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Wege

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Philosophie ist ein Weg, und zwar ein Weg des Menschen, Mensch zu sein. Griechisch verstanden ist sie gar der einzige Weg, auf dem der Mensch wahrhaft Mensch ist. Das macht interkulturelle Philosophie zu einem Desiderat. Es geht ihr darum zu zeigen, dass es verschiedene Wege gibt, wie der Mensch wahrhaft Mensch sein kann. Interkulturelle Philosophie ist deshalb zunächst einmal stärker an Differenzen als an Überlappungen und Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen interessiert. Zugleich geht es ihr aber wie der griechischen Philosophie um Wege des Menschseins, also um die Klärung des Menschlichen und, in kritischer Hinsicht, um die Einforderung von Menschlichkeit.

Menschlichkeit, so die These, gibt es nur dort, wo das Menschsein als Weg verstanden wird. Wird das Menschsein dagegen jenseits aller Wege als wesensmäßig geklärt angenommen, droht jede Menschlichkeit verloren zu gehen. Der Mensch ist dann nämlich dies oder das, aber er erfindet und gestaltet sich nicht mehr selbst und kann darum auch nicht für sich selbst verantwortlich sein. Es greift deshalb viel zu kurz, die Gleichheit und die Gleichberechtigung aller Menschen auf der Grundlage des natürlichen Wesens des Menschen einzufordern. Der Mensch beweist seine Menschlichkeit gerade darin, dass er sich sein natürliches Wesen auf bestimmte Weise aneignet, es interpretiert und damit umgeht. Das Gleiche gilt für die Welt, in der der Mensch lebt. Er nimmt sie nicht einfach hin, sondern geht mit ihr um, interpretiert und gestaltet sie und gewinnt dadurch auch sich selber immer wieder neu. Kurz, der Mensch ist ein kulturelles Wesen und er lebt in einer kulturellen Welt. Damit ist zugleich gesagt, dass es vielfältige menschliche Welten gibt, die sich zudem fortlaufend verändern, wechselseitig beeinflussen, ineinander verschränken oder auch differenzieren. Diese Vielfalt zu leugnen, wäre »intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt«, wie Lévi-StraussLévi-Strauss, Claude – freilich in einer ethnologischen Perspektive – sagt.1 Wenn sich die Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt begegnen, geht es deshalb zunächst keineswegs um Vereinheitlichung und Reduktion der Wege auf einen einzigen. Stattdessen geht es – oder sollte es gehen – um einen Wettstreit der Menschlichkeit. Wenn Menschen erfahren, dass eine andere Kultur menschlicher ist als ihre eigene, werden sie grundsätzlich versucht sein, diese zu übernehmen oder nachzuahmen. Zumindest aber werden sie versuchen, von ihr zu lernen. De facto mögen sowohl ein solcher Wettstreit als auch die Bereitschaft, voneinander zu lernen, durch machtpolitische Interessen vereitelt werden; das muss zu scharfer Kritik führen, darf aber nicht die Konsequenz haben, deswegen der globalen Durchsetzung einer einheitlichen kulturellen Gestaltung der menschlichen Welt das Wort zu reden.

Philosophisch lässt sich eine Begegnung der Kulturen in der interkulturellen Dimension, die jenseits aller machtpolitischen Gegebenheiten anzustreben bleibt, vermutlich am besten als ein Gespräch verstehen. Allerdings ein Gespräch, das nicht unverbindlich bleibt, sondern in das sich die Kulturen so einbringen, dass sie vom Gespräch her auch Korrekturen erfahren. Das Besondere des Gesprächs ist es ja gerade, das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, voranzubringen und zugleich die eigenen Positionen der Gesprächspartner schärfer zu profilieren. Das geht nur, weil das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, kein Drittes ist, das die Positionen der Gesprächspartner vermittelt oder subsumiert. Stattdessen taucht das Gemeinsame nur in den verschiedenen Positionen auf, aber so, dass es darin jeweils im Ganzen getroffen ist. Das bedeutet, dass die Gesprächspartner jeweils die vom anderen vertretene Position bzw. das vom anderen Gesagte auf ihre Weise mitsagen müssen. Sie müssen es aufnehmen und zugleich dadurch, dass sie es von ihrer Position her sagen, profilieren. So klären die Gesprächspartner im Hin und Her des Gesprächs das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, und treiben sich zugleich wechselseitig zu immer deutlicherer Profilierung ihrer eigenen Positionen an. Würden sie die Position des anderen einfach übernehmen, käme das Gespräch zum Erliegen; weder könnte das Gemeinsame geklärt noch die eigene Position profiliert werden.

Das Gemeinsame, um das es im Gespräch der Kulturen geht, ist wie angedeutet die Menschlichkeit. Jede Kultur ist irgendwie menschlich, schließlich ist sie vom Menschen gemacht. Im interkulturellen Gespräch aber reicht es nicht aus, ›irgendwie‹ menschlich zu sein. Die anderen Kulturen können auf eine Klärung der Menschlichkeit drängen und einfordern, dass die geklärte Form der Menschlichkeit auch kulturell realisiert wird. Das Gespräch hat also eine kritische Funktion. Und es bleibt umso lebendiger, je mehr verschiedene kulturelle Wege des Menschen es gibt.

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In Kapitel 1 wird zunächst erläutert, worin sich der Begriff der Interkulturalität von denjenigen der Multi- und Transkulturalität unterscheidet und weshalb ich ihn für wesentlich besser geeignet halte, die philosophische Herausforderung, vor die uns die interkulturelle Situation, in der wir heute leben, stellt, adäquat zu beschreiben. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Kultur zu: Kulturen, so die These dieses Buches, sind Erfahrungswirklichkeiten und sie unterscheiden sich deshalb auch nur durch die Erfahrungen, auf denen sie aufruhen und die die verschiedenen Verständnisse von Menschsein und menschlicher Wirklichkeit begründen. Es ist ein essentialistisches Missverständnis, Kulturen als voneinander getrennte Entitäten vorzustellen;2 besonders irritierend ist die Vorstellung, Kulturen würden an biologischen Parametern wie Ethnizität und Hautfarbe hängen, aber auch die Reduktion von Kulturen auf Nationalität ist schlicht falsch, und selbst der Verweis auf die unterschiedlichen Sitten und Werte greift viel zu kurz. Stattdessen sind die Kulturen immer schon ineinander verschränkt und überlappen sich, ja jede einzelne Kultur nimmt alle anderen auf ihre Weise in sich auf und spiegelt sie wider. Gerade das begründet ihren Weltcharakter.

Kapitel 2 stellt, wie bereits erwähnt, die verschiedenen Ansätze und Dimensionen interkultureller Philosophie vor. Einen philosophischen Austausch zwischen den Kulturen gibt es auf mehreren Ebenen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird dieser Austausch freilich nur in der interkulturellen Dimension, in der nach den Erfahrungen gefragt wird, die den Weltcharakter anderer Kulturen begründen.

In Kapitel 3 wird die These vertreten, dass Interkulturalität erst in der Gegenwart zu einer zentralen Fragestellung der Philosophie werden konnte. Das griechische Verständnis von Philosophie ist durch die Erfahrung von der Zusammengehörigkeit des Seienden in der Welt geprägt. Diese Erfahrung wird in der Neuzeit auf andere Weise wiederholt und erneuert. In der nach-kantischen Philosophie gewinnt das Phänomen der Erfahrung zunehmend an Bedeutung und wird in der Phänomenologie schließlich zum Ausgangspunkt der Analyse von Mensch und Welt. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und der Möglichkeit, seine spezifischen Erfahrungen nachzuvollziehen, auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Analyse von Alterität und Fremderfahrung sensibilisiert die Philosophie auch für die Wahrnehmung anderer kultureller Erfahrungstraditionen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird die Interkulturalität aber erst durch die Entdeckung des Weltcharakters, der den kulturellen Grunderfahrungen zukommt.

Im 4. Kapitel werden wichtige Aspekte interkultureller Philosophie behandelt. Interkulturalität kann nur dann als ein zentrales und den Menschen zutiefst betreffendes Phänomen erkannt werden, wenn die These vom kulturellen Wesen des Menschen geteilt wird. Nur dann kann auch gesehen werden, dass sich der Mensch der Teilhabe am Geschehen der Welt verdankt und deshalb wesentlich aus dem Zwischen zu verstehen ist, in dem Mensch und Welt zusammengehören. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Dimensionalität aller Wirklichkeit, womit gemeint ist, dass sich die Wirklichkeit nicht in Bereiche – beispielsweise in verschiedene Kulturen – gliedert, die zusammen ein Ganzes ergeben, sondern dass sie sich stattdessen in Dimensionen differenziert, in denen sie jeweils im Ganzen getroffen ist. Die weiteren Aspekte betreffen die Überlegung, dass jede Philosophie auf bestimmten Erfahrungen aufruht und sich der Wandel dieser grundlegenden Erfahrungen als eine Grundphilosophie beschreiben lässt; ferner das Phänomen der Welt, das interkulturell im Plural gedacht werden muss; und die Kritikfähigkeit der Kulturen in der interkulturellen Begegnung. Schließlich wird die Menschlichkeit als das eigentliche Thema interkultureller Begegnung herausgestellt.

In Kapitel 5 werden sodann drei ausgesuchte Beispiele interkultureller philosophischer Begegnung vorgestellt. Den Anfang macht ein Text zum Wesen der Begegnung aus der modernen japanischen Philosophie der Kyoto-Schule. Es folgt eine knappe Erläuterung wichtiger Denker des islamischen Mittelalters, deren Auseinandersetzungen mit der griechisch-europäischen Tradition für beide Kulturregionen von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Das dritte Beispiel betrifft die Herausbildung moderner Philosophien im sub-saharischen Afrika, die wichtige Erfahrungen aus vorkolonialer Zeit in die Beschäftigung mit der europäisch-westlichen Philosophie einbringen und so mittlerweile eine genuin afrikanische Stimme in der Philosophie etabliert haben.

Abschließend ein Wort des Dankes an den Verlag. Ich danke Herrn Daniel Seger und Frau Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag in Tübingen für die gute Betreuung und für die Geduld, mit der sie die Entstehung dieses Buches begleitet haben.

Interkulturelle Philosophie

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