Читать книгу Der Klarträumer - Nicolai Richter - Страница 11
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„Jan Zehnder wurde vor drei Jahren mit einem Youtube-Video mehr oder weniger über Nacht zu einer der schillerndsten Figuren in der Vlogger-Szene. Allein im deutschsprachigen Raum hat er bereits über fünf Millionen Follower. In diesen Videos zeigt er uns, wie jeder von uns mit wenigen Tricks, etwas Disziplin und Geduld das Klarträumen erlernen kann. Willkommen in Lillis Late Night Talk mit Jan Zehnder!“
Das Saalpublikum applaudierte, Lilli Astaire setzte sich neben Jan Zehnder auf das hellbraune Sofa.
„Jan Zehnder. Erklären Sie unseren Zuschauern, was ist der Unterschied zwischen einem normalen Traum und einem Klartraum?“
„In einem normalen Traum fühlt sich ein Traum real an. Ich werde beispielsweise von jemandem verfolgt, ich zweifle nicht daran, dass ich tatsächlich verfolgt werde. Oder ich stürze von einem Berg. Ich wache schweissgebadet auf, erst jetzt merke ich, es war nur ein Traum.“
„Und ein Klartraum…“
„ist ein Traum, in dem der Träumende weiss, dass es nur ein Traum ist. Es gibt keinen Grund sich vor dem Verfolger zu fürchten. Und wenn er von einem Berg stürzt, geniesst er es und fliegt von dort aus beispielsweise ins Universum.“
„Das heisst, ein Klarträumer weiss nicht nur, dass er träumt, sondern er kann seine Träume auch nach Belieben steuern?“
„Richtig. Um das geht es eigentlich. Klarträumer träumen das, was sie träumen wollen, das, was ihnen Spass macht.“
„Und was macht Ihnen Spass, Jan Zehnder?“
„Die Lieblingsspielwiesen in der Klartraum-Community sind Fliegen, berühmte Persönlichkeiten treffen und Fun-Sportarten.“
„Wow! Sie können sich also in einem Klartraum treffen, mit wem Sie wollen. Können Sie mit dieser Person auch machen, was Sie wollen?“
„Ja natürlich.“
Jan Zehnder fragte sich, ob Lilli Astaire gerade mit ihm flirtete, er konnte ihre Blicke nicht so recht deuten. Gefallen würde sie ihm schon und wegen seiner Frau musste er sich keine Gedanken machen, Annette war zurzeit im tiefsten Urwald in Westafrika unterwegs, um für die BBC eine Reportage über die letzten Berggorillas zu drehen. Überhaupt hatten sie sich in den letzten Jahren immer mehr auseinandergelebt. Während er kontinuierlich seine Firma Lucidity.ch aufbaute und von einem Termin zum anderen hetzte, war Annette auf der ganzen Welt als Tierschützerin und Retterin unterwegs.
„Erzählen Sie uns, wie Sie zum Klarträumer wurden. Braucht es dafür eine besondere Begabung oder kann das jeder von uns lernen?“
„Dass ich jetzt hier in Ihrer Sendung sitze, die Kameras, das Licht, das Publikum, das alles könnte auch nur ein Traum sein, nicht wahr?“
„Einverstanden.“
„Wie kann ich nun überprüfen, ob ich mich in einem Traum oder in der Wirklichkeit aufhalte?“
„Indem ich mich kneife?“
„Auch im Traum tut das Kneifen weh und wir wachen nicht davon auf. Das bringt also nichts. Aber es gibt Dinge, die nur im Traum und niemals in der Wirklichkeit möglich sind. Fliegen zum Beispiel, oder im Wasser atmen.“
Jan Zehnder stand auf und sprang in die Luft. Dann hielt er sich für ein paar Sekunden die Nase zu und zählte die Finger seiner rechten Hand.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf.“
Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und zählte wieder die Finger.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf. Nun kann ich mit 100prozentiger Sicherheit sagen, dass ich mich nicht in einem Traum befinde. Dieses Studio, die Zuschauer, die Kameras, die Kabel auf dem Boden, all das ist real.“
„Erklären Sie uns, was Sie jetzt genau gemacht haben.“
„Wir nennen diese Rituale, die ich soeben durchgeführt habe, Reality Checks, kurz RC. Zuerst habe ich versucht zu fliegen. Hätte ich mich in einem Traum befunden, wäre es mir gelungen, über dem Boden zu schweben. Sie haben alle gesehen, dass mir das nicht gelungen ist. Ein RC, der leider nicht sehr zuverlässig ist. Danach habe ich mit geschlossenem Mund und zugehaltener Nase versucht zu atmen. Der so genannte Nasen-RC, eine ziemlich sichere Methode. Im Traum können wir durch die geschlossene Nase atmen, auch im Wasser können wir atmen, da wir uns unsere Nase ja nicht wirklich zuhalten, sondern im Bett liegen und mühelos atmen können. Der letzte RC ist der Finger-RC. Wenn wir unsere Hand im Traum anschauen, haben wir nie fünf Finger, bei mir sind es meistens sieben, manchmal auch nur drei. Unser Traumbewusstsein ist ein miserabler Mathematiker.“
„Sie haben zweimal die Finger gezählt und dazwischen sind Sie sich mit der Hand durch die Haare gefahren, mit welcher Absicht?“
„Nun, es könnte mal passieren, dass ich zufälligerweise tatsächlich fünf Finger zähle, daher machen wir diesen Finger-RC zur Sicherheit sogar dreimal. Wichtig ist, dass man dazwischen woanders hinschaut. Dazwischen lässt sich geschickt der Haar-RC einbauen. Im Traum haben wir nie die gleichen Haare wie in der Wirklichkeit. Um das zu überprüfen, ist es sehr nützlich in einen Spiegel zu schauen.“
„Wie komme ich im Traum zu einem Spiegel?“
„Ganz einfach. Sie sagen im Traum laut: Ich will einen Spiegel! Am besten auch dreimal und wirklich laut. Dann greifen Sie in Ihre Hosentasche und werden dort einen Spiegel finden. Manchmal erscheint der Spiegel auch einfach so oder man sucht im Traum ein Badezimmer. Man kann auch die nächste Tür suchen und laut sagen: Hinter dieser Tür ist ein Spiegel. Dann öffnet man die Tür und findet einen Spiegel. Man kann alles in Träumen finden, man muss es sich nur wünschen.“
„Wenn ich also meine Hand im Traum anschaue und sehe, dass ich sieben Finger habe, weiss ich, dass ich träume.“
„Genau.“
„Nur, wie bringe ich mich dazu, im Traum meine Hand anzuschauen und meine Finger zu zählen?“
„Indem Sie es tagsüber auch tun. Wenn Sie sich fünfmal am Tag ernsthaft fragen, ob Sie sich in einem Traum befinden und einen RC durchführen, werden Sie sich diese Frage mit der Zeit auch im Traum stellen.“
„Nun, vorausgesetzt ich mache das jeden Tag, wie lange dauert es, bis ich diese Reality Checks dann auch im Traum durchführe?“
„Es gibt Menschen, die haben gleich in der ersten Nacht einen Klartraum, bei anderen dauert es Monate.“
„Und dann? Was passiert dann?“
„Sobald man sichergestellt hat, dass man sich in einem Traum befindet, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Entweder man lässt den Traum einfach weiterlaufen oder man gestaltet den Traum um. Ich rate meinen Kursteilnehmern immer, als Erstes mal einfach wegzufliegen. Es ist ein so unbeschreiblich schönes Gefühl zu fliegen, davon kann man nicht genug bekommen.“
Lilli Astaire stand auf und wendete sich dem Saalpublikum zu, erst jetzt fiel Zehnder ihre zierliche Figur auf, sie war in Wirklichkeit kleiner und schmaler, als sie auf dem Bildschirm wirkte. An diesem Abend trug sie ein atemberaubendes rotes Kleid. Alles passte perfekt zusammen, die Schuhe, der Lippenstift, die Ohrenringe, die weisse Schleife im Dekolleté.
„Nun möchten wir Ihnen die Möglichkeit geben, Jan Zehnder Ihre Fragen zu stellen. Wer hat eine Frage?“
In der dritten Reihe stand ein junger Mann mit Dreitagebart und tätowierten Armen auf.
„Kann man in einem Klartraum auch lernen?“
Jan Zehnder stand auf und ging ein paar Schritte auf den Mann zu.
„Alles, was Sie in der Wirklichkeit gelernt haben, können Sie im Klartraum repetieren oder üben. Ein Schauspieler beispielsweise kann seine Texte wiederholen. Ein Tennisspieler kann den Aufschlag trainieren und so weiter. Aber natürlich können Sie keine Wirtschaftsbücher lesen und Sie können auch keinen Salto üben, wenn Sie in der Wirklichkeit noch nie einen Salto gemacht haben.“
Eine junge Frau meldete sich.
„Kann man Sachen im Traum machen, die man zuvor nur im Fernsehen gesehen hat? Beispielsweise Skifahren oder Motorradfahren?“
„Alles“, räusperte sich Zehnder, „alles, was wir irgendwo mal gesehen haben, hat unser Bewusstsein gespeichert. Sie können also auch Ski fahren. Wenn Sie aber noch nie in der Wirklichkeit Ski gefahren sind, wissen Sie auch nicht, wie es sich anfühlt. Mit anderen Worten, Sie fahren dann zwar Ski in ihrem Traum, aber das Gefühl in den Füssen und Beinen muss sich unser Traumbewusstsein dann irgendwie zusammenreimen.“
„Eine allerletzte Frage noch, ja bitte.“
Ein älterer Herr hatte sich erhoben.
„Ich habe zwei Fragen. Ich habe mal gehört, dass Blinde im Traum sehen können, stimmt da?“, Zehnder nickte, „Und meine zweite Frage. Ich spiele Schach, sie sagten schon, dass man alles Erlernte in einem Klartraum trainieren kann. Würde das heissen, dass ich am nächsten Tag dann besser Schach spiele, wenn ich regelmässig im Traum trainiere?“
„Ihr Schachspiel wird auf jeden Fall besser, wenn sie es im Traum trainieren“, antwortete Zehnder „allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass sie sich die Spielsituation durch den Klartraum hindurch merken können. Klarträume eigenen sich eher für kreative und sinnliche Tätigkeiten.“
Obschon die Sendezeit schon um einige Minuten überzogen war, gewährte Lilli Astaire einem schlaksigen Teenager eine letzte Frage.
„Herr Zehnder. Glauben Sie an Verschwörungstheorien?“
„Äh, nein. Warum? Sollte ich?“, antwortete Zehnder belustigt.
„Heute werden wir ja überall überwacht. Überall sind Kameras und CIA-Agenten, angeblich, um uns vor Terroristen zu schützen. Ich glaube aber, das ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit geht es den Mächtigen hinter den Regierungen und grossen Konzernen doch nur darum, dass sie uns kontrollieren können. Durch das Internet und die Social-Medias kontrollieren sie ja auch schon unser Privatleben. Das Einzige, was Sie noch nicht überwachen können, sind unsere Träume. Wenn wir also bald unsere Träume kontrollieren können, ist es da nicht denkbar, dass die Mächtigen bald auch unsere Träume überwachen und kontrollieren wollen?“
„Ich denke, da können Sie beruhigt sein. Mir ist keine Technik bekannt, mit der man sich in die Träume anderer hineinschleusen kann.“
Nach der Sendung wurde Lilli Astaire von einem bekannten Fussballer abgeholt. Aber Jan Zehnder wollte inzwischen sowieso so schnell wie möglich nachhause. Die Frage des Teenagers hatte ihm auf die Stimmung geschlagen. Die Verbindung zu Verschwörungstheorien in einer Live-Sendung war nun wirklich keine gute Werbung für seine Firma.