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Berlin, sechs Tage vor der Wahrheit
Zehnder war nach dem ersten Teil seiner Geschichte plötzlich weggenickt. Dr. Becker tippte mit dem Zeigefinger an die Infusionsflasche. Er kontrollierte den Blutdruck, die Körpertemperatur und den Puls auf dem Monitor. Alles bestens, der Patient war stabilisiert. Die Blutungen an den Handgelenken hatte er mit Druckverbänden gestoppt. Ein ziemlich dilettantischer Selbstmordversuch, eine Pulsader hatte er gar nicht getroffen, die andere nur leicht verletzt.
Der Fahrer fuhr ruhig, es gab keinen Grund zur Eile. Inzwischen hatte es wieder angefangen zu schneien und die Sicht war schlecht in dem spärlich beleuchteten Wohnquartier.
Becker dachte über Zehnders Erzählung nach, kaum waren sie abgefahren, fing er an auf ihn einzureden:
„Hören Sie, Dr. Becker, wir haben nicht viel Zeit. Ich weiss, Sie kennen mich nicht und Sie glauben, ich sei psychisch krank und erzähle wirres Zeug. Aber dem ist nicht so. Bitte, hören Sie sich meine Geschichte an, Sie werden sehr schnell merken, dass es sich dabei nicht um die Wahnvorstellungen eines Verrückten handeln kann. Nehmen Sie meine Geschichte mit Ihrem Mobiltelefon auf und schicken Sie die Aufnahme dann so schnell wie möglich der Kripo in Dresden. Ich habe endlich verstanden, was damals in Dresden wirklich passiert ist. Schreiben Sie sich die Namen Krischker und Podehlt auf, das sind die Polizeibeamten, die für den Mord vom 18. Januar zuständig sind. Bitte tun Sie das für mich, ich weiss jetzt ganz sicher, was damals wirklich passiert ist. Bitte, ich flehe Sie an! Bevor ich wieder in die Psychiatrie gebracht werde, wo sich niemand meine Geschichte anhören würde, die halten mich ja alle für einen schwer schizophrenen Patienten.“
Zehnder wurde für eine Sekunde schwarz vor Augen. Aber die Aufregung hatte sich gelohnt, als er Dr. Becker anschaute, sah er an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich zumindest nicht sicher war, ob er ihm glauben sollte.
„Was Sie da über das Klarträumen erzählt haben, das ist schon sehr interessant. Ich kann mich vage an eine Vorlesung erinnern, in der das Thema mal gestreift wurde. Ich werde mir Ihre Geschichte anhören, aber jetzt ruhen Sie sich erstmal ein wenig aus.“
Dr. Becker starrte durch die Windschutzscheibe in das Schneegestöber im Scheinwerferlicht und versuchte, sich an das Gesicht von Leila Sharon zu erinnern, deren Vorlesungen zur Psychiatrie er während seines Medizinstudiums ab und zu besucht hatte, da das Auditorium immer voll mit hübschen Studentinnen war.
„Sharon lehrte in der Tradition von Sigmund Freud. Gemäss Freud waren Träume Wunscherfüllungen unterdrückter Triebe.“, erinnerte er sich, „Das ergibt einfach keinen Sinn. Tiere träumen auch. Katzen und Hunde zucken mit den Pfoten und müssen sich erst wieder in der Wirklichkeit zurechtfinden, wenn sie ein Geräusch aus dem Schlaf schreckt. Aber wann und mit welchem Zweck tauchte in der Evolution das Träumen bei Säugetieren auf und welchen Vorteil verschafften die Träume den träumenden Tieren im Überlebenskampf?“, frage er sich, „Denn irgendeinen lebenswichtigen Zweck mussten Träume haben, sonst gäbe es sie nicht.“
Dr. Becker musste sich eingestehen, dass er darüber noch nie nachgedacht hatte. Einen Drittel seiner Lebenszeit verbrachte sein Geist in einer Parallelwelt, von deren Funktionsweise er im Grunde genommen keine Ahnung hatte.
Dr. Becker fühlte sich sehr müde und lehnte sich auf seinem Rücksitz zurück.
Seine Gedanken verloren sich in den Schneeflocken, die wie ein grosser Schwarm kleiner Fische auf ihn zuströmten. Dann dachte er an seine Ex-Freundin Natascha, an den Urlaub in Santa Fe, wo sie sich bei einer Tauchexpedition kennengelernt haben. Sie sassen nachts am Strand und schauten in die Sterne. Plötzlich stand sie auf und nahm ihn bei der Hand. Sie rannten durch die Brandung den Strand herunter zu einer kleinen Bucht, wo ein Leuchtturm mit seinen Scheinwerfen über das Wellenmeer strich. Sie rannten immer weiter und weiter. Natascha blieb plötzlich stehen und zeigte auf einen Stern, dem sie folgen wollte. Dann rannte sie immer tiefer in die Brandung hinein, bis sie zwischen den Wellen verschwand.
„Hören Sie. Ich mache Ihnen ein Angebot“, sagte Zehnder, der offenbar wieder aufgewacht war, „wollen Sie denn nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht?“
„Von welcher Geschichte reden Sie?“
„Na, von welcher Geschichte wohl. Denken Sie nach.“
„Ihre Geschichte? Sie meinen die Geschichte von Lilli Astaire?“
„Nein, nein. Ihre Geschichte, ich meine Ihre Geschichte. Wollen Sie denn nicht wissen, wie sie weitergeht?“
„Meine Geschichte?“
„Die Geschichte mit Natascha. Sie haben sie mir ja gerade erzählt. Wollen Sie nicht wissen, wie sie weitergeht? Wollen Sie nicht wissen, wohin Natascha geschwommen ist, als sie unter der Brandung verschwunden ist?“
„Ja, natürlich. Denn danach ist sie nie mehr aufgetaucht.“
„Sie wollte zum Leuchtturm, nicht wahr?“
„Ja…“
„Und da war sie ja dann auch. Im Leuchtturm, und wir beide waren unten und haben Natascha rufen gehört:
Ich gehe jetzt durch das zweite Tor nach Solania 4.“
„Was wollen Sie mir damit sagen? Heisst das etwa, dass es sich bei der Magersüchtigen um Natascha handelt? Ich habe sie gar nicht wiedererkannt. Aber das würde ja heissen, dass Natascha lebt?“
„Schauen Sie Ihre Hand an.“
„Was soll ich? Ich soll meine Hand anschauen?“
„Ja, schauen Sie ihre Hand an und zählen Sie Ihre Finger.“
„Sie sind ja völlig verrückt. Aber gut. Fünf, es sind fünf Finger.“
„Sie haben vergessen den Daumen mitzuzählen. Zählen Sie nochmals.“
„Sie haben Recht, es sind sechs Finger, wie ist das möglich? Heisst das, dass ich jetzt gerade…“
„Du träumst. Mach die Augen auf, Kumpel, wir sind gleich da.“ Der Fahrer hatte die Hand nach hinten gestreckt und Dr. Becker auf die Schulter geklopft, „Du bist auf den letzten Kilometern eingepennt, Thomas.“
Dr. Becker spannte alle Muskeln an, um die Müdigkeit aus seinem Körper zu jagen. Jan Zehnder hingegen schlief fest und atmete langsam durch den Mund. Dr. Becker hätte ihm gerne erzählt, was er gerade geträumt hatte, aber er wollte ihn jetzt nicht wecken.
Kurz darauf erreichten sie die Notfallaufnahme im Krankenhaus der Charité, wo man Zehnder die Wunden an den Handgelenken zunähte. Da Geld für Zehnder keine Rolle spielte, sorgte Dr. Becker dafür, dass er für weitere Abklärungen in ein Einzelzimmer der Charité verlegt wurde, wo er rund um die Uhr überwacht und betreut wurde.