Читать книгу Der Klarträumer - Nicolai Richter - Страница 16
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Potsdam Babelsberg, drei Tage später
Die Aufnahmen für seinen nächsten Vlog verliefen voller Pannen und Versprecher. Als sie um vier Uhr nachmittags immer noch nicht fertig waren, wurde die Stimmung hektisch und gereizt.
Zehnder musste einen grässlichen Hangover überspielen. Und er hätte nicht mehr sagen können, was er in der letzten Nacht alles getrunken hat, in welchen Lokalen er gewesen ist und wie er in diesem Zustand mit seinem Jaguar zu seiner Jacht gefahren ist. In der er dann gerade mal drei Stunden geschlafen hat, bevor er noch halb betrunken mit dem Taxi nach Babelsberg fuhr. Aber es lag nicht nur an ihm. Sein Geschäftspartner Kevin Treiber war auch mies drauf, aber aus einem anderen Grund.
Das Management wollte ihn in den Vlogs nun überhaupt nicht mehr auftreten lassen, da die Shitstorms in den Foren trotz vorgenommenen Veränderungen nicht nachgelassen hatten. Seine Aufgabe bestand bis anhin darin, die verschiedenen Traumfiguren in den Klarträumen von Zehnder nachzuspielen. Leider hatte sich bei Treiber im letzten Jahr dabei eine Attitüde eingeschlichen, die besonders bei den Jugendlichen überhaupt nicht gut ankam, da man ihm beim Spielen seine Selbstverliebtheit deutlich anmerkte.
Vor ihrer gemeinsamen Karriere war er mal ein ziemlich guter Schauspieler und kurz davor, auf den grossen Bühnen durchzustarten. Doch der plötzliche Erfolg mit Lucidity.ch und vor allem das viele Geld würgten seine Schauspielkarriere ab. Und so machten andere an seiner Stelle die Karriere. Dass er nun auch in den Vlogs von Lucidity.ch immer mehr zur Randfigur wurde, schlug gewaltig auf sein Selbstwertgefühl. Er fing an zu trinken und heulte sich bei den osteuropäischen Nutten in Berlins Luxusbordellen aus. Zehnder gegenüber wurde er immer gehässiger, weil der nun mal bei den Kids durch seine natürliche Coolness und seine unverschämten und politisch unkorrekten Sprüche sehr beliebt war.
Sascha, der Maskenbildner, wischte und puderte an Zehnders Gesicht das Makeup zurecht, um die Augenschatten noch etwas besser aufzuhellen.
„Mach mal vorwärts Dicker. Wir müssen mal fertig werden.“, nervte sich Salome Knauss, seine Regisseurin, eine hagere Frau um die 50 mit schwarz gefärbten Haaren, die sich um das Rauchverbot toupierte und eine Marlboro rot nach der anderen paffte.“
„Wenn ihr mich hetzt, dauert es noch länger.“, zischte Sascha zickig zurück.
„Ich fand die Aufnahmen sieben und neun gar nicht so schlecht. Können wir nicht einfach aufhören?“, Zehnders Stimmung hatte inzwischen ihren Tiefpunkt erreicht.
„Die waren ganz okay, aber du hast wesentlich mehr drauf.“, bemerkte Kevin trocken, „Reiss dich mal ein bisschen zusammen. Ein Schauspieler muss auch gut sein, wenn er sich mal nicht so prickelnd fühlt. Sonst könnte das ja jeder. Aber mich fragt ja keiner.“
Am liebsten hätte Zehnder Kevin in diesem Augenblick aus dem Studio gejagt, aber eine solche Blamage vor der Crew hätte beiden geschadet. Also riss er sich zusammen und stellte sich wieder vor die Kamera, die ihn von oben in einer Halbtotalen filmte.
„Hallo liebe Freunde, WILLkommen auf meinem Video. Ihr seid die ERSTEN, die auf meinem Video etwas vom Mindsurfing erfahren werden. WAS Mindsurfing IST, werde ich euch jetzt gerne auf diesem Video mitteilen.“
Zehnder kneift das rechte Auge zu und versucht mit seiner Mimik einen jungen Mann mit Hauptschulabschluss darzustellen, der versucht, bei seinen Zuschauern krass intellektuell rüberzukommen, aber durch seine Überbetonungen und die bemühte Wortwahl sofort auffliegt.
„Und zwar mache ich mal eine kleine Einführung. Wie man das Ganze machen kann und WOZU man das machen kann. Ich mache es, weil es die KRASSESTE Sache in meinem Leben ist, die ich je erfahren habe. Es ist wirklich das UNGLAUBLICHSTE das … UNBESCHREIBLICHSTE, was in eurem Leben passieren kann.“
„Jan, was soll der Scheiss!“, Salome Knauss löschte hektisch ihre Zigarette, „Wir sind hier nicht in der Comedy Show auf Pro 7.“
„Ha, ha! Du spielst Orkhan besser als dich selber.“
Die Bewunderung von Kevin Treiber war echt. In ihren ersten Videos hatten sie viel rumgeblödelt. Und Zehnders Parodien waren immer noch ein Renner auf Youtube.
„Ja dann mach doch den ganzen Vlog als Orkhan, Hauptsache wir werden mal fertig.“, Salome Knauss meinte es ernst und so schlecht war die Idee wirklich nicht.
„Ja, mach das!“, unterstützte sie Treiber.
„Okay, ich versuch es. Was war schon wieder das zentrale Thema für diesen Vlog?“
„Schlaflähmung.“, grinste Salome Knauss.
„Was?“
„Schlaflähmung! Dein Horrortrip in Singapur.“ Treiber strahlte bis in die letzte Zahnreihe.
„Da waren aber noch ein paar andere Sachen mit im Spiel.“
„Kommt nicht in Frage. Drogen können wir überhaupt nicht gebrauchen.“, entgegnete Salome Knauss entschieden.
„Dann lass sie weg und…“
„Ich habs“, wurde Treiber von der Knauss unterbrochen, „erwähne die Drogen, aber ersetze sie durch einen Platzhalter. Anstatt LSD sagt du zum Beispiel…“
„Kamillentee.“
„Kamillentee ist gut. Vielleicht ein bisschen zu offensichtlich, aber gut.“ Salome Knauss schaute sich inzwischen Orkans Vlog auf Ihrem iPad an. Und trag ein schwarzes T-Shirt. Den Hintergrund machen wir weiss.“
Nach einer kurzen Pause stellte sich Zehnder vor die Kamera. Er wusste, es musste gleich beim ersten Mal klappen, sonst war die Luft raus.
„Liebe Freunde. Ich muss UNBEDINGT das KRASSESTE, was ich je erlebt habe mit euch mitteilen. Vielleicht liegt es daran, weil ich am Abend vorher so viel Kamillentee getrunken habe … Was ist passiert. In dieser Nacht hatte ich einen SUPER … einen SUPER MEGAgeilen Klartraum. Ich sag euch jetzt nicht, WER ich da getroffen habe, und WAS wir da gemacht haben. Aber stellt euch einfach vor, ihr macht das, was ihr schon IMMER machen wolltet und legt noch einen drauf. Etwa SO GEIL war mein Traum, welchen ich da hatte. Und DANN, auf einmal war sie weg. Also die Sache da. Die ich getroffen hatte. Einfach weg. Und DA ist mir mein Fehler passiert. Und deshalb will ich DIESE SACHE sagen. Damit ihr nicht den GLEICHEN BLÖDEN Fehler macht. Wenn der Traum weg ist, oder einfach nicht mehr so toll, wie ihr eure Vorstellung habt, dann dürft ihr auf KEINESFALLS euch wecken. Weil, WENN ihr das macht … Dann kann euch passieren, was wir die sogenannte SCHLAFLÄHMUNG nennen. Ich fand den Traum so BLÖD, so … UNbefriedigend, dass ich mich wecken wollte und die Augen aufgemacht habe … Ein RIESEN Fehler! Weil das ProBLEM war, dass mein Körper davon nichts mitkriegen konnte, WIE auch, weil er ja dachte, dass ich noch schlafe. Also war ich in dieser SCHLAFlähmung. Und das ist wirklich WIE eine Lähmung. Ich konnte nichts mehr bewegen, oder fast nichts. Ich hab dann versucht, mich aus dem Bett zu rollen. Das hat eine GANZE HALBE STUNDE gedauert, bis ich ENDLICH aus dem Bett gefallen bin. Und dann habe ich verSUUCHT, IRGENDWIE ins Badezimmer zu kommen. Das ging sicher auch wieder eine KRASSE STUNDE, bis ich im Badezimmer war. Ich konnte dann GOTT SEI DANK mich hochziehen zum Waschbecken und den Wasserhahn anmachen. Ich hab dann mein Kopf nass gemacht und bin IMMER noch nicht aufgewacht! Und dann ist zu meinem Glück etwas vom Becken runtergefallen. Und durch den KNALL … auf den BODEN, bin ich, also mein Körper aufgewacht. Also denkt dran, NIE NIE die Augen aufmachen, wenn ihr aufwachen wollt. Besser einfach warten, bis ihr von alleine aufwacht.“
Zehnder wechselte nun vom Vlogger Orkhan zum Vlogger Zehnder.
„Entschuldige Orkhan, lieber Freund. War nicht böse gemeint. Und ihr, liebe Oneironauten, schaut euch das nächste Video an. Da verrate ich euch, wie man mit ein paar Tricks einen lahmen Klartraum wieder in Schwung bringt. In einer Woche wieder, hier auf Lucidity.ch, euer Jan.“
„Okay, okay.“, Salome Knauss war zufrieden, „du hast aber vergessen, auf einen Fanblock einzugehen. Egal. Das können wir nächsten Freitag noch machen. Dann können wir den Vlog am Sonntag, also den 28. Juni, pünktlich um zwölf Uhr aufs Netz stellen.“
Nach der Sendung ging Zehnder mit Treiber noch etwas trinken. Es artete in einem bösen Besäufnis aus. Kevin beschimpfte ihn als Kollegenschwein, während er ihn daran erinnerte, dass er immer noch reichlich absahnte, ohne gross dafür etwas tun zu müssen. Aber Treiber sah nur die verlorene Schauspielkarriere und ein falsches Regiekonzept.
Als sie sich auf der Strasse trennten, rief er Zehnder noch hinterher:
„Du kannst froh sein, dass ich kein Russe bin! Dann würde ich dich jetzt nämlich abknallen. Eigentlich sollte ich dich abknallen! Abknallen sollte ich dich, du Schwein!“
Treiber war so betrunken, dass er plötzlich auf die Strasse ausscherte und beinahe von einem schwarzen BMW Van 220i überfahren wurde.