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Habermas’ Diskurstheorie
ОглавлениеGanz in diesem Sinne spricht HabermasHabermas, Jürgen in dem bereits erwähnten gleichnamigen Aufsatz von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen«. Die Vernunft, das haben schon HerderHerder, Johann G. (1744–1803) und Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm v. (1767–1835), beide Zeitgenossen KantsKant, Immanuel, gezeigt, findet in der Sprache ihren Ausdruck. Sie ist sozusagen nicht frei zugänglich, sondern sprachlich vermittelt. Umgekehrt bedeutet das, dass die Sprache das Denken beeinflusst, eine Einsicht, die im 20. Jahrhundert zum so genannten »linguistic turn« und zur Sprachkritik geführt hat. Habermas schließt an diese Einsicht an, hält zugleich aber an der Einheit der Vernunft fest: »Denn Konzepte wie Wahrheit, Rationalität oder Rechtfertigung spielen in jeder Sprachgemeinschaft, auch wenn sie verschieden interpretiert und nach verschiedenen Kriterien angewendet werden, dieselbe grammatische Rolle.«1 Die Vernunft drückt sich in den verschiedenen Sprachen durchaus verschieden aus; auch fehlt der eine verbindliche Maßstab, nach dem zu entscheiden wäre, welchem Ausdruck die Menschen folgen sollten. Vielmehr muss um die Vernunft gerungen werden. Das immerhin bleibt möglich, schließlich sind die verschiedenen Sprachen allesamt Ausdrucksweisen der Vernunft. Habermas verortet die Vernunft freilich anders als Kant nicht mehr im einzelnen Subjekt (die Vorstellung von der Vernunft des Einzelnen ist durch die Erfahrungen der Nazi-Herrschaft nachhaltig erschüttert), sondern im Diskurs. Vernunft realisiert sich intersubjektiv. Die Begründung diskursiver Vernunft ist (im Anschluss an den Begründer der Diskurstheorie Karl-Otto ApelApel, Karl-Otto) letztlich eine pragmatische: Die Möglichkeit rationalen Argumentierens muss nämlich immer schon unterstellt werden, sonst würde es gar keinen Sinn machen, irgendwelche Geltungsansprüche zu erheben. Wenn wir etwas als wahr behaupten, dann erheben wir damit einen Geltungsanspruch, nämlich konkret den Anspruch, dass es sich so verhält, wie wir sagen.2 Habermas zufolge muss sich dieser Geltungsanspruch im Diskurs nun argumentativ bewähren. Er schlägt darum ein Konsensmodell der Wahrheit vor. Nur wenn prinzipiell alle, die am Diskurs teilnehmen könnten, diesem Geltungsanspruch auch zustimmen würden, ist die Behauptung tatsächlich wahr. Die Wahrheit von Aussagen – und damit sozusagen die Universalisierbarkeit eines vernünftigen Ausdrucks – hängen am Konsens aller. Habermas spricht deshalb von der »kommunikativen Vernunft«.3
Der Diskurs unterliegt dabei einigen Bedingungen. Zum einen ist vorausgesetzt, dass die Diskursteilnehmer mit dem, was sie sagen, bestimmte Geltungsansprüche verbinden, das sind zum einen die Verständlichkeit des Gesagten und zum anderen, abhängig davon, ob sich der Diskurs auf die objektive, die soziale oder die subjektive Realität bezieht, der Anspruch auf objektive Wahrheit bzw. normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit. Zudem setzt HabermasHabermas, Jürgen eine »ideale Sprechsituation« voraus, die durch gleiche Chancen zur Beteiligung am Diskurs, die Möglichkeit, alle Geltungsansprüche gleichermaßen kritisch zu prüfen, Herrschaftsfreiheit und Aufrichtigkeit der Sprecher gekennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen ermöglicht der Diskurs Verständigung und Einigung unter dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«.4 Tatsächlich wird es eine solch ideale Sprechsituation in der Realität nicht geben, das behauptet auch Habermas nicht, aber der Diskurs muss sich doch wenigstens an ihr orientieren.
Das habermasHabermas, Jürgen’sche Diskursmodell demokratisiert gleichsam den Gebrauch der Vernunft. Jeder Geltungsanspruch muss rational begründet werden und kann nur dann als eingelöst gelten, wenn alle ihm zustimmen. Das bedeutet keinesfalls, dass Habermas Geltungsansprüche für verhandelbar hält und der Etablierung von Mehrheitsmeinungen das Wort redet. Im Gegenteil, ein Geltungsanspruch ist so lange nicht universalisierbar, so lange er nicht von allen rational nachvollzogen werden kann. Habermas spricht Mehrheiten in einer Gesellschaft explizit das Recht ab, ihre eigene kulturelle Lebensform zur Leitkultur zu erheben.5 Die Forderung, alle gleichberechtigt in den Diskurs mit einzubeziehen, weitet er mit der Zeit über die eigene Sprachgemeinschaft hinaus auf grundsätzlich alle Menschen aus. Die Rationalitätsstandards des Diskurses sind nicht an die jeweilige Sprache und Kultur gebunden. Gmainer-PranzlGmainer-Pranzl, Franz hat deutlich gemacht, dass Habermas damit einen wesentlichen Beitrag zur Problemstellung interkultureller Philosophie zu leisten vermag.6 Allerdings droht die Voraussetzung allgemeiner Rationalitätsstandards des Diskurses, so Gmainer-Pranzl, das für interkulturelle Fragestellungen so wichtige Phänomen des Fremden zu verkennen. Fremd ist etwas nicht deswegen, weil es vorläufig unbekannt und unverstanden bleibt, sondern weil es sich grundsätzlich dem verstehenden Zugriff entzieht und gerade als derart entzogen erfahren wird.7 Gmainer-Pranzl sieht nun in Habermas Beschäftigung mit der Religion eine Möglichkeit, auch das Phänomen des Fremden in der Diskurstheorie unterzubringen. Säkulare Rationalität und Religion anerkennen sich wechselseitig, jedenfalls solange wie die säkulare Rationalität keine befriedigenden Antworten auf die entscheidenden religiösen Fragen zu geben vermag. Solche Anerkennung geschieht aus Einsicht in die Berechtigung der religiösen Fragestellungen bei gleichzeitiger Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit, befriedigende Antworten zu geben. Sie zielt also gerade nicht darauf ab, die Differenz zwischen säkularer Rationalität und Religion aufzulösen.
Die habermasHabermas, Jürgen’sche Diskurstheorie scheint überall dort im Recht zu sein, wo tatsächlich allgemeine Rationalitätsstandards des Diskurses vorausgesetzt werden können. Selbst dann, wenn der eigene epistemische Status der Religion anerkannt wird, muss dies aus rationaler Einsicht geschehen. Damit hängt die Diskurstheorie wie KantsKant, Immanuel Philosophie auch an der Voraussetzung der Einheit der Vernunft. Die aber muss sich dann auch konkret feststellen lassen, sie muss sich gleichsam empirisch bewahrheiten. Habermas geht genau in diese Richtung, indem er Vernunft intersubjektiv begründet. Freilich stellt sich dann nicht nur die Frage, weshalb sich die Menschen de facto so schlecht über Geltungsansprüche verständigen können, sondern auch das ganz grundsätzliche Problem, wie man jemandem begegnen soll, der entweder die Rationalitätsstandards des Diskurses nicht anerkennt oder aber gleich ganz verweigert, überhaupt am Diskurs teilzunehmen. Diskurstheoretisch lässt sich mit solchen Personen nichts anfangen, sie stellen sich gleichsam selbst ins Abseits. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« seine Zwanglosigkeit einbüßt. Wer sich nicht auf vernünftige Weise am Diskurs beteiligt, der scheidet als gleichberechtigter Gesprächspartner aus. Das gilt auch für die Religionen. Den Religionen kann nur dann ein eigener epistemischer Status zuerkannt werden, wenn sie ihrerseits die Berechtigung eines säkularen Rationalismus aus rationalen Gründen anerkennen. Die Religionen müssen also selbst vernünftig sein, und das im Sinne des diskurstheoretischen Vernunftbegriffs.
Damit verkennt die Diskurstheorie aber die interkulturelle Situation, in der das gewachsene Vernunftdenken der europäisch-westlichen Tradition ja gerade herausgefordert wird. Natürlich wird keiner einzelnen Kultur Vernunft abgesprochen, das Spannende an der interkulturellen Situation aber ist gerade, dass die Vernunft nicht in ihrer kulturübergreifenden Einheit vorausgesetzt wird, sondern umgekehrt die verschiedenen Vernunfttraditionen angesichts der interkulturellen Situation auf ihre jeweilige Geschichtlichkeit aufmerksam werden. Ob es so etwas wie eine Einheit der Vernunft überhaupt gibt oder je geben kann, das steht in der interkulturellen Situation in Frage und darf nicht schon vorausgesetzt werden. Wir werden weiter unten sehen (vg. Kap. 2.2 und 2.3), dass die Einheit der Vernunft im 20. Jahrhundert schon in der europäischen Tradition in Frage gestellt wird. Vernunft kann nie einfach vorausgesetzt werden, sondern steht selber in jedem Moment mit auf dem Spiel.
Der Universalismus bleibt in bestimmten Dimensionen im Recht. So etwa, wie oben bereits angemerkt, wenn wir den Menschen als biologisches Wesen betrachten. Auch ist es unstrittig, dass logische Gesetze ihre Gültigkeit nicht dadurch verlieren, dass sie in kulturellen Kontexten ausgesprochen und angewandt werden, denen sie möglicherweise nicht selbst entstammen. Der Geltungsbereich von Logik ist so wenig wie der der Naturgesetze lokal oder historisch begrenzt; er ist aber wie die Naturgesetze auch auf eine bestimmte Dimension begrenzt. Die Naturgesetzte gelten in der natürlichen Dimension (für kulturelle Phänomene gelten sie immer nur insoweit, wie diese Phänomene ihrerseits auf die natürliche Dimension reduziert werden – so kann z.B. das kulturelle Phänomen des Essens und Speisens selbstverständlich auch in der natürlichen Dimension betrachtet werden), die logischen Gesetze in einer Dimension logischen Argumentierens und Handelns (die meisten Phänomene lassen sich unter logischen Gesichtspunkten betrachten, das bedeutet aber nicht, dass sie dadurch im Ganzen erfasst wären – so z.B. die Religionen).
Was universalistische Ansätze zumeist verkennen, ist freilich ihre eigene Herkunft. Gmainer-PranzlGmainer-Pranzl, Franz etwa schreibt, »Universalität stell[e] den entscheidenden Anspruch und zugleich die permanente Krise interkultureller Philosophie dar«.8 Das stimmt, aber es stimmt nur in einer ausgezeichneten Dimension, nämlich für das europäische Vernunft- und Philosophieverständnis, das sich durch die interkulturelle Situation herausgefordert sieht. Aus der Sicht anderer Traditionen stellen sich die Herausforderungen der interkulturellen Situation ganz anders dar. Das heißt nicht, dass an die Stelle des Universalitätsstrebens in anderen Traditionen die Befürwortung eines Relativismus tritt. Relativismus setzt Universalität immer schon voraus und erscheint deshalb nur vor dem Hintergrund universalistischen Denkens als eine (freilich abzulehnende) Alternative. Das universalistische Denken aber steht für die ursprünglich griechische Entdeckung der Vernunft (Logos) »als die Form, in der der Geist dem individuellen Menschen einwohnt«.9 Während der Geist als Einheit stiftendes Prinzip JaspersJaspers, Karl zufolge um die Achsenzeit (800–200 v. Chr.) an verschiedenen Orten weitgehend unabhängig voneinander entdeckt worden ist, zeichnet sich die griechische Entdeckung durch die Teilhabe des Einzelnen an dieser Einheit aus (»die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen«, s.o.). HeldHeld, Klaus hat beschrieben, wie sich auf der Grundlage der Entdeckung dieses Zusammenspiels von Einheit und Vielheit bei den Griechen die wesentlichen Grundpfeiler der europäischen Kultur ausgebildet haben, nämlich zum einen die Wissenschaft und zum anderen die Demokratie.10 Beide sind, das gehört zu dieser Entdeckung und zum europäisch-westlichen Denken dazu, nicht auf Europa beschränkt geblieben. Nun ist ein ähnlicher Gedanke beispielsweise in der ostasiatischen Tradition zwar keinesfalls unmöglich oder auch nur ungedacht, wohl aber nicht von derselben entscheidenden Wichtigkeit. Im ostasiatischen Denken kann die individuelle Teilhabe an der Einheit schon deswegen keine bestimmende Rolle spielen, weil das Individuum auf die Ebene des Selbst und noch weiter auf die Ebene des selbstlosen Selbst rückbezogen wird, von der aus gesehen die Unterscheidung bzw. das Zusammenspiel von Einheit und Vielheit als abgeleitete und nachrangige Feststellungen erscheinen. Universalität ist nur in europäischer Perspektive das Grundproblem interkultureller Philosophie.