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Berlin, elf Monate vor der Wahrheit
Gegen Null Uhr 30 verliess Zehnder das Fernsehstudio. Beim Araber um die Ecke trank er noch einen stark gesüssten Tee und schaute sich mit ein paar jungen Männern eine Talkshow auf Al Shazeera an, in der allem Anschein nach darüber diskutiert wurde, ob es schädlich für die Eierstöcke wäre, wenn Frauen Auto fahren dürften.
Gegen zwei Uhr war er dann in seinem Luxusappartement in Steglitz, schenkte sich einen Bombay Tonic ein und spülte seinen Kalifornischen Cocktail runter. 300 mg Efexor und 30 mg Mitrazapin. Ein Serotoninblocker, der ihm tagsüber die Extraportion Antrieb und Optimismus verschaffte, die er für seine Ideen und Auftritte vor grossem Publikum brauchte, und ein Sedativum, das ihm eine traumreiche Nacht bescherte. Als die Wirkung einsetzte, warf er sich ins Bett. Neben seinem Kopfkissen lagen die beiden Katzen, die seine Frau bei einer Razzia in der Ukraine aus einem Kellerverliess gerettet hatte, bei der 137 minderjährige Sexsklavinnen befreit wurden.
Durch den Gin und die Katzen breitete sich eine wohlige Wärme in seinem Körper aus. Die ideale Voraussetzung um mit der WILD-Technik in einen luziden Traum einzusteigen.
Zehnder schloss die Augen und konzentrierte sich auf den tibetischen Buchstaben A. Er atmete ruhig und hielt sich still. Nach ein paar Minuten verspürte er den Drang, sich zu bewegen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sein Körper in die Schlafparalyse übergegangen war. Er spürte, wie sich zuerst sein Brustkörper und dann nach und nach der ganze Körper immer schwerer anfühlten. Dann setzten die hypnagogen Bilder ein. Zuerst sah er verzerrte, blitzartige Figuren umherschwirren, die sich wie Wolkengebilde langsam verformten. Dabei konzentrierte er sich weiterhin auf den Buchstaben A, der wie eine Kulisse gross hinter dem Geschehen stand. Als Nächstes stellte er sich eine alpine Berglandschaft vor. Die Bilder tauchten für den Bruchteil einer Sekunde auf und verschwanden wieder. Er musste sich weiterhin auf den Buchstaben im Hintergrund konzentrieren und durfte keinesfalls den Bildern folgen, sonst könnte er jederzeit aus dem beginnenden Traumgeschehen wieder hinausfallen. So versuchte er möglichst unbeteiligt abzuwarten, wie sich die hypnagogen Bilder langsam zu einem Film zusammenbauten. Inzwischen waren gefühlte 20 Minuten vergangen. Von seinem Körper spürte er nur noch den Atem, der langsam über seine Nasenwände strich. Nun kam der schwierigste Teil, er musste sich mit seinem Traumkörper von seinem im Bett liegenden Körper trennen.
Dazu stellte er sich vor, wie zuerst seine Hände und dann seine Arme ein paar Zentimeter über dem Bett schwebten. Dabei versuchte er, die Fingerkuppeln zu spüren, wie sie sich immer ein bisschen höher in die Luft streckten. So gelang es ihm nach und nach seinen ganzen Traumkörper zu lösen, bis er schliesslich etwa 20 Zentimeter über dem Bett schwebte. Dann streckte er in seiner Traumgestalt langsam die Arme aus und flog mit leichten Schwimmbewegungen zur Zimmerdecke hoch. Oben drehte er sich um seine eigene Achse und konnte nun auf seinen schlafenden Körper im Bett neben den beiden Katzen sehen.
„Willy, Sissi! Kommt hinauf zu mir!“, rief er hinunter.
Die beiden Katzen streckten zuerst gähnend alle Viere von sich und schwebten dann mit paddelnden Bewegungen zu ihm nach oben an die Decke. Sissi nahm an Fahrt an und schwang sich als Erste durch die Decke, Willy hinterher. Zehnder folgte ihnen, über die Skyline von Berlin, hinauf in den Himmel und immer weiter hinauf, bis sie durch eine wunderschöne Sternenlandschaft flogen. Sie zogen an Planeten mit Pflanzen und Tieren vorbei, an leuchtenden Sonnen und Monden. Zehnder drehte sich auf den Rücken, um in das unendliche Sternenmeer des Universums zu schauen, während sich seine beiden Katzen immer weiter von ihm entfernten.
Dann verspürte er den Drang nach etwas mehr Unterhaltung. Er streckte die Arme aus und flog wie Superman im Sturzflug auf die Erde zu. Als er in die Atmosphäre drang, zielte er auf die Stadt New York und raste zwischen den Wolkenkratzern durch die Metropole.
Plötzlich hörte er aus weiter Entfernung ein Klingelgeräusch.
Verdammt noch mal, wer ruft mich um diese späte Zeit noch an!
Er fühlte, wie sich sein Klartraum langsam auflöste, und als er die Augen öffnete, lag er wieder neben seinen Katzen im Bett. Inzwischen war es drei Uhr morgens.
Es war seine Frau, die ihn über Skype anrief.
„Mein Gott Annette, es ist mitten in der Nacht!“
„Ja ich weiss, entschuldige, hab ich dich gestört? Warum hast du denn noch den Computer an?“
Annette sass in ihrem Hotelzimmer in Nema und stocherte in einem Salat herum. Sie trug das halblange braune Haar offen und hatte sich bereits abgeschminkt.
„Ich bin todmüde. Wie spät ist es bei dir?“
„Ein Uhr. Hier ist es so heiss, es ist unmöglich zu schlafen. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du morgen, also heute, den Termin beim Tierarzt hast.“
„Beim Tierarzt?“
„Ja. Bei Dr. Moser in Zehlendorf. Um 15 Uhr. Sie müssen geimpft werden und sie soll sich das eine Ohr von Willy mal anschauen.“
„Ja mach ich. Ist das alles?“
„Ja, nimm die Impfausweise mit.“
„Wo sind die?“
„Die müssten in der zweiten Schublade in der Kommode im Wohnzimmer sein.“
„Ok, ich schau mal schnell.“
Er durchsuchte die Schublade, die vollgestopft war mit Dokumenten und Ausweisen von allen möglichen Tieren, die Annette in ihrem Freundeskreis untergebracht hatte.
„Ich finde sie nicht.“
„Egal. Geh auf dem Desktop in den Ordner von der Wohnung.“
„Wie heisst der Ordner?“, fragte Zehnder.
„Liegenschaft Steglitz.“
„Ok, mach ich morgen. Ist noch was?“, er wollte sich möglichst schnell wieder hinlegen.
„Ja, ich habe in den Ordner Finanzen noch ein paar Rechnungen gelegt. Ein paar Sachen, die ich für das Haus am Wannsee bestellt habe, kannst du die schon mal bezahlen, damit sie geliefert werden?“
„Ja mach ich.“
„Ach ja. Ich habe gestern deinen Auftritt gesehen.“
„Was? In Afrika?“
„Na im Internet natürlich. Meine Kollegen wollten dich mal sehen. Einer hat erzählt, dass es hier auch Stämme im Urwald gibt, die so eine Art klarträumen.“
„Interessant. Ich will alles darüber wissen. Machst du das für mich?“, fragte Zehnder.
„Aber sicher Schatz. Und noch was. Dieser Freak aus dem Saalpublikum…“
„Der mit den Verschwörungstheorien?“
„Ja der!“, sie lachten beide.
„Der hat dich etwas aus dem Konzept gebracht, zumindest sah es so aus.“
„Kann sein. Der Typ war total schräg.“
„Du siehst müde aus. Ruh dich aus und übernimm dich nicht. In drei Wochen bin ich wieder zuhause. - Okay, ich lass dich jetzt schlafen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Liebling.“
Zehnder legte sich wieder ins Bett.