir in schwere See. Wir wollten uns nach unserem Segelurlaub in Dänemark wieder auf den Heimweg machen, hatten von Møn aus viele Seemeilen über das offene Wasser vor uns, als uns auf halber Strecke ein Sturm erwischte.
»Lass uns in den nächsten Hafen fahren«, schrie mein Mann gegen den Wind.
»Ja, auf jeden Fall, das wird sonst zu heftig«, brüllte ich zurück. Doch der kleine Motor schaffte es nicht, das Schiff gegen die Strömung in den Hafen zu bringen.
»Wir fahren rüber auf den Darß«, rief mein Mann. »Auf dem Kurs sind Wind und Wellen mit uns, das schaffen wir!«
Mit nur einem winzigen Vorsegel schoss unser Boot durch die meterhohen Wellen, Regen vernebelte die Sicht. Mein Mann hatte die Pinne fest in der Hand, ich klammerte mich am Boot fest, um nicht über Bord zu gehen. Quasi ohne Worte wusste jeder, was zu tun war, wir konnten uns blind aufeinander verlassen. Wir sausten mit unfassbarer Geschwindigkeit durch die Wellen. Da sah ich vor uns plötzlich das Verkehrstrennungsgebiet – sozusagen die Autobahn auf dem Meer, die Fähren und Containerschiffe nutzen, Sportboote dürfen diese Trennungsgebiete nur auf kürzestem Weg kreuzen und die Berufsschifffahrt nicht behindern.
»Achtung«, schrie ich gegen den tosenden Lärm, »da hinten kommen große Schiffe!«
»Ich kann den Kurs nicht ändern, dann kentern wir«, rief mein Mann.
Wir schossen immer weiter auf die schwimmenden Riesen zu, ohne dass wir irgendetwas tun konnten – und sie stoppten.
»Wir können durch«, schrie ich, »die Frachter halten an.«
Den Kapitänen war ganz offensichtlich klar, dass sie uns hätten retten müssen, wenn wir ausgewichen – und gekentert – wären. Aber damit war die Gefahr noch nicht überstanden. Die rauschende Fahrt dauerte Stunden. Irgendwann konnten wir sogar den Darß sehen, doch wir gelangten nicht hin. Unser Motor war der starken Strömung durch den Südweststurm in der Bucht nicht gewachsen. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Seenotrettung zu Hilfe zu rufen. Mein Mann griff zum Funkgerät:
»Moin, wir kommen nicht in den Hafen, könnt ihr uns holen?« Er klang ganz routiniert, er vertraute offenbar darauf, dass alles glattgehen würde. Und tatsächlich: Bald schon brauste eines der PS-starken und wendigen Boote auf uns zu, nahm uns an die Leine und schleppte uns in den Hafen. Wir waren gerettet!
Ansonsten war das Segeln aber meistens weniger nervenaufreibend und Wind und Wellen brachten uns meist dorthin, wo wir hinwollten. Und da mein Mann und ich uns auf dem Schiff immer am wohlsten fühlten, war auf dem Segelboot auch die Idee entstanden, uns ein Hausboot zu suchen. Wir wohnten damals noch in einem kleinen Häuschen und zahlten einen Haufen Miete. So kam uns der Gedanke, dass wir stattdessen etwas Eigenes erwerben könnten. Ich hatte angeregt, nach einem Hausboot Ausschau zu halten. Doch auf der Suche nach einem Schiff, einem Liegeplatz, hatte sich die Idee zerschlagen. Damals gab es die ersten Plätze im Eilbekkanal, ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben. Wir hatten uns die Bedingungen angesehen, aber nur den Kopf geschüttelt. Offensichtlich sollten dort höchst moderne Ponton-Hausboote hingelegt werden. So etwas wollten wir nicht – und hätten es uns auch nicht leisten können. Wir hatten von einem richtigen Schiff geträumt, das wir entweder selbst ausbauen könnten oder das – noch besser – schon fertig wäre. Aber wir fanden nicht das richtige. Und so waren wir letztlich nicht auf dem Wasser gelandet, sondern in einem ganz normalen Einfamilienhaus an Land.
All das war viele Jahre her. Wir hatten die Hausbootidee ad acta gelegt. Aber jetzt nach der Trennung kam sie mir wieder in den Sinn. Der alte Traum kam wieder an die Oberfläche. Offenbar hatte er nur geschlafen und wachte nun wieder auf. Und er erschien mir noch reizvoller als damals: jeden Tag übers Wasser blicken zu können, nicht nur wie früher, am Wochenende auf dem Segelboot. Keine Nachbarn mehr zu haben, sondern frei und unbeobachtet zu leben. Ein eigenes Haus zu besitzen, das nur mir gehörte, eines, das schwankte, das stellte ich mir unfassbar schön vor. Ein Hausboot schien mir der Schlüssel, um mich aus meiner Krise zu führen, eine Möglichkeit, meinem Leben einen neuen und guten Sinn zu geben. Und so malte ich mir das Leben auf dem Wasser in den allerschönsten Farben aus. In meiner Vorstellung war es immer Sommer.
Doch je länger ich mich mit damit beschäftigte, desto mehr Bedenken mischten sich auch in die Träumereien. Ich wusste, was das Leben in einer Wohnung bedeutete, aber wusste ich auch, was mich wirklich erwarten würde, wenn ich ganz aufs Wasser zöge? Ich stellte mir vor, dass ich einsam sein würde. Ich hatte Sorge, ob ich einem eigenen Hausboot und all den Herausforderungen, die das mit sich brächte, auch gewachsen sein würde. Plötzlich fand ich meinen Wagemut übertrieben, wusste nicht mehr, ob ich diesen Weg wirklich einschlagen wollte. Ich zog meine Freunde und meine Familie zurate, diskutierte mit ihnen hin und her, ob ein Hausboot wohl das Richtige für mich wäre, ein neues Lebensziel. Edith, stets auf Sicherheit bedacht, sagte: »Kauf dir lieber eine Eigentumswohnung! Da kannst du bis ans Lebensende wohnen bleiben. Und wenn du doch was anderes willst, verkaufst du sie einfach wieder. Ein Schiff wirst du sicher nicht so schnell wieder los!«
Alex meinte nur trocken: »Wo soll das Ding denn liegen? Willst du etwa von mir wegziehen? Dann können wir uns ja gar nicht mehr so häufig sehen.«
Meine Familie hingegen und die meisten meiner Freunde rieten mir, ich solle meinen Traum verwirklichen: »Das ist doch eine tolle Möglichkeit, dir dein eigenes Leben aufzubauen. Na los, sei mutig. Die alte Nico ist doch wieder da, die schafft das schon!«