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Anthropologische Konstanten
ОглавлениеÄhnlich wie die bereits genannten SukoppSukopp, Thomas und PaulPaul, Gregor hebt auch HolensteinHolenstein, Elmar die Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Kulturen hervor. Dabei bedient er sich häufig neuerer Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft. Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen den natürlichen Sprachen, lassen sich doch zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten finden, die für alle Sprachen gelten. Holenstein nennt folgendes Beispiel: Wenn eine Sprache »einen Dual hat«, dann »auch einen Plural […], und wenn sie einen Plural hat, dann auch einen Singular«.1 Nicht jede Sprache hat einen Dual, und demzufolge muss auch nicht jede Sprache einen Plural haben; hat sie aber einen Dual, dann immer auch einen Plural und einen Singular. Auch sonst sucht Holenstein nach Gesetzmäßigkeiten, um den universalen Charakter zahlreicher Bereiche von Kulturen zu demonstrieren. So vermutet er, dass bestimmte Gesten in verschiedenen Kulturen zwar unterschiedliche Bedeutungen besitzen können, dass die Bedeutungszuordnung aber einer Gesetzmäßigkeit folgt. Beispielsweise scheint die Ja- und Nein-Gestik grundsätzlich aus einander entgegengesetzten Bewegungsmustern zu bestehen: Wird für das Ja eine vertikale Bewegung verwendet, wie bei unserem Kopfnicken, dann für das Nein eine horizontale; im Bulgarischen ist die Verwendung umgekehrt, während im Griechischen eine Bewegung des Kopfes nach unten Bejahung und eine Bewegung des Kopfes nach oben Verneinung signalisiert.2 Zudem verweist Holenstein auf die These Darwins, wonach die Verwendung der Kopfbewegung zumindest im Falle der Nein-Gestik auf das Abwenden des Säuglings von der Mutterbrust zurückzuführen ist. Das macht deutlich, dass auch Holenstein den universalen Charakter menschlichen Verhaltens dann für besonders gesichert erachtet, wenn sich ein Verhalten auf biologische Ursachen zurückführen lässt. So auch im Falle der Moral, für den sich Holenstein auf Meng ZiMeng Zi (Menzius, ca. 370–290 v. Chr.), einen Schüler von Konfuzius, beruft. Meng Zi hat angenommen, der Mensch sei natürlicher Weise moralisch veranlagt.3 Freilich hat Meng Zi seine Ansicht nicht biologisch untermauert. Das aber wird von der evolutionären Anthropologie heute nachgeholt, besonders prominent etwa bei De WaalDe Waal, Frans und TomaselloTomasello, Michael.4
Eine Betonung anthropologischer Konstanten findet sich bei zahlreichen Autoren. WireduWiredu, Kwasi etwa spricht von der »biological foundation of universal norms«, also der biologischen Begründung von Normen.5 Auch MallMall, Ram A. stützt seine These von der »Überlappung der Kulturen« u.a. durch den Verweis auf anthropologische Gemeinsamkeiten und vergleicht die kulturellen Überlappungen mit der Genetik des Menschen. Auch auf genetischer Ebene finden wir erhebliche Variation zwischen den Menschen bei grundsätzlich sehr weitgehender Übereinstimmung.6
Ein Universalismus, der sich mit Blick auf die interkulturelle Situation auf anthropologische Konstanten beruft, wirft nun allerdings mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was ist durch den Verweis auf die biologische Ähnlichkeit der Menschen eigentlich gezeigt? Offenbar nur dies, dass die Menschen verschiedener Kulturen trotz manch kultureller Differenz biologisch vergleichbar sind. In Bezug auf anthropologische Konstanten macht denn auch die Feststellung HolensteinsHolenstein, Elmar Sinn, dass einzelne Merkmale innerhalb einer Kultur zumeist mindestens ebenso stark variieren wie zwischen verschiedenen Kulturen.7 Die interkulturelle Situation ist nun aber nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen unterschiedlicher Kulturen verschiedene biologische Merkmale für sich reklamieren würden. Es gibt heute auch keine ernstzunehmende Theorie mehr, die das behauptete. Eine solche wäre rassistisch; und tatsächlich gab es vor allem im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rassentheorien, die versuchten, die Menschen nach biologischen Merkmalen in mehrere Untergruppen zu gliedern. Carl von LinnéLinné, Carl v. (1707–1778), der uns heute als Begründer der biologischen Systematik bekannt ist, unterteilte die Menschen in vier Gruppen, denen er neben den für sie spezifischen Hautfarben auch besondere Temperamente zuordnete. Eine ähnliche Einteilung findet sich auch bei KantKant, Immanuel (1724–1804); bei ihm kommt außerdem die Zuschreibung unterschiedlichen Talents hinzu.8 Die politischen Irrwege, die wenigstens zum Teil durch Rassentheorien begründet worden sind, sind hinlänglich bekannt. Sie reichen von der Rechtfertigung des Kolonialismus und der Sklaverei, über die Rassentrennung, wie sie etwa in den USA bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein üblich war, bis hin zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Die interkulturelle Situation ist nun aber gerade nicht durch vermeintliche Differenzen auf der biologischen Ebene gekennzeichnet. Solche Differenzen gibt es, sie bestehen aber, wie uns die Genetik lehrt, weniger zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen als eher innerhalb einzelner Gruppen. Die interkulturelle Situation zielt dagegen auf kulturelle Differenzen, nicht auf biologische. In gewisser Weise ist die biologische Vergleichbarkeit der Menschen untereinander sogar eine Voraussetzung für die Feststellung kultureller Differenzen. Denn dass sich biologisch verschiedene Wesen möglicherweise auch auf der kulturellen Ebene unterscheiden, ist von vergleichsweise geringem Interesse. Viel spannender wäre es da schon, kulturelle Gemeinsamkeiten bei biologisch deutlich voneinander zu unterscheidenden Lebewesen zu finden (z.B. bei verschiedenen Spezies oder gar Gattungen). In diese Richtung gehen denn ja auch die artvergleichenden Forschungen in der Entwicklungspsychologie und der bereits erwähnten evolutionären Anthropologie.9 Die interkulturelle Situation konfrontiert uns nun aber mit kulturellen Differenzen, und die lassen sich nicht über biologische Gemeinsamkeiten vermitteln. Um ein Beispiel zu nennen: Das Besondere des Menschen ist nicht, dass er isst, sondern wie er isst. Darin, dass sich die Nahrungsaufnahme beim Menschen vom Fressen über das Essen bis hin zum Speisen entwickelt hat, unterscheidet sich die Nahrungsaufnahme des Menschen von der anderer Tiere. Die Überhöhung des Fressens zum Essen und Speisen ist ein kultureller Akt, und zwar ein besonders wichtiger in der menschlichen Entwicklung. Die Menschen feiern die Nahrungsaufnahme geradezu; darin deutet sich an, dass sie die für sie so lebenswichtige Nahrung immer auch als ein Geschenk erfahren, etwas, auf das sie angewiesen sind, das sie aber nicht ohne Unterstützung der Natur zur Verfügung hätten. Das Essen ist deshalb schon früh in der Menschheitsgeschichte mit religiösen Aspekten verknüpft worden. Hinzu kommt die soziale Funktion des Essens. Wir teilen das Essen – und damit unsere eigene Lebensgrundlage – mit anderen, darin liegt das tiefe Bekenntnis der Angewiesenheit aufeinander. Bis heute ist das gemeinsame Essen die vermutlich wichtigste soziale Institution in allen Kulturen. Fremde werden willkommen geheißen, indem sie zum Essen eingeladen werden. Usw. Die Kultur macht hier also den Unterschied zu anderen Tieren aus, nicht die Biologie. Aber nun ist auch Essen und Essen nicht dasselbe. Es kommt sehr darauf an, was gegessen wird; manche Nahrungsmittel gelten in einigen Kulturen als heilig, in anderen nicht. Das bekannteste Beispiel dafür ist die ›heilige Kuh‹ in Indien. Aber es gibt auch in anderen Kulturen zahlreiche Nahrungstabus. Manche davon sind religiös begründet, so etwa das Schweinefleischverbot im Judentum und Islam, andere nicht, wie etwa die Ächtung des Hundeverzehrs in Europa und den Vereinigten Staaten. In einigen kleineren Kulturen gibt es sogar Nahrungstabus für Pflanzen. So dürfen beispielsweise die erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes der Hua auf Papua-Neuguinea keine roten Gemüsearten und Früchte essen, weil diese mit der weiblichen Menstruation in Verbindung gebracht werden.10 Weiterhin gibt es Vorschriften, wie und wo gegessen wird – auf dem Boden sitzend oder am Tisch (auf dem das Essen wie auf einem Opferaltar dargereicht wird), aus gemeinsamen Schalen und Töpfen oder von getrennten Tellern – und wie sich der Dank über die Mahlzeit ausdrückt. Christlich interpretiert haben wir beim Essen Teil am Leib Christi, wodurch uns immer wieder von neuem deutlich wird, dass wir Kinder Gottes sind. Das ist so nicht auf andere Religionen übertragbar. Es ist aber auch nicht einfach ein vernachlässigbares Detail, das hinter der allgemein-menschlichen Gemeinsamkeit der kulturell überhöhten Nahrungsaufnahme zurücktritt. Vielmehr hängt an der jeweiligen kulturellen Bedeutung des Essens das gesamte Selbst- und Weltverständnis der Menschen. Die verschiedenen Esskulturen als bloße Marotten abzutun, hieße das Wesen des Menschen zu verkennen. Der Mensch ist wesenhaft frei in dem ganz grundlegenden Sinne, dass er sich seine eigenen biologischen Voraussetzungen immer erst noch kulturell aneignet, ihnen nicht einfach ausgeliefert ist, sondern sie auf eine neue Stufe hin übersteigt. So hat der Mensch z.B. nicht einfach einen Körper, sondern muss ihn sich im Laufe seines Lebens aneignen, ihn zu seinem eigenen Körper machen. Dieser Aneignungsprozess ermöglicht es dem Menschen, dem Körper einen eigenen Sinn zu geben, etwa im Tanz, in dem vermutlich überhaupt erst so etwas wie eine Identität von Körper und Person erfahren wird. Der Mensch greift weit über sein biologisches Sein hinaus und verleiht diesem dadurch erst seinen Sinn. Ganz so, wie die kulturelle Welt des Menschen eine bedeutungsvolle ist, so eignet sich der Mensch auch sein biologisches Sein als ein sinnvolles an. Dabei erhebt sich nicht nur der menschliche Geist über die Natur, auch die Natur selbst wird durch den Menschen erhöht. Dann aber können kulturelle Entdeckungen nicht mehr durch anthropologische Konstanten relativiert werden.
Ein Universalismus, der sich auf anthropologische Konstanten beruft, bewegt sich in einer Dimension, die den Menschen als biologisches Wesen begreift und gegebenenfalls durch geeignete biologische Merkmale von anderen Tieren abgrenzt. Er ist gegenüber jeder Form von Rassismus und anderer biologischer Ausgrenzung im Recht. Die Menschen bilden eine gemeinsame Spezies und sind so gesehen alle gleich. Auch gelten selbstverständlich die Naturgesetze überall. Allerdings verkennt diese Form des Universalismus das kulturelle Wesen des Menschen, das darin liegt, seiner eigenen Biologie nicht einfach ausgeliefert zu sein, sondern sich diese – ebenso wie die gesamte Natur – im Laufe des Lebens erst anzueignen und darin zu überformen.